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Es war kurze Zeit, nachdem der Dichter Rudolf und das junge Fräulein Mimi einen gemeinsamen Hausstand begründet hatten. Seit ungefähr acht Tagen beunruhigte sich der Zigeunerkreis sehr über das Verschwinden Rudolfs, der einfach unauffindbar war. Man hatte an allen Orten, wo er jemals gewesen war, nach ihm gefragt und überall die gleiche Antwort erhalten:
»Nein, seit acht Tagen haben wir ihn nicht mehr gesehen.«
Vor allem befand sich Gustav Colline in einer großen Unruhe, und er hatte auch einen gewissen Grund dazu. Einige Tage vorher hatte er nämlich Rudolf einen hochphilosophischen Artikel anvertraut, den der Dichter unter der Rubrik ›Vermischtes‹ im ›Castor‹, der Monatsschrift für das elegante Hutgewerbe, deren Chefredakteur er war, abdrucken wollte. War dieser hochphilosophische Artikel inzwischen vor den Augen des erstaunten Europas erschienen? Immer wieder stellte sich der unglückliche Colline diese Frage, die um so verständlicher war, da er bisher noch ungedruckt durchs Leben ging und sich vor Verlangen verzehrte, einmal zu sehen, wie sich seine Gedanken elegant gedruckt ausnehmen würden. Er hatte sechs Franken für Eintrittsgelder zu den verschiedenen Lesesälen von Paris ausgegeben, ohne irgendwo den ›Castor‹ zu finden, und schwur sich jetzt, keine Minute mehr zu ruhen, ehe er nicht den verlorenen Redakteur dieser Zeitschrift gefunden hätte.
Mit Hilfe von einigen Glückszufällen erfuhr der Philosoph schon nach zwei Tagen die Wohnung Rudolfs und beeilte sich, sie des Morgens um sechs Uhr aufzusuchen.
Rudolf wohnte in einem Logierhaus einer stillen Nebenstraße des Faubourg Saint Germain, und zwar in der fünften Etage, weil es keine sechste gab. Als Colline die Tür gefunden hatte, steckte kein Schlüssel darin, und er klopfte zehn Minuten lang, ohne daß jemand von innen antwortete. Der Lärm lockte schließlich den Portier hervor, der Colline aufforderte, ruhig zu sein.
»Sie sehen doch, daß der Herr noch schläft«, sagte er.
»Eben darum will ich ihn aufwecken«, erwiderte Colline und klopfte von neuem.
»Aber er will Ihnen doch nicht antworten«, fuhr der Portier fort und stellte vor Rudolfs Tür ein Paar Lackstiefel und ein Paar Damenstiefel hin, denen er neuen Glanz gegeben hatte.
»Halt einmal«, sagte Colline, indem er sich das doppelte Lackstiefelpaar ansah. »Ich muß mich doch getäuscht haben, das kann nicht die richtige Tür sein, hier wohnt nicht Herr Rudolf.«
»Entschuldigen Sie, der Herr wohnt hier!«
»Lieber Freund, dann haben Sie sich aber mit den Stiefeln geirrt!«
»Durchaus nicht,« sagte der Portier, »dies sind die Stiefel des Herrn Rudolf und seiner Dame.«
»Seiner Dame!« rief Colline verblüfft. »Ah, dieser Lüstling! Also deshalb will er nicht aufmachen! Na, ich werde später wiederkommen, ich weiß ja jetzt, wo er wohnt.«
Und er machte sich eilends davon, um seinen Freunden die große Neuigkeit mitzuteilen. Die Lackstiefel Rudolfs wurden allgemein für Fabeln gehalten, die nur in der überstarken Phantasie Collines existierten, und auch die angebliche Geliebte erklärte man einstimmig für eine Unmöglichkeit.
Aber diese Unmöglichkeit stellte sich doch als Wirklichkeit heraus, indem nämlich Marcel des Abends einen an sämtliche Freunde gerichteten Brief erhielt, der folgendermaßen lautete:
»Das Schriftstellerehepaar Rudolf beehrt sich, die Herrschaften für morgen abend pünktlich um fünf Uhr zum Diner einzuladen N.B. Es sind Teller da.«
»Meine Herren,« sagte Marcel, indem er das Schreiben vorlas, »die Nachricht bestätigt sich, Rudolf hat wirklich eine Geliebte. Noch mehr, er lädt uns zum Diner ein, und die Nachschrift verspricht Tafelgeschirr. Ich verhehle Ihnen nicht, daß ich diese letztere Bemerkung für eine dichterische Übertreibung halte, doch das werden wir ja sehen.«
Am nächsten Tage begaben sich Marcel, Gustav Colline und Alexander Schaunard, ausgehungert wie am letzten Fastentag, zur festgesetzten Zeit zu Rudolf, den sie dabei antrafen, wie er mit einer rötlichen Katze spielte, während eine junge Frau den Tisch deckte.
