Henry Murger
Die Bohème
Henry Murger

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IX. Das Kap der Stürme

Der erste Monat in jedem Vierteljahr enthält zwei schreckliche Tage, den Ersten und den Fünfzehnten. Rudolf, der diesen Daten nie ohne Grauen entgegensah, nannte sie das Kap der Stürme. An diesen Tagen ist es nicht die Morgenröte, die die erwachenden Menschen begrüßt, sondern es sind die Gläubiger, die Hauswirte, die Gerichtsvollzieher, die an die Türen klopfen. Dieser Tag beginnt mit einem Regen von Rechnungen, Quittungen, Wechseln, und er endet mit einem Hagel von Protesten – Dies irae!

Am Morgen eines solchen fünfzehnten Aprils schlief Rudolf ganz behaglich und träumte, einer seiner Onkel hätte ihm im Testament ein ganzes Königreich Peru mit allen Peruanerinnen vermacht. Während er so in einem wahren Goldstrom herumschwamm, weckte ihn gerade im herrlichsten Augenblick seines wundervollen Träumens das Geräusch eines im Türschloß herumgedrehten Schlüssels.

Rudolf richtete sich, noch halb vom Schlaf befangen, auf, und als er verwirrt um sich blickte, bemerkte er eine seltsame Gestalt in seinem Zimmer.

Der Fremde, der zu so früher Stunde hereingetreten war, trug auf dem Kopf einen dreispitzigen Hut, auf dem Rücken eine lederne Tasche und in der Hand eine Aktenmappe. Bekleidet war er mit einem grauen Uniformfrack, und er keuchte hörbar von der Anstrengung, die ihm das Ersteigen der fünf Treppen gemacht hatte. Sein Benehmen war liebenswürdig, und in seinem Schritt lag etwas Klingendes, als habe sich eine ganze Wechselstube in Bewegung gesetzt.

Rudolf war einen Augenblick erschrocken, als er den dreispitzigen Hut und den Frack sah, denn er glaubte es mit einem Stadtsergeanten zu tun zu haben.

Aber der Anblick der wohlgefüllten Ledertasche ließ ihn von seinem Irrtum zurückkommen.

»Ach ja, jetzt fällt es mir ein«, dachte er. »Es ist eine Anzahlung auf meine Erbschaft, dieser Mann kommt aus Westindien. Aber warum ist er denn nicht schwarz?« Und indem er nachlässig auf die Geldtasche wies, sagte er zu dem Mann: »Ich weiß schon, was es ist. Legen Sie sie dorthin! Danke.«

Der Mann war ein Bote der Bank von Frankreich. Er antwortete auf die Einladung Rudolfs, indem er ihm ein Schriftstück mit hieroglyphischen Zeichen und Ziffern vor die Augen hielt.

»Ah, Sie wollen eine Quittung?« sagte Rudolf. »Das ist recht. Reichen Sie mir die Feder und die Tinte. Sie stehen dort auf dem Tisch.«

»Nein, ich möchte Geld holen«, antwortete der Kassenbote. »Und zwar hundertfünfzig Franken. Wir haben heute den 15. April.«

»Ach so«, erwiderte Rudolf, indem er den Wechsel überflog. »Ordre Birmann. Das ist mein Schneider ... Leider«, fügte er mit einem melancholischen Blick auf einen über das Bett geworfenen Überzieher hinzu, »schwinden die Ursachen dahin, aber die Folgen bleiben! Wie? Ist heute wirklich schon der 15. April? Das ist doch merkwürdig! Und ich habe bis jetzt noch keine Erdbeeren gegessen.«

Der Kassenbote ärgerte sich über das umständliche Wesen Rudolfs. »Sie haben bis vier Uhr Zeit zum Bezahlen«, sagte er und ging hinaus.

