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Der Maler Marcel und Fräulein Dudelsack hatten eigentlich ihren freien Bund nur infolge einer Laune und ohne jede Herzensregung geschlossen. Aber als sie eines Abends nach einem heftigen Streit übereinkamen, sich zu trennen, und sich schon die Hände zum Abschied reichten, bemerkten sie, daß diese Hände nicht voneinander lassen wollten. Ohne daß sie es wußten, war aus der Laune die Liebe entstanden. Halb lachend gestanden sie es sich ein.
»Das ist eine ernste Geschichte«, sagte Marcel. »Wie, zum Teufel, ist das nur gekommen?«
»Oh,« meinte Fräulein Dudelsack, »wir sind selber schuld, wir hätten vorsichtiger sein müssen.«
»Was gibt es denn?« fragte Rudolf hereintretend. Er wohnte jetzt neben Marcel.
»Was es gibt?« erwiderte dieser. »Nun, diese Dame und ich haben eine nette Entdeckung gemacht. Wir sind nämlich ineinander verliebt. Es muß uns im Schlaf angeflogen sein.« »Oh, im Schlaf, das glaube ich gerade nicht«, meinte Rudolf. »Aber wie kommt ihr zu dem Glauben, daß ihr euch liebt? Vielleicht übertreibt ihr die Gefahr?«
»Zum Henker!« antwortete Marcel. »Wir können uns nicht leiden!«
»Und können uns trotzdem nicht verlassen«, fügte Fräulein Dudelsack hinzu.
»Dann, meine Kinder, ist die Sache klar. Ihr habt ein zu feines Spiel gespielt und alle beide verloren. Genau so war es mit Mimi und mir. Seit fast zwei Jahren zanken wir uns Tag und Nacht. Auf diese Art entstehen die dauerhaftesten Ehen. Na, jetzt wird ja euer Haushalt ein Pendant zu nennen sein, und wenn Schaunard und Euphemia auch ins Haus ziehen, wie sie angedroht haben, dann werden wir hier ja ein hübsches Trio erleben.«
In diesem Augenblick trat Colline herein. Man teilte ihm den Unfall mit, der Fräulein Dudelsack und Marcel zugestoßen war. Colline kratzte den Rand seines Hutes, der ihm wegen seiner Größe als Dach diente, und murmelte: »Ich wußte es schon im voraus. Die Liebe ist eine Lotterie. Wer sich daran reibt, sticht sich. Es ist nicht gut, daß der Mensch allein sei.«
Abends sagte Rudolf zu Mimi: »Weißt du es schon? Fräulein Dudelsack hat sich in Marcel verliebt, sie will ihn nicht mehr verlassen.«
»Das arme Mädchen!« antwortete Mimi. »Sie hat immer einen so gesunden Appetit.«
»Ja, und Marcel ist wieder in sie verschossen. Er betet sie mit einer sechsunddreißigkarätigen Liebe an, wie dieser Halunke Colline sagen würde.«
»Der arme Junge!« sagte Mimi. »Er ist so eifersüchtig!«
»Das ist wahr,« meinte Rudolf, »er und ich sind die reinen Othellos.«
Einige Zeit später vereinigte sich mit den Haushaltungen Rudolfs und Marcels die von Schaunard. Der Musiker zog mit Schminkeuphemia in das Haus ein.
Von diesem Tage an wohnten alle andern Mieter des Hauses auf einem Vulkan, und beim nächsten Termin kündigten sie einstimmig dem Hausbesitzer.
Tatsächlich kam es selten vor, daß einmal ein Tag ohne Lärm in einem der drei Haushaltungen verlief. Einmal waren es Mimi und Rudolf, die sich mit allerlei Wurfgeschossen bombardierten, wenn sie sich mit bloßen Worten nicht einigen konnten; ein andermal machte Schaunard mit dem Ende seines Spazierstocks einige Bemerkungen zu der mißgestimmten Euphemia; dann wieder hatten sich Marcel und Fräulein Dudelsack etwas zu sagen, aber sie nahmen wenigstens die Rücksicht, wenn ihre Diskussionen etwas hitziger wurden, Türen und Fenster zu schließen.
