Henry Murger
Die Bohème
Henry Murger

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XVI. Die Kleider der Grazien

Fräulein Mimi, die gerne bis spät in den Tag hinein schlief, erwachte eines Morgens um zehn Uhr und schien sehr erstaunt, Rudolf weder an ihrer Seite noch überhaupt im Zimmer zu sehen. Den Abend zuvor hatte sie ihn noch am Schreibtisch sitzen gesehen. Er wollte über Nacht eine hochliterarische Arbeit beenden, die man ihm aufgetragen hatte, und die junge Mimi war an dieser Arbeit ganz besonders interessiert. Der Dichter hatte ihr nämlich Hoffnung gemacht, daß er ihr für das Honorar ein Frühlingskleid kaufen würde, dessen Stoff sie in dem Modemagazin zu den zwei Affen, vor dessen Schaufenster ihre Koketterie oft Andachtsübungen veranstaltete, gesehen hatte. Deshalb hatte Mimi seit Beginn dieser Arbeit ein großes Interesse an dem Vorwärtskommen Rudolfs. Manchmal trat sie auch an ihn heran, während er schrieb, lehnte ihren Kopf über seine Schulter und fragte ernst: »Wie weit ist es mit meinem Kleid?«

»Keine Sorgen«, antwortete Rudolf. »Ein Ärmel ist schon fertig.«

Eines Nachts hörte sie, wie Rudolf mit den Fingern schnippte, was bei ihm gewöhnlich ein Zeichen war, daß er mit seiner Arbeit zufrieden war. Sofort richtete sich Mimi im Bett auf, steckte ihren braunen Kopf durch die Vorhänge und rief: »Ist mein Kleid fertig?« »Eben bin ich mit der Taille fertig geworden«, antwortete Rudolf und zeigte ihr die vier großen, eng beschriebenen Blätter.

»O wie fein!« sagte Mimi. »Dann brauche ich nur noch den Rock. Wie viele Seiten mußt du schreiben, um einen Rock zu haben?«

»Das ist je nachdem. Da du nicht groß bist, so könnten wir schon für zehn Seiten, zu fünfzig Zeilen, zu dreiunddreißig Buchstaben einen anständigen Rock haben.«

»Ja, ich bin nicht groß«, sagte Mimi nachdenklich. »Aber es darf trotzdem nicht aussehen, als ob man mit dem Stoff sparte. Die Kleider werden jetzt sehr weit getragen, und ich möchte schöne Falten haben, damit es hübsch knistert, wenn man geht.«

»Natürlich«, antwortete Rudolf ebenso ernst. »Ich werde dann auf jede Seite zehn Zeilen mehr setzen, damit die Kleider knistern.« Und Mimi schlief beglückt wieder ein.

Da sie leider mit ihren Freundinnen, Fräulein Dudelsack und Fräulein Euphemia, über das schöne Kleid gesprochen hatte, das Rudolf ihr zurechtschrieb, so verfehlten auch die beiden andern Damen nicht, die Herren Marcel und Schaunard von der Großmut ihres Freundes gegen seine Geliebte in Kenntnis zu setzen. Und diesen Mitteilungen waren Anspielungen gefolgt, die nichts anderes bezweckten, als sie zur Nachahmung des gegebenen Beispiels anzureizen.

»Nämlich,« fügte Fräulein Dudelsack hinzu, indem sie Marcel am Schnurrbart zupfte, »wenn das noch acht Tage so weiter geht, bin ich gezwungen, mir deine Hose zu leihen, um darin auszugehen.«

»Ich habe noch elf Franken ausstehen«, antwortete Marcel. »Wenn ich die bekomme, werde ich deine Blöße nach der neuesten Mode bekleiden.«

»Und ich?« fragte Euphemia Schaunard. »Mein Morgenkleid zerfällt direkt in Fetzen.«

Schaunard zog drei Sous aus der Tasche und gab sie seiner Geliebten. »Hier,« sagte er, »kauf dir eine Nadel und Garn. Bring' dein Morgenkleid wieder in Ordnung. Daran hast du Vergnügen und Beschäftigung zugleich.«

Trotzdem beschlossen Marcel, Schaunard und Rudolf in einem geheimen Konzil, daß sich jeder von ihnen in gleicher Weise bemühen wollte, der gerechten Eitelkeit ihrer Geliebten ein Opfer zu bringen.