»Ehrlichen Leuten setzt man keinen Termin«, antwortete Rudolf. »Wahrhaftig,« fügte er hinzu, indem er mit Bedauern dem Geldmenschen mit dem Dreispitz nachsah, »der gemeine Kerl nimmt seinen Geldsack mit.«

Rudolf schloß die Vorhänge seines Bettes und versuchte, wieder in den Erbschaftstraum zurückzusinken. Aber er fand nicht den richtigen Weg und geriet statt dessen vor den Direktor des Theatre Français, der ihn mit abgezogenem Hut bat, ihm ein Drama zu schreiben. Rudolf, der die Verhältnisse kannte, bat ihn um einen Vorschuß, und gerade, als der Direktor ihm das Geld übergeben wollte, wurde der Schläfer von neuem geweckt, und zwar diesmal durch den Eintritt einer neuen Kreatur des 15. April.

Es war Herr Benoît, der hartherzige Besitzer des möblierten Miethauses, in dem Rudolf wohnte. Herr Benoît war zugleich Hauswirt, Schuhmacher und Wucherer für seine Mieter, und an diesem Morgen verbreitete er einen abscheulichen Geruch von schlechtem Fusel und von verfallenen Rechnungen. In seiner Hand trug er eine leere Geldtasche.

»Zum Teufel!« dachte Rudolf. »Das ist sicher kein Theaterdirektor, sonst trüge er eine weiße Krawatte und seine Geldtasche wäre gefüllt.«

»Guten Tag, Herr Rudolf«, sagte Benoît, indem er sich dem Bett näherte.

»Herr Benoît ... guten Tag! Was verschafft mir die Ehre Ihres Besuchs?«

»Nun, es ist doch heute der 15. April!«

»Schon? Wie doch die Zeit vergeht! Das ist ganz merkwürdig. Ich muß mir einen Nankingpaletot kaufen. Der 15. April? Du lieber Himmel, ohne Sie, Herr Benoît, hätte ich gar nicht daran gedacht. Wieviel Dank schulde ich doch Ihnen dafür!«

»Sie schulden mir außerdem hundertzweiundsechzig Franken«, erwiderte Herr Benoît. »Und es ist Zeit, diese kleine Rechnung zu erledigen.« »Ich habe es durchaus nicht eilig ... Sie brauchen sich nicht soviel Mühe zu machen, Herr Benoît. Ich lasse Ihnen Zeit ... kleine Rechnungen werden große Zahlungen.«

»Aber Sie haben es schon ein paarmal hinausgeschoben«, fuhr der Hauseigentümer fort.

»Na, dann wollen wir alles regeln, Herr Benoît, mir ist das völlig gleichgültig. Ob heute oder morgen! Und schließlich sind wir alle sterbliche Menschen ... also regeln wir es!«

Ein liebenswürdiges Lächeln erhellte das faltige Gesicht des Hausherrn, und er glich ganz seinem leeren Geldbeutel, der vor Hoffnung anschwoll.

»Also, was schulde ich Ihnen?« fragte Rudolf.

»Zunächst drei Monate Miete zu fünfundzwanzig Franken, das macht fünfundsiebzig Franken.«

»Irrtum vorbehalten«, sagte Rudolf. »Weiter!«

»Dann drei Paar Stiefel, zwanzig Franken das Paar.«

»Einen Augenblick, Herr Benoît, werfen wir das nicht durcheinander. Jetzt habe ich es nicht mit dem Hausherrn zu tun, sondern mit dem Schuhmacher ... ich bitte um eine besondere Rechnung. Zahlen sind eine ernsthafte Sache, man darf sie nicht in Verwirrung bringen.«

»Meinetwegen«, sagte Herr Benoît, den die Hoffnung, endlich seine Rechnungen quittiert zu sehen, sehr mild gestimmt hatte. »Hier ist eine besondere Rechnung für die Stiefel. Drei Paar zu zwanzig, das macht sechzig Franken.«

Rudolf warf einen mitleidigen Blick auf ein Paar lebensmüder Stiefel.

