Henry Murger
Die Bohème
Henry Murger

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XIII. Fräulein Mimi

Rudolf stand in seinem vierundzwanzigsten Lebensjahr, als er Fräulein Mimi kennenlernte und ihn jene Liebesleidenschaft ergriff, die einen so großen Einfluß auf sein Leben ausübte. Er führte damals das vom Zufall bestimmte, phantastische Leben eines echten Zigeuners, aber er war vielleicht der heiterste und unbesorgteste von ihnen allen. Und wenn er nach einem ärmlichen Diner einen guten Witz gemacht hatte, dann schritt er über das Straßenpflaster, das ihm oft genug als Bett gedient hatte, mit einem Stolz einher, der in einem merkwürdigen Gegensatz zu seinem in allen Nähten klaffenden schwarzen Rock stand.

Rudolf traf eines Tages die junge Mimi, die er schon früher gekannt hatte, als sie noch die Geliebte eines seiner Freunde war. Und jetzt machte er sie zu seiner eigenen. Es entstand zunächst ein großer Lärm unter Rudolfs Freunden, als sie von seiner ›Heirat‹ erfuhren. Aber da Fräulein Mimi sehr liebenswürdig war, sich durchaus nicht zierte und, ohne Kopfschmerzen zu bekommen, das Pfeifenrauchen und die literarischen Unterhaltungen ertrug, so gewöhnte man sich an sie und behandelte sie als Kameradin. Mimi war eine entzückende Frau und entsprach ganz den körperlichen und poetischen Idealen Rudolfs. Sie war jung, klein, zierlich und munter. Ihre Gesichtszüge hatten etwas Aristokratisches, wurden aber ganz überstrahlt von dem milden Glanz ihrer blauen, feuchten Augen. Manchmal jedoch, in Momenten der Langeweile oder schlechten Laune, konnten sie auch einen brutalen Charakter annehmen, dann trat die ihrem Wesen zugrunde liegende Eigenliebe und Gefühllosigkeit hervor. Aber meistens zeigte sie ein liebenswürdiges Gesicht mit einem frischen, naiven Lächeln, einen hingebenden oder verführerischen Blick. Junges Blut floß heiß und schnell durch ihre Adern und überzog ihre zarte, kamelienweiße Haut mit einem rosigen Schein. Diese etwas krankhafte Schönheit verführte Rudolf, und er verbrachte manche Stunde der Nacht damit, die bleiche Stirn seiner schlafenden Geliebten mit Küssen zu bekränzen, während die feuchten, müden Augen hinter den halbgeschlossenen Lidern unter dem Vorhang der prächtigen braunen Haare hervorblitzten. Was aber vor allem Rudolf wahnsinnig verliebt in Fräulein Mimi machte, das waren ihre Hände, die sie trotz der häuslichen Arbeiten wundervoll weiß zu bewahren wußte. Und doch sollten diese kleinen zarten Hände, die so süß zu küssen waren, diese Kinderhände, in die Rudolf sein neuerblühtes Herz hineingelegt hatte, bald dieses Herz eines Dichters mit ihren rosigen Nägeln zerfleischen.

Nach einem Monat begann Rudolf einzusehen, daß er sich mit einem flatterhaften Wesen verbunden hatte, dessen Hauptvergnügen es war, sich mit den ausgehaltenen Frauen des Viertels zu unterhalten. Sie befreundete sich mit ihnen, und der Luxus, den sie bei einigen von ihnen sah, erweckte in Fräulein Mimi, die bisher in ihren Ansprüchen sehr bescheiden gewesen war, allerlei Wünsche. Sie begann von Seide, Samt und Spitzen zu träumen. Und trotz aller Verbote Rudolfs fuhr sie fort, diese Damen zu besuchen, die ihr alle übereinstimmend rieten, mit diesem Zigeuner zu brechen, der ihr nicht einmal hundertundfünfzig Franken geben konnte, um sich ein Tuchkleid zu kaufen.