»Meine Herren,« sagte Rudolf, indem er seinen Freunden die Hand drückte und auf die junge Frau hinwies, »gestatten Sie mir, daß ich Ihnen die Herrin des Hauses vorstelle. Mimi, dies sind meine besten Freunde, und nun trage die Suppe auf.« »Oh, meine Gnädigste,« sagte Alexander Schaunard, sich auf Mimi stürzend, »Sie sind frisch wie eine Blume im Felde!«
Nachdem er sich dann überzeugt hatte, daß wirklich Teller vorhanden waren, erkundigte er sich, was es zu essen gäbe. Er trieb sogar seine Neugierde so weit, daß er die Deckel von den Kesseln hob, in denen das Essen kochte. Der Anblick eines Hummers machte auf ihn einen tiefen Eindruck.
Colline dagegen hatte Rudolf beiseite gezogen und erkundigte sich nach seinem philosophischen Artikel.
»Mein Lieber, er ist im Druck. Der ›Castor‹ erscheint nächsten Donnerstag.«
Worauf der Philosoph beinahe einen Freudentanz veranstaltet hätte.
»Meine Herren,« sagte Rudolf zu seinen Freunden, »ich muß um Verzeihung bitten, weil ich solange nichts von mir hören ließ, aber ich befand mich in den Flitterwochen.« Und er erzählte die Geschichte seiner Verbindung mit diesem reizenden Geschöpf, das ihm als Mitgift ihre achtzehneinhalb Jahre, zwei Porzellantassen und eine rötliche Katze mitgebracht hatte, die ebenso wie sie selbst Mimi hieß.
»Meine Herren,« fuhr Rudolf fort, »beginnen wir nunmehr unser Hochzeitsessen. Ich kündige Ihnen übrigens an, daß es nur bürgerlich zugehen wird. Trüffeln können wir Ihnen nicht bieten, wohl aber die größte Herzlichkeit.«
In der Tat herrschte bald eine herzliche Stimmung an dem kleinen Tisch, und wenn das Essen auch einfach war, so hatte es doch einen gewissen Stil. Rudolf hatte sich tatsächlich angestrengt und Colline, der bemerkte, daß sogar die Teller gewechselt wurden, feierte Mimi als Göttin des Kochherdes.
Vor allem erregte der Hummer eine allgemeine Bewunderung. Unter dem Vorwande, er habe Tierkunde studiert, verlangte Schaunard, ihn selbst zerlegen zu dürfen. Hierbei zerbrach er ein Messer und gab sich selbst das größte Stück, was bei allen Teilnehmern tiefen Unwillen erregte. Aber Schaunard besaß keine Spur von Empfindlichkeit, und als noch ein Stück übrigblieb, legte er es ruhig beiseite und sagte, er wolle es als Modell für ein Stilleben benutzen, an dem er gerade zu malen vorgab.
Colline sparte seine Sympathie für das Dessert auf und weigerte sich hartnäckig, sein Stück Rumtorte gegen eine Eintrittskarte zu der Orangerie in Versailles umzutauschen, was ihm Schaunard vorschlug.
Die Unterhaltung begann sich jetzt zu beleben. Auf drei rotgesiegelte Flaschen folgten drei grüngesiegelte, in deren Mitte bald noch eine andere eintrat, die am Hals mit Silberpapier umwickelt war. Es war ein nicht gerade echter Champagner, wie er in Paris für zwei Franken die Flasche verkauft wurde. Aber die Zigeuner nahmen ihn doch als authentischen Sekt an, und obgleich der Pfropfen nicht gerade mit besonderer Lebhaftigkeit entwich, gerieten sie in Ekstase, als sie die Menge Schaum sahen. Schaunard benutzte den Rest seiner Nüchternheit, um irrtümlich auch das Glas Collines auszutrinken, denn der Philosoph, der gerade sein Stück Biskuit in das Senfglas tunkte, war im übrigen ganz darin vertieft, Fräulein Mimi den philosophischen Artikel zu erklären, der im ›Castor‹ erscheinen sollte. Plötzlich wurde er dann ganz blaß und bat um Erlaubnis, nach dem Fenster gehen zu dürfen und sich mitten in der Nacht den Sonnenuntergang anzusehen.
»Es ist schade, daß der Champagner nicht in Eis gekühlt war«, sagte Schaunard und versuchte, sein leeres Glas mit dem vollen eines Nachbarn zu vertauschen, was ihm aber nicht gelang.
Colline hatte aufgehört, frische Luft zu schöpfen. Er saß wieder am Tisch und schlug plötzlich Rudolf auf die Schulter. »Morgen ist doch Donnerstag?« fragte er.