»Ach,« dachte er, »wenn sie der ewige Jude getragen hätte, könnten sie nicht schlimmer aussehen. Es war in der Zeit, als ich Marie nachlief, daß sie sich so ausgetreten haben ... Fahren Sie fort, Herr Benoît.«

»Das waren also sechzig Franken«, sagte der Hauswirt. »Dann haben wir noch geliehenes Geld, siebenundzwanzig Franken.«

»Halt, Herr Benoît! Wir haben abgemacht, daß jeder Heilige seine besondere Nische bekommt. Das Geld haben Sie mir als Freund geliehen. Verlassen wir also den Bereich der Schuhmacherei und betreten wir den Bereich des Vertrauens und der Freundschaft, wo wieder besonders abgerechnet wird. Wie hoch beläuft sich Ihre Freundschaft für mich?«

»Siebenundzwanzig Franken.«

»Siebenundzwanzig Franken! Sie haben einen billigen Freund, Herr Benoît. Und nun wollen wir zusammenziehen: fünfundsiebzig, sechzig und siebenundzwanzig ... das macht alles in allem?«

»Hundertzweiundsechzig Franken«, sagte Herr Benoît und hielt die drei Rechnungen hin.

»Hundertzweiundsechzig Franken«, wiederholte Rudolf. »Es ist doch merkwürdig, was die Addition für eine hübsche Sache ist! Nun gut, Herr Benoît, jetzt, da wir miteinander abgerechnet haben, können wir alle beide beruhigt sein, wir wissen, woran wir uns zu halten haben. Nächsten Monat werde ich Sie bitten, zu quittieren und da sich inzwischen das Vertrauen und die Freundschaft, die Sie für mich hegen, nur vermehren können, so werden Sie mir, falls es nötig sein sollte, ein weiteres Ziel gewähren. Sollten inzwischen der Hauswirt und der Schuhmacher etwas ungeduldig werden, so bitte ich, der Freund, ihnen gut zuzureden. Es ist merkwürdig, Herr Benoît, aber jedesmal, wenn ich an Ihren dreifachen Charakter eines Eigentümers, eines Schuhmachers und eines Freundes denke, fühle ich mich getrieben, an die heilige Dreieinigkeit zu glauben.«

Der Hausbesitzer war beim Anhören dieser Worte zu gleicher Zeit rot, grün, gelb und weiß geworden, und bei jeder neuen Spötterei seines Mieters prägte sich dieser Regenbogen der Wut deutlicher auf seinem Gesicht aus.

»Mein Herr,« sagte er, »ich dulde es nicht, daß man sich über mich lustig macht. Ich habe jetzt lange genug gewartet. Hiermit kündige ich Ihnen, und wenn Sie mir bis heute abend das Geld nicht bezahlt haben, dann ... weiß ich, was ich tue.«

»Geld! Geld! Habe ich denn von Geld angefangen?« rief Rudolf. »Und übrigens, wenn ich auch Geld hätte, heute würde ich Ihnen doch keins geben. An einem Freitag bringt das Unglück!«

Die Wut des Herrn Benoît schwoll jetzt zu einem Orkan an, und wenn ihm das Mobiliar nicht selbst gehört hätte, dann würde er sicherlich irgendeinen Stuhl zerschlagen haben.

Unter allerlei Drohungen verließ er das Zimmer.

»Sie vergessen Ihren Geldbeutel!« rief ihm Rudolf zu.

»Was für ein Beruf!« murmelte der junge Mann, als er allein war. »Lieber möchte ich Löwen bändigen! ... Aber«, fuhr er fort, indem er aus dem Bett sprang und sich hastig ankleidete, »hier kann ich nicht bleiben. Die Angriffe der vereinten Gegner werden sich fortsetzen. Ich muß fliehen, und außerdem muß ich frühstücken. Halt, wie wär's, wenn ich Schaunard aufsuchte? Ich werde ihn um ein Gedeck bitten und außerdem einige Sous von ihm leihen. Hundert Franken würden mir genügen. Also gehen wir zu Schaunard.«

Als Rudolf die Treppe herab kam, traf er Herrn Benoît, der, nach dem leeren Aussehen seines Geldbeutels zu urteilen, neue Enttäuschungen bei anderen Mietern erlebt haben mußte.

»Wenn jemand nach mir fragt,« rief Rudolf, »dann sagen Sie nur, ich sei aufs Land gereist ... oder in die Schweiz ... oder nein, sagen Sie nur, ich sei ausgezogen.«

»Dann werde ich die Wahrheit sagen«, murmelte Benoît und begleitete seine Worte mit einem sehr bestimmten Kopfnicken.

Schaunard wohnte auf dem Montmartre, also an dem entgegengesetzten Ende von Paris. Der Weg dahin war für Rudolf mit vielen Gefahren verknüpft.