»Ein so hübsches Mädchen wie Sie«, sagten ihr diese Ratgeberinnen, »wird mit Leichtigkeit ein besseres Verhältnis finden. Sie brauchen nur zu suchen.«

Und Fräulein Mimi begann zu suchen. Angesichts ihrer häufigen Ausgänge, für die sie nur schlecht begründete Vorwände fand, hegte Rudolf einen immer mehr anwachsenden Argwohn. Aber jedesmal, wenn er einer wirklichen Untreue auf die Spur kam, legte er sich selbst eine Binde vor die Augen, um nichts zu sehen. Und er betete Mimi noch immer an. Er empfand für sie eine eifersüchtige, überspannte und zanksüchtige Liebe, die das junge Mädchen nicht begriff, weil es für Rudolf nur jene Neigung hegte, die aus der Gewohnheit entsprang. Und im übrigen hatte Mimi die Hälfte ihres Herzens schon in der Zeit ihrer ersten Liebe verschwendet, und die andere Hälfte war noch ausgefüllt mit den Erinnerungen an ihren ersten Liebhaber.

Acht Monate verflossen so, während gute und schlimme Tage miteinander abwechselten. Zwanzigmal war Rudolf in dieser Zeit entschlossen gewesen, sich von Fräulein Mimi zu trennen, die für ihn alle diese rohen Grausamkeiten einer nicht liebenden Frau bereit hielt. Tatsächlich war das Leben für beide Teile eine Hölle geworden. Aber Rudolf hatte sich an diese täglichen Kämpfe gewöhnt, und er fürchtete nichts so sehr, als daß dieses ganze Verhältnis aufhören könnte, weil er fühlte, daß damit auch die fieberhaften Erregungen seiner Jugend ein Ende nehmen würden. Und dann muß auch gesagt werden, daß es Stunden gab, in denen Fräulein Mimi Rudolf allen Unwillen, den er je gegen sie gehegt hatte, vergessen machte. Es gab Augenblicke, wo dieser Dichter unter dem Zauber ihrer blauen Augen wie ein Kind zu ihren Füßen sank, wo er in ihrer Liebe die ganze Poesie seiner Jugend wiederfand. Inmitten ihrer stürmischen Streitigkeiten fanden sich Rudolf und Mimi zwei- oder dreimal monatlich wie durch eine gemeinsame Regung in der frischen Oase einer süßen Liebesnacht zusammen. Dann nahm Rudolf den lächelnden und glühenden Kopf seiner Freundin in seine Arme, und ganze Stunden hindurch flüsterte er ihr leidenschaftliche und törichte Liebesworte zu. Mimi, die im Anfang kühl blieb, erwärmte sich dann immer mehr an Rudolfs Feuer. Ihre gleichgültige Kühle schmolz bei der Berührung mit diesem Herzen, seine fieberhafte Glut steckte sie an, und sie warf sich ihm an den Hals, um ihm mit Küssen zu sagen, was sie ihm nicht mit Worten sagen konnte. Aber am nächsten Tag führte der gleichgültigste Anlaß einen Streit herbei, und die Liebe floh erschreckt für lange Zeit davon. Schließlich erkannte Rudolf, daß ihn die weißen Hände Mimis, wenn er sich nicht in acht nahm, in einen Abgrund führen würden, in dem er seine Zukunft und seine Jugend verlieren mußte. Seine Vernunft sagte ihm, daß seine Geliebte ihn nicht mehr liebte, und wenn sie ihm einmal eine Stunde der Zärtlichkeit schenkte, dann war das eine Laune der Sinne, wie sie bei verheirateten Frauen vorkommt, wenn sie ein neues Kleid erwarten, oder auch, wenn ihr Geliebter gerade nicht da ist, und so nach einem Sprichwort das Schwarzbrot essen, weil sie kein Weißbrot haben. Schließlich faßte er einen Entschluß und kündigte ihr an, sie sollte sich einen andern Geliebten suchen. Mimi begann zu lachen und machte höhnische Bemerkungen, als sie aber sah, daß es Rudolf ernst war, wurde sie unruhig und war dann einige Tage sehr liebenswürdig gegen ihn. Aber ihr Geliebter ließ sich nicht weiter mit ihr ein, sondern fragte nur, ob sie schon jemand gefunden hätte.

»Ich habe noch gar nicht einmal gesucht«, antwortete sie.

Aber sie hatte doch gesucht, und sogar schon, bevor Rudolf ihr den Rat gegeben. In vierzehn Tagen hatte sie zwei Versuche gemacht. Eine ihrer Freundinnen hatte sie mit einem noch sehr jungen Mann bekanntgemacht, der vor ihren Augen Seidenstoffe und Polisandermöbel auftauchen ließ. Aber, wie Mimi schnell bemerkte, war dieser junge Student vielleicht ein guter Mathematiker, doch in der Liebe noch ein blinder Anfänger, und, da Mimi sich nicht gern mit Erziehung abgab, ließ sie ihn kurzerhand laufen.