»Die armen Mädchen wissen sich mit einem Nichts zu schmücken«, sagte Rudolf. »Aber sie müssen dieses Nichts doch wenigstens haben. Seit einiger Zeit gehen Literatur und Kunst sehr gut, wir verdienen jetzt bald soviel wie die Dienstmänner.«

»Es ist wahr, ich darf mich nicht beklagen«, unterbrach ihn Marcel. »Die schönen Künste blühen und gedeihen, man glaubt unter der Regierung Leos X. zu sein.«

»Ja,« meinte Rudolf, »du gehst ja jetzt jeden Morgen in aller Frühe fort und kommst erst abends um acht zurück. Hast du tatsächlich einen Auftrag?«

»Es ist sogar eine wunderbare Sache, mein Lieber, die mir Medici verschafft hat. Ich male in der Avemariakaserne achtzehn Grenadiere ab, jedes Porträt für sechs Franken, mit einjähriger Garantie für die Ähnlichkeit wie bei Uhren. Ich hoffe, das ganze Regiment zu bekommen. Das Geld erhalte ich übrigens durch Medici, denn ich habe mit ihm abgeschlossen und nicht mit meinen Modellen.«

»Was mich angeht,« sagte Schaunard in nachlässigem Ton, »so habe ich, so unwahrscheinlich es klingt, noch zweihundert Franken ausstehen.«

»Donnerwetter, dann laßt uns sie doch holen«, sagte Rudolf.

»In zwei oder drei Tagen denke ich sie erheben zu können«, antwortete Schaunard. »Und das will ich auch nur sagen. Wenn ich von der Kasse komme, dann werde ich auch einmal verschiedenen Passionen von mir freien Lauf lassen. Vor allem hängt da bei dem Althändler nebenan ein Nankinrock und ein Jagdhorn, die mir schon lange ins Auge stechen. Ich werde sie mir verehren.«

»Aber«, fragten Marcel und Rudolf wie aus einem Mund, »woher hoffst du dieses ungeheure Kapital zu entnehmen?«

»Hören Sie, meine Herren«, sagte Schaunard, indem er eine ernste Miene annahm und sich zwischen seine Freunde setzte. »Wir dürfen es uns nicht verhehlen, daß wir, ehe wir Mitglieder der Akademie und reiche Steuerzahler werden, noch manchmal trockenes Brot zu essen haben. Dabei stehen wir nicht allein da in der Welt. Der Himmel hat uns als fühlende Wesen geschaffen, und so haben wir uns jeder eine Gefährtin gewählt, mit der wir unser Schicksal teilen müssen.«

»Zum Teufel,« fragte Rudolf, »was willst du mit dieser langen Einleitung?«

»Ich möchte dieses sagen,« fuhr Schaunard fort, »daß wir unter den gegenwärtigen Umständen unrecht täten, wenn wir die Stolzen spielten und auch außerhalb unserer Kunst eine Gelegenheit verschmähten, vor der Null, die jetzt unser Kapital darstellt, eine Ziffer zu setzen.«

»Nun gut,« sagte Marcel, »wem von uns wirfst du vor, daß er den Stolzen spielt? Ich, der ich einst der ganz große Maler sein werde, habe mich doch nicht geweigert, einfache französische Soldaten abzumalen, die mich mit ihren Löhnungspfennigen bezahlen.«

»Und ich,« fuhr Rudolf fort, »ich arbeite seit vierzehn Tagen an einem medico-chirurgisch-dentologischen Lehrgedicht für eine zahnärztliche Größe, die mir das Dutzend Verszeilen mit fünfzehn Sous bezahlt. Trotzdem schäme ich mich nicht, und ehe ich meine Muse mit verschränkten Armen stehen lasse, arbeite ich lieber das Pariser Adreßbuch zu einem Epos um. Wenn man eine Leier hat ... dann muß man, zum Teufel auch, darauf spielen. Und außerdem braucht Mimi Schuhe.«

»Dann werdet ihr mir also auch keine Vorwürfe machen,« sagte Schaunard, »wenn ihr erfahrt, woher die Goldquelle kommt, deren Überströmen ich erwarte.«

Folgendes war die Geschichte der zweihundert Franken Schaunards.

Vor etwa vierzehn Tagen war er zu einem Musikverleger gegangen, der ihm unter seinen Kunden Klavierstunden oder Aufträge zum Klavierstimmen versprochen hatte.