»Nein,« antwortete Rudolf, »morgen ist Sonntag.«
»Nein, Donnerstag.«
»Zum Teufel nochmal, morgen ist Sonntag.«
»Ach was, Sonntag«, lallte Colline, und sein Kopf schwankte hin und her. »Nun gerade ist ... Donn ... erstag.«
Dann sank er mit dem Gesicht langsam auf den weichen Käse, der sich auf seinem Teller befand, und schlief ein.
»Was hat er denn mit seinem Donnerstag?« fragte Marcel.
»Ach, jetzt fällt es mir ein«, sagte Rudolf. »Er denkt an seinen Artikel im ›Castor‹. Seht, jetzt spricht er im Schlaf davon!«
Nach dem Essen brachte Fräulein Mimi Kaffee, und die vier Freunde steckten sich ihre Pfeifen an. Aber die Zeit verrann, und es war schon lange Mitternacht vorbei, als Rudolf den andern beizubringen suchte, daß es Zeit zum Aufbruch sei. Aber nur Marcel, der nüchtern geblieben war, erhob sich. Schaunard und Colline jedoch schienen sich für die Nacht festsetzen zu wollen.
»Was soll ich nur machen?« sagte Rudolf zu Marcel. »Ich kann sie doch nicht hierbehalten. Früher ging das, aber jetzt ...«
Dabei schweiften seine Blicke zu Mimi hinüber, deren sanft leuchtende Augen nach einem Alleinsein zu zweien zu verlangen schienen.
»Na, ich weiß schon Rat«, sagte Marcel. »Ich werde sie schon fortbringen. Zunächst Schaunard. Ha! Schaunard!« schrie er laut.
»He? Was ist los?« fragte dieser, der in einem blauen Meer süßester Trunkenheit zu schwimmen schien.
»Wir haben nichts mehr zu trinken und alle Durst.«
»Ja ... wohl«, stammelte Schaunard. »Die Flaschen sind viel zu klein.«
»Wir wollen die Nacht durchhalten«, fuhr Marcel fort. »Aber wir müssen etwas zu trinken holen, ehe die Läden geschlossen werden.« »Gleich an der Ecke wohnt mein Kaufmann«, sagte Rudolf zu Schaunard. »Laß dir auf meine Rechnung zwei Flaschen Rum geben.«
»Jawohl, jawohl, jawohl!« rief Schaunard und zog mit Schaunards Hilfe statt seines eigenen Paletots, den Paletot Collines an. Dann schwankte er hinaus.
»Das wäre der erste!« sagte Marcel. »Jetzt kommt der zweite. He! He! Colline!« schrie er, indem er dem Philosophen einen heftigen Stoß gab.
»Wie? ... Was?«
»Schaunard ist weg und hat aus Versehen deinen braunen Paletot angezogen.«
Colline blickte um sich und sah in der Tat an der Stelle, wo sein Überzieher hängen mußte, den karierten kurzen Rock Schaunards. Plötzlich kam ihm eine beunruhigende Idee. Er hatte an dem Tage auf einem Karren eine finnische Grammatik gekauft, und es steckten außerdem wie gewöhnlich sieben oder acht Bände philosophischen Inhalts darin.
»Meine Bücher!« schrie er ganz entsetzt.
»Beruhige dich, er wird sie nicht lesen«, sagte Rudolf.
»Ja, aber ich kenne ihn. Er ist imstande, sich die Pfeife damit anzustecken.«
»Oh, du kannst ihn noch leicht erwischen«, erwiderte Colline. »Du triffst ihn sicher an der Tür.«
Der Philosoph stülpte sich seinen ungeheuern Hut auf den Kopf und eilte hinaus.
»Und ich,« sagte Marcel zu Rudolf, »will unten dem Portier sagen, daß er nicht wieder öffnet, wenn sie klopfen.«
Als Rudolf seinen Freund an die Tür begleitete, hörte er auf der Treppe ein langgezogenes Miauen, auf das sein Kater mit einem ebensolchen Miauen antwortete.
»Armer Romeo!« sagte Rudolf zu Marcel. »Seine Julia ruft ihn. Los, geh' hin!« rief er, indem er dem verliebten Tier die Tür öffnete. Es stürmte in einem gewaltigen Satz die Treppe hinunter, bis es die zärtlichen Pfoten seiner Geliebten erreicht hatte.
Als Rudolf mit Mimi allein war, die sich vor dem Spiegel in verführerischster Weise ihr Haar löste, näherte er sich ihr und zog sie in seine Arme. Und wie ein Musiker, bevor er sein Stück beginnt, erst eine Akkordfolge anschlägt, um sich von der Klangreinheit seines Instruments zu überzeugen, so setzte Rudolf die junge Mimi auf seine Knie und drückte auf ihre Schultern einen langen und innigen Kuß, der sich in einem Erschauern dem ganzen Körper des blühendfrischen Geschöpfs mitteilte.
Das Instrument war gestimmt.