»Heute sind die Straßen mit Gläubigern gepflastert«, sagte er vor sich hin.

Trotzdem schlug er nicht den Weg über die äußeren Boulevards ein, wie er es eigentlich am liebsten getan hätte. Eine wahnsinnige Hoffnung ermutigte ihn, gerade durch das gefährliche Pariser Zentrum zu gehen. Er dachte nämlich, an einem solchen Tage, wo die Millionen in den Taschen der Bankbeamten nur so über das Pflaster herumspazierten, könnte es doch leicht sein, daß ein verlorengegangener Tausendfrankschein in ihm seinen barmherzigen Finder fände. Deshalb ging Rudolf langsam, die Augen auf den Boden gerichtet, seines Weges. Aber er fand nur zwei Stecknadeln.

Nach zwei Stunden war er bei Schaunard.

»Ach, das bist du?« rief dieser.

»Ja, ich möchte bei dir frühstücken.«

»Ach, mein Freund, du kommst sehr ungelegen. Ich erwarte jede Minute meine Geliebte, und ich habe sie seit vierzehn Tagen nicht mehr gesehen. Wärst du zehn Minuten früher gekommen ...«

»Aber kannst du mir denn nicht wenigstens hundert Franken leihen?« fuhr Rudolf fort.

»Was? Auch du?« rief Schaunard im höchsten Erstaunen. »Auch du willst Geld? Hast du dich denn mit meinen Feinden verbündet?«

»Ich gebe sie dir Montag zurück.«

»Oder wenn Freitag auf Sonntag fällt. Lieber Freund, vergißt du denn, was wir heute für ein Datum haben? Ich kann gar nichts für dich tun. Aber du brauchst nicht zu verzweifeln, der Tag ist noch nicht zu Ende. Du kannst noch der Vorsehung begegnen, die steht nie vor Mittag auf.«

»Ach,« antwortete Rudolf, »die Vorsehung ist vollauf damit beschäftigt, zu sehen, daß kein Sperling vom Dache fällt. Ich gehe zu Marcel.«

Marcel wohnte damals auf der Rue de Breda. Rudolf fand ihn in trüben Gedanken vor seinem großen Gemälde sitzen, dem ›Durchzug durch das Rote Meer.‹

»Was hast du?« fragte Rudolf, als er eintrat. »Du läßt ja ganz die Flügel hängen.«

»Ach,« jammerte der Maler, »bei mir ist schon seit vierzehn Tagen Karwoche!«

Für Rudolf war diese Antwort klar wie Quellwasser. »Salzheringe und Schwarzrettich? Natürlich, ich habe das auch durchgemacht! Aber die Sache ist mir sehr unangenehm, ich wollte dich nämlich um hundert Franken anpumpen.«

»Hundert Franken!« rief Marcel. »Bist du denn ganz wahnsinnig? Du willst von mir eine solche fabelhafte Summe haben zu einer Zeit, wo ich hoffnungslos unter dem Äquator der Not sitze? Du hast wohl Haschisch zu dir genommen?«

»Ach,« antwortete Rudolf, »ich habe überhaupt noch nichts zu mir genommen.« Damit ließ er seinen Freund am Ufer des Roten Meeres sitzen.

Von Mittag bis vier Uhr machte Rudolf die Runde durch die Wohnungen aller Bekannten, aber ohne den geringsten Erfolg. Der Einfluß des 15. April machte sich überall unangenehm bemerkbar. Aber es wurde jetzt Zeit zum Diner, das heißt, die Zeit kam, aber leider nicht das Diner, und Rudolf kam sich vor wie ein Schiffbrüchiger.

Als er den Pont Neuf überschritt, fiel ihm plötzlich etwas ein.

»Donnerwetter,« sagte er sich, »am 15. April ... am 15. April ... hatte ich da nicht eine Einladung zum Diner?«

Indem er seine Taschen durchwühlte, fand er folgende Karte darin:

Barriere de la Villette.
Zum Großen Sieger.
Tafel mit 300 Gedecken.


Jahresbankett
zu Ehren der Geburt
des
Neuen Messias der Menschheit
am 15. April 184...
Gültig für eine Person.


N.B. Diese Karte berechtigt nur zu einer halben Flasche Wein.