»Ausgezeichnet!« sagte der Verleger, als er ihn sah. »Sie kommen mir wie gerufen. Gerade heute war jemand hier, der einen Pianisten verlangte. Er ist ein Engländer, und ich glaube, er wird Sie gut bezahlen ... Sind Sie wirklich ein guter Musiker?«

Schaunard begriff, daß ein bescheidenes Auftreten ihm in den Augen des Verlegers schaden würde. Ein bescheidener Musiker, vor allem ein bescheidener Pianist, ist eine seltene Sache. Darum antwortete Schaunard ziemlich pathetisch.

»Ich bin ein erstklassiger Künstler. Wenn ich nur eine angegriffene Lunge, lange Haare und einen schwarzen Frack hätte, so würde meine Berühmtheit die Sonne überstrahlen, und anstatt von mir achthundert Franken zu verlangen, um die Partitur meiner Symphonie ›Der Tod des jungen Mädchens‹ stechen zu lassen, würden Sie mir auf den Knien und auf einem silbernen Tablett dreitausend Franken anbieten. Jedenfalls, da meine Finger zehn Jahre Zwangsarbeit auf den fünf Oktaven hinter sich haben, so verstehe ich mich einigermaßen auf die Handhabung der schwarzen und weißen Tasten.«

Der Mann, an den sich Schaunard wendete, war ein Engländer, der sich Mr. Birn'n nannte. Der Komponist wurde zuerst von einem blauen Lakaien empfangen, der ihn einem grünen Lakaien vorstellte. Dieser gab ihn an einen schwarzen Lakaien weiter, der ihn in einen Salon einführte, wo der Insulaner in einer spleenigen Haltung kauerte und offenbar wie ein zweiter Hamlet über die Nichtigkeit alles Irdischen nachgrübelte. Schaunard wollte gerade den Grund seines Hereintretens erklären, als sich ein durchdringendes Geschrei erhob und ihn unterbrach. Dieses entsetzliche Geschrei, das die Ohren zerriß, wurde durch einen Papagei verursacht, der eine Etage tiefer auf einem Balkon saß.

»O der Tier, der Tier, der Tier!« stöhnte der Engländer und sprang von seinem Sessel auf. »Ich uerde davon verruckt!«

Im selben Augenblick begann der Vogel sein Repertoire vorzutragen, das viel umfangreicher war als das gewöhnlicher Papageien. Schaunard stand ganz verblüfft da, als das Tier, angetrieben von einer weiblichen Stimme, Verse aus Racines Phädra in theatralischer Betonung vorzutragen begann.

Dieser Papagei war der Liebling einer Schauspielerin, deren Boudoir sehr in Mode war. Sie gehörte zu jenen Frauen, die, ohne daß man weiß, warum, auf der Rennbahn der Galanterie die höchsten Preise erzielen, und deren Namen bei den Soupers der vornehmen Kavaliere als lebendes Dessert auf der Speisekarte stehen. Heutzutage gibt es einem Christen Ansehen, mit einer solchen Heidin gesehen zu werden, die häufig genug nichts Antikes an sich hat, außer ihrem Geburtsdatum. Wenn sie hübsch sind, dann ist der Schaden dabei nicht einmal so groß. Man riskiert es höchstens, auf Stroh geworfen zu werden, nachdem man sie in Seide gebettet hat. Aber wenn ihre Schönheit beim Parfümeur gekauft ist und keinen drei Tropfen Wasser auf einem Lappen standhält, wenn ihr Geist aus einem Gassenhauer herstammt und ihr Talent aus dem Beifall der bezahlten Claque, dann kann man sich schwer erklären, wie Menschen, die klug und wohlhabend sind und manchmal einen berühmten Namen haben, sich bis zu dem Niveau eines Geschöpfes erniedern, das ihr eigener Diener nicht zu seiner Geliebten machen würde.

Diese Schauspielerin nun gehörte zu der Zahl solcher Tagesschönheiten. Sie nannte sich Dolores und behauptete Spanierin zu sein, obwohl sie in irgendeinem verrufenen Viertel von Paris geboren war. Sie hatte sieben oder acht Jahre gebraucht, um von diesem Viertel bis in die vornehme Straße zu kommen, in der sie jetzt lebte. Ihr Wohlstand war in demselben Maße gewachsen, in dem ihre Schönheit verfiel. An dem Tage, da sie sich den ersten falschen Zahn einsetzen ließ, bekam sie ein Pferd, und mit dem zweiten Zahn das zweite Pferd. Augenblicklich lebte sie auf großem Fuß, wohnte in einem wahren Louvre, zeigte sich auf allen Rennen und gab Bälle, zu denen ganz Paris hinströmte.