Dafür verliebte sie sich in einen bretonischen Edelmann, den sie nicht lange zu bitten brauchte, bis er sie zu seiner Komtesse machte.

Rudolf merkte trotz ihres Leugnens, daß etwas im Gange war. Er wollte Sicherheit haben, und als sie eine Nacht durch nicht nach Hause gekommen war, lauerte er ihr des Morgens vor dem Hause, wo er sie vermutete, auf. Mit müden, dunkelumrandeten Augen kam Mimi am Arm ihres neuen Herrn und Gebieters, der sie nunmehr geadelt hatte, heraus. Beim Anblick ihres Geliebten schien sie etwas überrascht zu sein, doch trat sie ruhig auf ihn zu, und sie wechselten einige Worte. Dann ging jeder nach seiner Seite ab. Der Bruch war jetzt entschieden.

Rudolf kehrte in seine Wohnung zurück und verbrachte den Tag damit, alles in Pakete zu packen, was seiner Geliebten gehörte.

Im Laufe des Tages, der dieser Scheidung folgte, erhielt Rudolf Besuche von verschiedenen Freunden und teilte ihnen mit, was geschehen war. Alle beglückwünschten ihn zu dem Ereignis wie zu einem großen Glück.

Rudolf schwur, nun sollte es für ewig aus sein mit Bedauern und Verzweiflung. Er ließ sich sogar auf den Mabilleball schleppen, wo er mit seinem verschlissenen Anzug sehr schlecht für den ›Regenbogen‹ repräsentierte, obgleich diese Zeitschrift ihm den freien Eintritt in diese schönen Hallen des Vergnügens und der Eleganz verschaffte. Er traf hier von neuem Freunde, denen er eine Stunde lang mit großem Überschwang von Ironie die Geschichte seiner Liebe erzählte.»

Ach,« sagte der Maler Marcel, als er die spöttischen Worte seines Freundes hörte, »Rudolf stellt sich zu vergnügt, da stimmt etwas nicht!«

»Er ist reizend«, meinte eine junge Frau, der Rudolf einen Blumenstrauß verehrt hatte. »Und wenn er auch nicht elegant gekleidet ist, so würde ich mich doch gerne kompromittieren, indem ich mit ihm tanzte, wenn er mich nur einladen wollte.«

Rudolf hörte diese Worte, und zwei Sekunden später war er schon auf den Beinen, um seine Dame unter einem wahren Sturmregen schwülstig galanter Redensarten zu einem Tanz aufzufordern. Nun kannte Rudolf vom Tanzen auch nicht die geringsten Anfangsgründe, aber von einem außerordentlichen Mut beseelt, stürzte er sich in das Gewühl und improvisierte einen Tanz, wie ihn bisher noch kein Mensch gesehen hatte.

»Unglaublich«, sagte der Maler Marcel. »Rudolf kommt mir wie ein Betrunkener vor, der sich in zerbrochenen Gläsern herumwälzt.«

»Jedenfalls hat er sich ein prächtiges Weib erobert«, meinte ein anderer, als er sah, daß jetzt Rudolf mit seiner Tänzerin ziemlich eilig und, ohne sich von seinen Freunden zu verabschieden, den Saal verließ.

Die Gefährtin des Dichters war ein kräftiges Mädchen aus der Normandie, eine üppige Gestalt, deren etwas ländliches Wesen sich schnell inmitten der Pariser Eleganz und eines trägen Lebens verfeinert hatte. Sie nannte sich meist Frau Seraphine und war zurzeit die Geliebte eines Rheumatikers, eines Pairs von Frankreich, der ihr monatlich tausend Franken gab. Dieses Geld teilte sie mit einem flotten Handlungsgehilfen, der sie dafür verprügelte. Rudolf hatte ihr gefallen, sie rechnete bei ihm nicht auf Geld und nahm ihn mit nach Hause.

»Lucilie,« sagte sie zu ihrer Kammerzofe, »ich bin für niemand zu sprechen.« Und nachdem sie in ihr Toilettenzimmer gegangen war, kam sie nach fünf Minuten in einem leichteren Kostüm zurück. Sie traf Rudolf unbeweglich und stumm, denn während seines Alleinseins hatte ihn eine dumpfe Traurigkeit voll quälender Erinnerungen überfallen.