»Ich teile zwar nicht die Meinungen der Schüler dieses neuen Messias,« sagte sich Rudolf, »aber an ihren Spenden nehme ich gerne teil.« Und mit der Schnelligkeit eines Vogels durcheilte er die Strecke, die ihn von der Barriere trennte.

Als er in den Gasträumen des Großen Siegers ankam, fand er dort eine riesige Menschenmenge. Der Saal mit den dreihundert Gedecken enthielt fünfhundert Menschen, und ein ungeheurer Horizont von Kalbfleisch mit Möhrchen tat sich vor Rudolfs Blicken auf.

Endlich begann man die Suppe aufzutragen.

Als die Tischgenossen gerade dabei waren, den ersten Löffel zum Munde zu führen, traten fünf oder sechs Personen in Zivil, mehrere Stadtsergeanten und ein Polizeikommissar in den Saal. »Meine Herren,« sagte der Polizeikommissar, »auf höheren Befehl ist das Bankett verboten worden. Sie müssen den Saal verlassen.«

»Ach,« sagte Rudolf, als er mit den andern hinausging, »da hat mir das Schicksal einmal schon in die Suppe gespuckt.«

Und er schlug traurig wieder den Weg nach seiner Wohnung ein, wo er des Abends gegen elf Uhr anlangte.

Herr Benoît erwartete ihn.

»Ah, da sind Sie ja?« fragte ihn der Hauseigentümer. »Haben Sie daran gedacht, was ich Ihnen heute morgen sagte? Bringen Sie mir das Geld?«

»Ich erwarte noch heute abend welches und werde es Ihnen morgen früh geben«, antwortete Rudolf, indem er auf seinem Platz nach seinem Schlüssel und seiner Kerze suchte. Er fand aber nichts.

»Herr Rudolf,« sagte Herr Benoît, »es tut mir sehr leid, aber ich habe Ihr Zimmer anderweitig vermieten müssen, es war sonst keins frei. Sie müssen sehen, wo Sie unterkommen.«

Rudolf war ein starker Geist, und eine Nacht unter freiem Himmel hatte für ihn keine großen Schrecken. Übrigens konnte er bei schlechtem Wetter in einer Proszeniumsloge des Odeontheaters schlafen, wie er das schon oft getan hatte. Aber er verlangte die Herausgabe seiner Sachen, die aus einem Packen Papier bestand.

»Das ist recht«, sagte der Hauswirt. »Ich darf diese Sachen nicht zurückbehalten, sie liegen in dem Schreibsekretär. Kommen Sie mit herauf. Wenn das Fräulein, dem ich das Zimmer vermietet habe, noch nicht zu Bett ist, können wir hineingehen.«

Das Zimmer war im Laufe des Tages an ein junges Mädchen vermietet worden, das sich Mimi nannte und einst mit Rudolf ein zärtliches Verhältnis begonnen hatte.

Sie erkannten sich sofort, Rudolf flüsterte Mimi leise ins Ohr und drückte ihr zart die Hand.

»Hören Sie, wie es regnet«, sagte er und machte sie auf das Sausen des Sturmwindes aufmerksam, der sich draußen erhoben hatte.

Fräulein Mimi ging sofort zu Herrn Benoît hin, der in einem Winkel des Zimmers wartete.

»Dieser Herr da«, sagte sie, indem sie auf Rudolf wies, »ist der Bekannte, dessen Besuch ich heute abend erwartete ... Ich bin sonst für niemand zu sprechen.«

»Oh«, rief Herr Benoît mit verblüfftem Gesicht. »Na, das ist ja sehr gut!«

Während Mimi in Eile ein improvisiertes Souper zurechtmachte, schlug es Mitternacht.

»Ah,« sagte Rudolf zu sich selbst, »der 15. April ist vorüber, und ich habe wieder einmal mein Kap der Stürme umschifft. Süße Mimi«, fügte er dann laut hinzu, indem er das schöne Mädchen in seine Arme schloß und sie auf den Nacken küßte, dort, wo die Haare begannen. »Sie wären ja gar nicht imstande, mich vor die Tür setzen zu lassen. Sie sind ein Engel der Gastfreundschaft.«


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