Der Papagei, dessen Sprachtalent ihn zu einer Berühmtheit des ganzen Viertels gemacht hatte, war aber für die nächsten Nachbarn allmählich zu einem Gegenstand des Schreckens geworden. Den ganzen Tag saß er auf dem Balkon und hielt von seiner Stange herab, die ihm als Rednertribüne diente, endlose Ansprachen. Einige Journalisten, die bei seiner Herrin verkehrten, hatten ihm gewisse parlamentarische Formen beigebracht. Außerdem kannte er das ganze Repertoire seiner Herrin und trug es mit einem Ausdruck vor, daß er sie sicher im Falle einer Erkrankung hätte vertreten können. Da diese Dame übrigens in bezug auf die Liebe keinem Nationalismus huldigte und Besucher aus allen Weltgegenden empfing, so kannte auch der Papagei alle Sprachen und erlaubte sich manchmal in fremdländischen Idiomen Kraftausdrücke, bei deren Anhören jeder Matrose errötet wäre. Die Gesellschaft dieses Vogels, die ein paar Minuten lang interessant und belehrend sein konnte, wurde zu einer wahren Folter, wenn sie länger dauerte. Die Nachbarn hatten sich wiederholt beschwert, waren aber von der Schauspielerin hochmütig abgewiesen worden. Ebensowenig hatte es etwas genutzt, daß zwei oder drei Mieter, ehrsame Familienväter, aus Unwille über die leichtfertigen Sitten, die sich aus den Worten des Papageis verrieten, ihre Wohnung kündigten, denn die Schauspielerin hatte den Hausbesitzer bei seiner schwachen Seite zu nehmen gewußt.

Der Engländer, bei dem Schaunard eingetreten war, hatte drei Monate seine Geduld zu wahren gewußt. Eines Tages verbarg er seine Wut, die aufs höchste gestiegen war, unter einer Staatstoilette, und offiziell gekleidet, als ginge er nach Windsor zum Handkuß bei der Königin Victoria, ließ er sich bei Fräulein Dolores melden.

Sie lud ihn, als sie seinen eleganten Anzug sah, ohne weiteres zum Frühstück ein, aber der Engländer antwortete in einem Französisch, das er in fünfundzwanzig Lektionen von einem Spanier gelernt hatte: »Ich nehme der Einladung unter der Bedingung an, daß wir dieses ... abscheuliche Vogel verspeisen.« Damit wies er auf den Papagei hin, der schon einen Insulaner in ihm gewittert und ihn mit dem › God save the king‹ begrüßte. Dolores dachte, der Engländer, ihr Nachbar, sei gekommen, um sich über sie lustig zu machen, und wollte schon wütend werden, als er hinzusetzte: »Da ich sehr reich, will ich kaufen das Tier.«

Dolores antwortete, sie hätte ihren Vogel gern und möchte ihn nicht in die Hände eines andern übergehn lassen.

»Oh, ich würden sie nicht in meine Hände nehmen,« erwiderte der Engländer, »sondern unter meine Stiefel.« Damit wies er auf die Absätze seiner Schuhe.

Dolores bebte vor Unwillen und wollte diesem gerade Ausdruck geben, als sie an der Hand des Engländers einen Diamantring erblickte, der seine zweieinhalbtausend Franken Rente wert war. Diese Entdeckung wirkte wie eine kalte Dusche auf ihren Zorn. Sie bedachte, daß es doch wohl unklug sei, sich mit einem Manne zu erzürnen, der fünfzigtausend Franken an seinem kleinen Finger trug.

»Mein Herr,« sagte sie, »da dieser arme Coco Sie stört, werde ich ihn in die hinteren Zimmer setzen, dann können Sie ihn nicht mehr hören.«

Der Engländer begnügte sich, ein zufriedenes Gesicht zu machen. Dann rief er, indem er auf seine Stiefel wies: »Ueit lieber hätten ich ...«

»Seien Sie unbesorgt«, sagte Dolores. »In dem Zimmer, wo ich ihn hinsetze, kann er unmöglich Eure Lordschaft stören.«

Als nun Mr. Birn'n sich anschickte, mit einem flüchtigen Gruß Dolores zu verlassen, nahm diese, die niemals ihre Interessen aus den Augen ließ, ein kleines Paket von einem Ziertischchen und sagte:

»Mein Herr, ich habe heute abend im Theater eine Benefizvorstellung, ich spiele in drei verschiedenen Stücken. Darf ich Ihnen einige Logenplätze anbieten? Die Preise sind nicht erhöht worden.«

Und sie drückte dem Engländer zehn Logenkarten in die Hände. »Nachdem ich so nett zu ihm war,« dachte sie, »kann er es mir nicht abschlagen. Und wenn er mich in meinem Rosakostüm sieht, wer weiß? Hinter einem solchen Ring steckt sicher eine Million! Er ist zwar häßlich und sehr langweilig, aber vielleicht kann ich so einmal, ohne seekrank zu werden, nach England kommen.«

Der Engländer nahm die Billette, ließ sich noch einmal sagen, wozu sie bestimmt waren, und fragte nach dem Preis.

»Jede Loge kostet sechzig Franken. Es sind zehn Karten ... aber die Sache drängt nicht. Ich hoffe, daß Sie als Nachbar mir von Zeit zu Zeit die Ehre erweisen, mich zu besuchen.«

»Ich nicht lieben Schulden«, antwortete Mr. Birn'n, und nahm einen Tausendfrankschein aus seiner Brieftasche, den er auf den Tisch legte, während er die Karten in seine Tasche gleiten ließ.

»Ich werde Ihnen herausgeben«, sagte Dolores und öffnete ein kleines Schränkchen, in dem sie ihr Geld aufbewahrte.

»O nein,« rief der Engländer, »das sein für Trinkgeld.« Und er ging hinaus.

»Trinkgeld!« schrie Dolores wütend. »Solch ein Flegel! Ich werde ihm das Geld zurückschicken.«

Aber die Grobheit ihres Nachbarn hatte sie nur oberflächlich gekränkt. Beim Nachdenken beruhigte sie sich. Tausend Franken waren nicht zu verachten, und sie erinnerte sich, daß sie schon Unverschämtheiten zu billigerem Preis hingenommen hatte.

»Ach was,« sagte sie sich, »man muß nicht so stolz sein. Niemand ist dabeigewesen, und heute habe ich die Rechnung meiner Wäscherin. Außerdem spricht dieser Engländer ein so schlechtes Französisch, daß er vielleicht nur ein Kompliment hat machen wollen.«

Und Dolores steckte fröhlich das Geld ein.

Aber des Abends nach dem Theater kam sie wütend nach Hause. Mr. Birn'n hatte von den Karten keinen Gebrauch gemacht, und die Logen waren leer geblieben. Als sie um halb eins auftrat, las die unglückliche Benefiziantin auf den Gesichtern ihrer Kolleginnen die Freude, die sie empfanden, weil die besseren Plätze so leer waren. Sie mußte allerlei spöttische und mitleidige Bemerkungen anhören, und als sie zu Hause angekommen war, öffnete sie, obgleich es schon späte Nacht war, das Fenster und weckte Coco und damit zugleich den Engländer, der längst im Vertrauen auf das erhaltene Versprechen sanft entschlummert war.

Von diesem Tage an war der Krieg zwischen der Künstlerin und dem Engländer erklärt, ein Krieg bis zum äußersten, ohne Pardon und Waffenstillstand, wobei die beiden Gegner vor keinen Kriegskosten zurückschreckten. Der Papagei bekam besonderen Unterricht im Englischen und schrie den ganzen Tag in seiner schrillsten Stimme wilde Beschimpfungen gegen seinen Nachbarn heraus. Es war eine ganz unerträgliche Sache, und Dolores selbst litt darunter. Aber sie hoffte von einem Tag zum andern, daß Mr. Birn'n ausziehen werde. Der Insulaner seinerseits erfand alle Arten von Teufelswerk, um sich zu rächen. Er hatte zuerst eine Trommlerschule in seinem Salon gegründet, aber der Polizeikommissar hatte es verboten. Mr. Birn'n, der allmählich immer erfindungsreicher wurde, errichtete jetzt einen Pistolenschießstand, auf dem sich seine Dienerschaft den ganzen Tag betätigen mußte. Als auch hierüber der Kommissar einschritt und ihm einen Paragraphen der städtischen Verordnungen vorwies, wonach der Gebrauch von Schußwaffen in den Häusern verboten war, gab Mr. Birn'n die Feuerschlacht auf. Aber acht Tage später bemerkte Fräulein Dolores, daß es in ihren Zimmern regnete. Der Hauseigentümer eilte zu Mr. Birn'n, den er gerade dabei traf, wie er in seinem Salon ein Seebad nehmen wollte. Die Wände dieses ziemlich großen Zimmers waren mit Metall ausgeschlagen, und in das Wasser, mit dem das so hergestellte Bassin angefüllt war, hatte man eine Menge Salz hineingeschüttet. Es war ein richtiger kleiner Ozean, in dem sogar Fische herumschwammen. Durch eine Öffnung, die in dem oberen Getäfel einer Tür angebracht war, stieg dann Mr. Birn'n täglich in sein Bad. Nach einiger Zeit drang natürlich die Feuchtigkeit in die darunter liegende Wohnung, und Dolores hatte einen halben Zoll Wasser in ihrem Schlafzimmer stehen.