»Sie sehen mich ja gar nicht an, du sprichst ja gar nichts«, sagte Seraphine erstaunt.»

Meinetwegen«, dachte Rudolf, indem er seine Blicke erhob, »betrachten wir sie, aber nur vom Künstlerstandpunkt!«

Seraphine war wirklich sehr schön. Ihre herrlichen Formen, die durch den Schnitt ihres Kleides hervorgehoben wurden, schimmerten lockend unter dem halb durchsichtigen Stoff. Das ganze mächtige Fieber des Begehrens erwachte in den Adern Rudolfs, eine heiße Glut stieg ihm in den Kopf. Nicht länger betrachtete er Seraphine mit den Augen eines Ästheten, und er nahm die Hände des schönen Mädchens in die seinen. Langsam zog er Seraphine an sich. Ihre Wangen überzogen sich mit jener rosigen Glut, die die Morgenröte des Verlangens ist, und in ihm verging gerade die letzte Spur eines Kunstkritikers, als plötzlich an der Wohnungstür heftig geklingelt wurde.

»Lucilie! Lucilie!« rief Seraphine ihrer Kammerzofe zu. »Öffnen Sie nicht. Sagen Sie, ich sei noch nicht zurückgekehrt.«

Bei dem zweimal gerufenen Namen Lucilie fuhr Rudolf auf. Lucilie war der Taufname Mimis, und eine Flut von Erinnerungen überwältigte ihn.

»Ich will Ihnen durchaus keine Ungelegenheiten machen, gnädige Frau«, sagte er. »Übrigens muß ich auch aufbrechen, es ist spät, und ich wohne sehr weit. Guten Abend.«

»Wie, Sie wollen gehen?« rief Seraphine aus und verdoppelte das Feuer ihrer Blicke. »Warum wollen Sie denn fort? Ich bin frei, Sie können ruhig hierbleiben.«

»Unmöglich«, antwortete Rudolf. »Ich erwarte heute einen Verwandten, der aus dem Feuerland zu Besuch kommt. Er enterbt mich, wenn er mich nicht zu Hause antrifft, um ihn zu empfangen. Guten Abend, gnädige Frau!«

Und er eilte hastig hinaus.

Als Rudolf nach Hause kam, traf er auf der Treppe seinen rötlichen Kater, der kläglich miaute. Seit zwei Nächten rief er schon vergeblich nach seiner Geliebten, einer leichtfertigen Angorakatze, die währenddem galante Fahrten über die benachbarten Dächer unternahm. »Armes Tier«, sagte Rudolf. »Bist du auch betrogen worden? Deine Mimi hat dir auch solche Streiche gespielt wie mir die meinige? Ach was, trösten wir uns. Glaube mir, mein armes Tier, das Herz der Frauen und der Katzen ist ein Abgrund, den die Männer und die Kater nie ergründen werden.«

Als Rudolf in sein Zimmer eintrat, umfing ihn trotz des drückendheißen Wetters ein eisiges Gefühl. Es war das Frösteln der Einsamkeit, dieser schrecklichen Einsamkeit, aus der es keine Erlösung gibt. Er zündete seine Kerze an und sah das verwüstete Zimmer mit den offenstehenden leeren Schubladen der Schränke. Er stieß mit dem Fuß an die Pakete, in denen Mimis Sachen eingepackt waren, und er verspürte eine lebhafte Freude, weil sie noch nicht dagewesen war, um sie abzuholen.

Als er sich dem Bett näherte und die Vorhänge zurückzog, blickte er auf dieses seit zwei Tagen nicht gemachte Lager und sah die beiden Kissen nebeneinander liegen und unter dem einen halbverborgen eine spitzenbesetzte Nachthaube hervorragen. Sein Herz wurde von einem unbezwinglichen Schmerz zusammengepreßt, er fiel vor dem Bett auf die Knie, barg sein Gesicht in seinen Händen und begann zu weinen.

Während dieser ganzen Nacht wurde Rudolf von den Erinnerungen der vergangenen acht Monate gequält, und immer sah er das Bild dieser jungen Frau, die er vielleicht niemals geliebt hatte, deren zärtliche Lügen aber seinem Herzen seine erste Jugend und Mannheit zurückgezaubert hatten. Erst, als schon die Morgenröte die Dämmerung durchbrach, versank er in einen kurzen, bleischweren Schlaf.