Der Hausbesitzer wurde wütend und bedrohte Mr. Birn'n mit einer Entschädigungsklage.

»Haben ich nicht den Recht«, fragte der Engländer, »zu baden in meiner Wohnung?«

»Nein, mein Herr.«

»Wenn ich nicht haben den Recht, dann ist gut«, sagte der Engländer, der die Gesetze des Landes, in dem er wohnte, wohl zu schätzen wußte. »Schade, es mir machte viel Vergnügen!«

Und am selben Tage gab er den Befehl, seinen Ozean abzulassen. Es war die höchste Zeit, denn es hatte sich schon eine Austernbank auf dem Boden gebildet.

Natürlich gab Mr. Birn'n den Kampf nun durchaus nicht auf und suchte nach einem legalen Mittel zur Fortsetzung dieses eigenartigen Krieges, der, da er nicht nur in Theaterkreisen, sondern auch in weiteren Kreisen bekanntgeworden, das Entzücken des ganzen müßigen Paris bildete. Aber auch Dolores hielt sich durch ihre Ehre gebunden, siegreich aus einem Kampfe hervorzugehen, über den bereits Wetten abgeschlossen waren.

Schließlich war Mr. Birn'n auf das Klavier verfallen, und das war gar nicht so dumm von ihm, denn das abscheulichste aller Instrumente kämpfte jetzt gegen den abscheulichsten aller Vögel. Sobald der Engländer diesen Plan erfaßt hatte, ging er auch an die Ausführung. Er mietete ein Klavier und bestellte sich einen Klavierspieler, der dann niemand anders war als Herr Schaunard. Der Engländer erzählte ihm ausführlich, welchen Ärger er wegen des Papageis schon gehabt und was er alles getan hatte, um die Schauspielerin zum Nachgeben zu bringen. »Nun bin ich auf folgendes verfallen«, sagte Mr. Birn'n. »Die Schauspielerin und ihre Tier schlafen bis Mittag. Ich werden ihnen die Schlaf verderben. Das Gesetz dieses Landes erlauben zu machen Musik von Morgen bis Abend. Verstehen Sie, uas ich wollen von Ihnen?«

»Aber«, warf Schaunard ein, »das wäre nicht einmal unangenehm für die Schauspielerin, wenn sie mich den ganzen Tag spielen hörte, und dazu noch gratis. Ich bin ein erstklassiger Künstler, und wenn ich nur eine angegriffene Lunge hätte ...«

»Oh, oh,« unterbrach ihn der Engländer. »Ich sage Ihnen ja auch nicht, zu machen ausgezeichneter Musik. Ich sage nur zu machen tapp tapp auf die Klavier. So etwa ...« Damit versuchte der Engländer eine Tonleiter zu spielen. »Und immer, immer dieselbe Sache, ohne Erbarmen, Herr Musiker, immer die Tonleiter. Ich verstehen ein wenig die Medizin, das machen verrückt. Sie werden verrückt da unten, das rechnen ich bestimmt. Los, mein Herr, beginnen Sie sofort. Ich bezahlen Sie gut!«

»Und auf diese Weise«, sagte Schaunard zu seinen Freunden, nachdem er ihnen diese ganze Geschichte erzählt hatte, »übe ich jetzt seit vierzehn Tagen meinen Beruf aus. Immer dieselbe Tonleiter von fünf Uhr morgens bis zum Abend. Es ist das ja eigentlich keine wirkliche Kunst, aber was wollt ihr, Kinder, der Engländer bezahlt mir für mein Hämmern zweihundert Franken den Monat. Und ich müßte mein eigener Henker sein, wenn ich das zurückwiese. Ich habe angenommen, und in zwei oder drei Tagen gehe ich mein erstes Monatsgehalt abheben.«

Infolge dieser gegenseitigen Geständnisse kamen die drei Freunde überein, das bevorstehende Hereinströmen von Geld zu benutzen, um ihren Geliebten die Frühlingskleider zu kaufen, nach der sich die Eitelkeit einer jeden schon lange gesehnt hatte. Man beschloß übrigens, daß derjenige, der sein Geld zuerst abhebe, auf die andern warten sollte, damit die Anschaffungen zugleich gemacht würden und die drei Damen gemeinsam das Vergnügen genössen, eine neue Haut anzuziehen, wie sich Schaunard ausdrückte.

Zwei oder drei Tage nach dem Konzil eröffnete Rudolf den Reigen. Sein dentologisches Gedicht war fertig, und er erhielt achtzig Franken. Zwei Tage später erhob Marcel bei Medici das Honorar für achtzehn Korporalporträte, jedes zu sechs Franken.

Marcel und Rudolf hatten alle Mühe, vor der Welt den Besitz ihres Geldes zu verheimlichen.

»Mir ist es, als schwitzte ich Gold«, sagte der Dichter.

»Mir geht es geradeso«, meinte Marcel. »Wenn Schaunard noch lange macht, kann ich unmöglich meine Rolle eines anonymen Krösus weiter fortführen.«

Aber am nächsten Tag sahen die Zigeuner Schaunard in einem goldgelben Nankingrock ankommen.

»Ach, du lieber Gott«, rief Euphemia, als sie ihren Geliebten so elegant gekleidet sah. »Wo hast du diesen Rock gefunden?«

»Zwischen meinen Noten«, antwortete der Musiker und gab seinen Freunden ein Zeichen, daß sie ihm folgen sollten. »Ich habe es abgehoben«, sagte er, als sie allein waren. »Hier sind die Geldrollen.« Und er wies auf eine Handvoll Goldstücke.

»Schön«, rief Marcel. »Los! Plündern wir die Läden. Dudelsack wird glücklich sein.«

»Und Mimi erst!« fügte Rudolf hinzu. »Los, kommst du nicht mit, Schaunard?«

»Gestattet mir eine Erwägung«, erwiderte der Komponist. »Wenn wir diese Damen mit tausend Modelaunen überschütten, dann begehen wir vielleicht eine Torheit. Denkt einmal nach! Wenn sie den Modekupfern des ›Regenbogen‹ gleichen, fürchtet ihr dann nicht, daß dieser Luxus einen beklagenswerten Einfluß auf ihren Charakter ausübt? Und brauchen junge Männer wie wir die Frauen so zu behandeln, als wären wir hinfällige und lächerliche Lebegreise? Ich mache mir gewiß nichts daraus, vierzehn oder achtzehn Franken zu opfern, um Euphemia ein neues Kleid zu verschaffen, aber ich fürchte, wenn sie einen neuen Hut aufhat, dann wird sie mich vielleicht nicht mehr grüßen. Eine Blume im Haar steht ihr wunderschön! Wie denkst du darüber?« Mit dieser Frage wandte er sich an Colline, der inzwischen eingetreten war.

»Die Undankbarkeit ist die Tochter der Wohltat«, sagte der Philosoph.

»Auf der anderen Seite,« fuhr Schaunard fort, »wenn eure Geliebten elegant gekleidet sind, wie werdet ihr dann in euren abgetragenen Anzügen an ihrer Seite aussehen? Man wird euch für ihre Kammerzofen halten. Ich sage das nicht in bezug auf mich,« unterbrach sich Schaunard und spreizte sich in seinem Nankingrock, »denn ich kann mich, Gott sei Dank, jetzt überall sehen lassen.«

Aber trotz dieser geistvollen Opposition Schaunards wurde endgültig beschlossen, daß am nächsten Morgen zugunsten der Damen die Läden in der Nachbarschaft geplündert werden sollten.

Und wirklich erstiegen am nächsten Morgen, es war an demselben, als Fräulein Mimi beim Erwachen sehr erstaunt die Abwesenheit Rudolfs bemerkte, der Dichter und seine beiden Freunde die Treppen des Hauses, begleitet von einem Laufburschen der Zwei Affen und von einer Modistin, die mit Modellen bepackt war. Schaunard, der das famose Jagdhorn gekauft hatte, ging voraus und blies den Einzugsmarsch.