Des Morgens kamen seine Freunde auf Besuch, und sie erschraken, als sie sein durchwachtes, müdes Gesicht sahen.

»Natürlich,« sagte Marcel, »das habe ich erwartet. Seine gestrige Ausgelassenheit war ja gar nicht natürlich. Die Sache kann nicht so weitergehen.«

Und zusammen mit zwei oder drei Kameraden begann er eine Fülle von Enthüllungen über Fräulein Mimi zu machen, von denen jedes Wort sich wie ein Dorn in Rudolfs Herz einbohrte. Seine Freunde bewiesen ihm, daß seine Geliebte ihn die ganze Zeit über wie einen Dummkopf hintergangen habe, sowohl in seiner Wohnung wie anderswo, und daß dieses zarte Geschöpf ein Gefäß verdorbener Neigungen und wilder Instinkte war.

Und einer löste den andern ab in diesem Versuch, Rudolfs Liebe in Verachtung umzuwandeln, aber sie erreichten ihr Ziel nur zur Hälfte.

Die Verzweiflung des Poeten verwandelte sich in Zorn, und er stürzte sich wütend auf die Pakete und nahm alles heraus, was er ihr während ihres Verhältnisses geschenkt hatte. Es war dies der weitaus größere Teil, denn Mimi war in der letzten Zeit unersättlich in Forderungen, besonders an Toilettegegenständen, gewesen.

Am folgenden Tage kam sie, um ihre Sachen abzuholen. Rudolf befand sich allein zu Hause, und er mußte alle seine Selbstachtung anspannen, um sich seiner Geliebten nicht an den Hals zu werfen. Er empfing sie mit vorwurfsvollem Stillschweigen, und sie antwortete mit jenem kalten und scharfen Hohn, der selbst den Schwächsten und Furchtsamsten zur Wut bringt. Vor dieser beißenden Verachtung, die seine Geliebte mit unverschämter Hartnäckigkeit zur Schau trug, erwachte in Rudolf ein brutaler und heftiger Zorn. Einen Augenblick fragte sich Mimi, bleich vor Schrecken, ob sie wohl lebend aus seinen Händen herauskommen würde. Über dem Geschrei, das sie ausstieß, eilten einige Nachbarn herbei und rissen sie aus dem Zimmer.

Zwei Tage später fragte eine Freundin Mimis an, ob er die Sachen herausgeben wollte, die er noch in Aufbewahrung hätte. »Nein!« antwortete er.

Und dann plauderte er mit der Botin seiner Geliebten. Sie erzählte ihm, daß sich Mimi in einer sehr unangenehmen Lage befände, da sie keine Wohnung habe.

»Und ihr Geliebter, auf den sie so verrückt ist?«

»Aber,« antwortete Amalie, denn so hieß Mimis Freundin, »dieser junge Mann hatte ja gar nicht die Absicht, sie zur Geliebten zu nehmen. Er besitzt schon seit langem ein festes Verhältnis und scheint sich wenig um Mimi zu kümmern. Sie wohnt jetzt bei mir und fällt mir sehr zur Last.«

»Mag sie sehen, wie sie zurechtkommt«, sagte Rudolf. »Sie hat es so gewollt, mich geht es nichts an.« Und er sagte Fräulein Amalie verliebte Schmeicheleien und versicherte ihr, sie sei die schönste Frau auf der Welt.

Amalie berichtete Mimi ihre Unterhaltung mit Rudolf.

»Was sagte er? Wie geht es ihm?« fragte Mimi. »Hat er über mich gesprochen?«

»Gar nicht, Sie sind schon vergessen, meine Liebe. Rudolf hat eine neue Geliebte, der er eine prachtvolle Toilette gekauft hat. Er hat nämlich viel Geld eingenommen und geht selbst wie ein Fürst gekleidet. Er ist übrigens ein sehr liebenswürdiger Mensch und hat mir reizende Sachen gesagt.«

»Ich werde schon erfahren, was das heißen soll«, sagte Mimi.

Jeden Tag kam jetzt Amalie unter irgendeinem Vorwand zu Rudolf, und obgleich sich dieser immer wieder vornahm, nicht über Mimi zu sprechen, tat er es doch.