Mimi, die im Zwischenstock wohnte, rief ihre beiden Freundinnen, und sie kamen auf die Nachricht, daß man ihnen Hüte und Kleider brächte, wie Lawinen herabgestürzt. Als die drei Frauen all diesen ganzen armseligen Reichtum vor sich ausgebreitet sahen, wären sie vor Freude fast verrückt geworden. Mimi begann in einem Heiterkeitsanfall durch das Zimmer zu tanzen und ließ eine kleine Baregeschürze in der Luft herumflattern. Dudelsack hatte sich Marcel an den Hals geworfen. Sie hielt in jeder Hand einen zierlichen, grünen Schuh und schlug sie wie Zimbeln gegeneinander. Euphemia betrachtete tränenüberströmt Schaunard und konnte nur schluchzen: »Ach, mein Alexander, mein Alexander!«

Nachdem der erste Freudentaumel vorüber, die Auswahl getroffen und alles bezahlt war, kündigte Rudolf den drei Frauen an, sie müßten sich einrichten, ihre neuen Kleider am nächsten Tage fertig zu haben.

»Wir machen eine Landpartie«, sagte er.

»Kleinigkeit!« schrie Fräulein Dudelsack. »Das ist nicht das erstemal, daß ich an einem Tage mir einen Stoff gekauft, das Kleid genäht und es schon getragen habe. Und wir haben ja auch noch die Nacht. Wir werden fertig sein, nicht wahr, meine Damen?«

»Wir werden fertig sein!« schrien Mimi und Euphemia aus einem Mund.

Sofort machten sie sich an die Arbeiten und ließen sechzehn Stunden lang weder Schere noch Nadel im Stich.

Der folgende Tag war der erste Mai. Die Osterglocken hatten vor einigen Tagen den neu erwachten Frühling eingeläutet, und auf allen Wegen kam er eilig und freudig herbei. Er malte den Himmel blau, die Bäume grün und gab allen Dingen die schönsten Farben. Er weckte die Sonne auf, die hinter Nebel und Schnee geschlafen hatte, die stolz und wunderbar herankam. Und die Schwalben kamen, die Blumen blühten, und die Menschen wurden jung und fröhlich.

Als auf der nahen Kirche zum Angelus geläutet wurde, standen die drei fleißigen Koketten, die kaum ein paar Stunden hatten schlafen können, schon vor ihrem Spiegel und betrachteten ihre neuen Kleider.

Sie waren alle drei reizend und ganz gleich gekleidet, und auf ihren Gesichtern lag auch der gleiche Widerschein von Zufriedenheit, den die Erfüllung eines langgehegten Wunsches gewährt.

»Ich bin noch nie so zufrieden gewesen«, sagte Mimi zu ihrem Geliebten. »Mir ist, als habe der liebe Gott alles Glück meines Lebens in diese Stunde gelegt, und ich fürchte, es möchte mir nichts mehr für die Zukunft bleiben. Ach was, wenn nichts mehr da ist, bleibt doch immer noch was. Wir haben ja das Rezept dazu«, fügte sie hinzu, indem sie Rudolf umarmte.

Euphemia hatte einen Kummer. »Ich liebe so die grüne Natur und die kleinen Vögel«, sagte sie. »Aber auf dem Lande trifft man gar keine Menschen, und niemand kann meinen hübschen Hut und mein schönes Kleid bewundern. Wenn doch das Land auf dem Boulevard läge!«

Um acht Uhr morgens wurde die ganze Straße in Bewegung gesetzt durch die Hornfanfaren, mit denen Schaunard das Zeichen zum Abmarsch gab. Alle Nachbarn lagen in den Fenstern, um den Auszug der Zigeuner zu sehen. Colline, der das Fest mitmachte, ging hinterher und trug die Sonnenschirme der Damen. Eine Stunde später befand sich die lustige Gesellschaft inmitten der Gefilde von Fontenay-aux-Roses.

Als sie des Abends ziemlich spät wieder zu Hause anlangten, erklärte Colline, der den Tag über das Amt eines Schatzmeisters ausgeübt hatte, daß man vergessen hätte, sechs Franken auszugeben, und legte das Überbleibsel auf den Tisch.

»Was sollen wir damit anfangen?« fragte Marcel.

»Wir wollen uns doch Staatspapiere dafür kaufen«, schlug Schaunard vor.


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