»Sie ist sehr vergnügt«, berichtete die Freundin, »und scheint sich wegen ihrer Zukunft keine Sorge zu machen. Übrigens versichert sie, sie könnte zu Ihnen zurück, wenn sie nur wollte, aber sie täte das dann nur, um Ihre Freunde zu ärgern.«

»Schön«, sagte Rudolf. »Sie soll nur kommen, wir werden dann schon sehen.«

Und er begann von neuem, Amalie den Hof zu machen, die das dann alles Mimi erzählte und ihr versicherte, Rudolf sei ganz verliebt in sie.

»Er hat mir die Hand und den Hals geküßt«, sagte sie. »Sehen Sie, er ist noch ganz rot. Demnächst will er mich zum Ball begleiten.«

»Liebe Freundin,« sagte Mimi gekränkt, »ich verstehe schon, daß Sie mir einreden wollen, Rudolf liebte Sie, und an mich dachte er nicht mehr. Aber Sie verlieren Ihre Zeit, sowohl mit ihm wie mit mir.«

Tatsächlich war Rudolf nur so liebenswürdig zu Amalie, um sie häufiger zu sehen und mit ihr über Mimi zu sprechen. Aber obgleich Amalie das sehr gut fühlte, wußte sie doch durch absichtlich falsche Berichte die beiden immer wieder auseinander zu halten.

Am Tage, wo sie zum Ball gehen wollte, kam sie des Morgens zu Rudolf und fragte ihn, ob er noch immer bei seinem Versprechen bleibe.

»Selbstverständlich«, antwortete er. »Ich werde doch nicht auf eine Gelegenheit verzichten, der Begleiter der schönsten Dame der modernen Zeit zu sein.«

Amalie setzte eine kokette Miene auf und versprach, pünktlich zur Stelle zu sein.

»Übrigens,« meinte Rudolf, »wenn Mimi ihren Geliebten mit mir betrügen und eine Nacht in meiner Wohnung verbringen will, dann werde ich ihr alle ihre Sachen zurückgeben.«

Amalie richtete zwar diese Bestellung aus, gab ihr aber einen ganz anderen Sinn.

»Ihr Rudolf ist doch ein unvornehmer Mensch«, sagte sie zu Mimi. »Sein Vorschlag ist eine Gemeinheit, er will Sie damit auf das Niveau der allerniedrigsten Geschöpfe herabdrücken. Wenn Sie zu ihm gehen, gibt er Ihnen nicht nur Ihre Sachen zurück, sondern er macht Sie auch noch zum Gespött seiner Freunde. Die haben es gemeinsam miteinander abgemacht.«

»Ich gehe schon nicht hin«, sagte Mimi, und als sie sah, wie Amalie ihre Toilette zurechtmachte, fragte sie, ob sie zum Balle ginge.

»Ja«, antwortete die Freundin.

»Mit Rudolf?«

»Ja, er trifft mich heute abend zwanzig Schritte vom Hause.«

»Viel Vergnügen«, sagte Mimi. Als aber die Stunde des Rendezvous herannahte, lief sie in aller Eile zu dem Geliebten Amaliens und teilte ihm mit, daß diese im Begriff stehe, ihn zu betrügen.

Der Herr, der eifersüchtig wie ein Tiger war, kam sofort zu Amalie und sagte ihr, wie nett er es fände, daß sie den Abend mit ihm verbringen wolle.

Um acht Uhr lief Mimi zu dem Ort hin, wo Rudolf Amalie treffen wollte. Sie bemerkte auch ihren Geliebten, der in wartender Haltung auf und ab ging. Zweimal kam sie an ihm vorbei, ohne daß sie es wagte, ihn anzureden. Rudolf sah sehr elegant aus, sein Gesicht hatte durch die erlittenen Schmerzen etwas Charakterfestes bekommen, und Mimi war seltsam bewegt.

Endlich entschloß sie sich, mit ihm zu sprechen. Rudolf hörte sie ohne Zorn an und fragte sie in sanftem Tone, wie es mit ihrem Befinden ginge.

»Ach, ich bringe Ihnen eine schlechte Nachricht. Fräulein Amalie kann nicht mit Ihnen zum Ball gehen, ihr Geliebter hält sie fest.«

»Dann werde ich allein zum Ball gehen.«

Fräulein Mimi stellte sich jetzt, als schwanke sie, und sie stützte sich auf die Schulter Rudolfs. Er nahm ihren Arm und schlug ihr vor, sie nach Hause zu führen.

»Nein,« sagte Mimi, »ich wohne bei Amalie. »Und da sie jetzt ihren Geliebten bei sich hat, kann ich nicht eher zurückkehren, bis er fort ist.«

»Ich habe Ihnen doch durch Fräulein Amalie einen Vorschlag gemacht«, sagte jetzt der Dichter. »Hat sie ihn Ihnen übermittelt?«

»Ja,« sagte Mimi, »aber in Ausdrücken, daß ich selbst nach allem, was vorgegangen ist, nicht daran glauben kann. Nein, Rudolf, trotz allem, was Sie mir vorwerfen können, habe ich doch nicht daran gedacht, daß Sie mir zutrauen, einen solchen Vorschlag anzunehmen.«

»Sie haben mich falsch verstanden, oder man hat Ihnen Falsches berichtet«, erwiderte Rudolf. »Ich bleibe noch immer bei meinem Vorschlag. Es ist neun Uhr, und Sie haben noch drei Stunden Zeit zum Überlegen. Bis Mitternacht bleibt der Schlüssel in meiner Tür stecken. Guten Abend.«

»Guten Abend«, sagte Mimi mit zitternder Stimme.

Rudolf ging nach Hause und legte sich angekleidet aufs Bett. Um halb zwölf trat Fräulein Mimi in sein Zimmer.

»Ich nehme Ihre Gastfreundschaft in Anspruch«, sagte sie. »Der Geliebte Amaliens ist bei ihr geblieben, und ich kann nicht dorthin.«

Bis drei Uhr morgens plauderten sie und sprachen sich über manches aus. Von Zeit zu Zeit drängte sich auch das trauliche Du in die Unterhaltung. Um vier Uhr verlosch die Kerze, so daß Rudolf eine neue anzünden wollte.

»Nein,« sagte Mimi, »es lohnt sich nicht mehr, es ist Zeit zum Schlafen.«

Fünf Minuten später hatte ihr hübscher, braunhaariger Kopf wieder seinen Platz auf dem Kissen eingenommen, und mit zärtlicher Stimme lockte sie die Lippen Rudolfs zu ihren bleichen Händen, deren weißer Glanz mit der weißen Farbe der Betttücher wetteiferte. Rudolf zündete keine Kerze mehr an.

Am nächsten Morgen erhob sich Rudolf zuerst, und indem er Mimi mehrere Pakete zeigte, sagte er ganz sanft zu ihr: »Hier ist alles, was Ihnen gehört. Sie können es mitnehmen, ich halte Wort.«

»Ach,« sagte Mimi, »ich bin so müde. Sehen Sie, ich könnte die schweren Pakete gar nicht auf einmal fortschaffen. Ich möchte lieber wiederkommen.«

Und als sie sich angekleidet hatte, nahm sie nur eine Halskrause und ein Paar Manschetten. »Ich hole das, was bleibt, nach und nach«, sagte sie lächelnd.

»Nein,« sagte Rudolf, »nimm alles mit oder gar nichts. Die Sache muß ein Ende haben.«

»Im Gegenteil, sie soll von neuem beginnen,« sagte die junge Mimi und umarmte Rudolf, »und sie soll für immer dauern.«

Nachdem sie zusammen gefrühstückt hatten, gingen sie fort, um einen Ausflug zu unternehmen. Als sie das Luxembourg durchschritten, traf Rudolf einen großen Dichter, der ihm immer ein großes Wohlwollen bewiesen hatte. Aus Schicklichkeitsgründen tat Rudolf, als sähe er ihn nicht. Aber der Dichter schritt mit freundlichem Gruß auf ihn zu und grüßte seine Gefährtin mit einem liebenswürdigen Lächeln.

»Wer ist dieser Herr?« fragte Mimi.

Rudolf nannte einen Namen, der sie vor Vergnügen und Stolz erröten machte.

»Oh,« sagte Rudolf, »das Zusammentreffen mit diesem Dichter, der die Liebe so wundervoll besungen hat, ist ein gutes Vorzeichen und wird unserem neuen Bund Glück bringen.«

»Wie ich dich liebe!« sagte Mimi und drückte Rudolfs Hand, obgleich sie sich mitten in einer Volksmenge befanden.

»Ach,« dachte Rudolf, »was ist nun besser, sich betrügen lassen, indem man an die Geliebte glaubt, oder nie an sie glauben in der Furcht, sonst immer von ihr betrogen zu werden?«


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