Wenn zufällig einmal Friede in den Haushaltungen herrschte, so waren die andern Mieter nicht weniger die Opfer dieser kurzen Eintracht. Durch die dünnen Wände der Zimmer drangen die intimsten Einzelheiten der Zigeunerehen und verrieten alle ihre Geheimnisse, so daß mancher Mieter lieber den offenen Krieg hatte als die Aussöhnungen des Friedensschlusses.
Es war überhaupt ein sehr seltsames Leben, das jetzt sechs Monate lang hier geführt wurde. Vor allem herrschte die ehrlichste Brüderschaft, die alles teilte, was hereinkam, Gutes und Böses. Es gab Tage des Glanzes, wo man nicht auf die Straße gegangen wäre, ohne Handschuhe anzuziehen, Tage des Schwelgens, an denen von morgens bis abends diniert wurde. Dann kamen andere, an denen man kaum Schuhe an den Füßen hatte, Tage des Fastens, an denen weder des Morgens noch des Abends von einer gemeinsamen Mahlzeit die Rede war und das Tischgeschirr sich ausruhen konnte.
Aber wunderbar! In dieser Gemeinschaft, wo es drei junge und hübsche Frauen gab, entstand unter den Männern nie der geringste Streit. Sie unterwarfen sich manchmal den flüchtigsten Launen ihrer Geliebten, aber nicht einer hätte sich bei der Wahl zwischen der Frau und dem Freund einen Augenblick bedacht.
Seit sechs Jahren kannten sich jetzt die Zigeuner, und dieser lange, in einer täglichen Vertrautheit verbrachte Zeitraum hatte, ohne ihre scharf hervortretenden Unterschiede irgendwie zu verwischen, doch eine ganz ungewöhnliche Harmonie ihres Denkens herbeigeführt. Sie hatten ihre eigenen Sitten und eine besondere Sprache, die ein Fremder schwerlich verstanden hätte. Wer sie nicht genauer kannte, nannte ihr freies Benehmen Zynismus, obgleich es weiter nichts war als Offenheit. Unbedingte Gegner jedes Zwanges, haßten sie alles Falsche und Gemeine, und wenn man ihnen übertriebene Eitelkeit vorwarf, dann entwickelten sie stolz ihre Zukunftspläne. Sie waren sich ihres Wertes bewußt, ohne daß sie ihn überschätzt hätten.
Aber nach sechs Monaten des gemeinsamen Lebens brach plötzlich eine Scheidungsepidemie unter ihnen aus.
Schaunard eröffnete den Reigen. Eines Tages bemerkte er, daß das eine Knie der Schminkeuphemia besser geformt war als das andere, und da er auf dem Gebiete der Plastik dem strengsten Purismus huldigte, so warf er Euphemia hinaus, wobei er ihr als Andenken den Stock gab, mit dem er ihr so manches Mal Bescheid gesagt hatte. Dann zog er eine Weile zu einem Verwandten, der ihm eine Gratiswohnung angeboten hatte.
Vierzehn Tage später verließ Mimi Rudolf, um sich in die elegante Equipage des Vicomte Paul zu setzen, des ehemaligen Schülers von Carolus Barbemuche, denn der Vicomte hatte ihr die wundervollsten Kleider versprochen.
Nach Mimi bewerkstelligte Fräulein Dudelsack ihren Auszug, indem sie mit großem Hallo wieder unter den Aristokratinnen des galanten Lebens auftauchte, die sie verlassen hatte, um Marcel zu folgen.
Diese Trennung ging ohne Streit, ohne Aufregung, ohne vorangegangene Worte vor sich. Wie ihre Liebe durch eine Laune entstanden war, so kam auch durch eine andere Laune der Bruch.
Es war eines Abends im Karneval, als Fräulein Dudelsack mit Marcel den Maskenball der Großen Oper besuchte. Zufällig stand ihr beim Maskenball ein junger Mann gegenüber, der ihr früher einmal den Hof gemacht hatte. Sie erkannten sich und sprachen beim Tanz ein paar Worte zusammen. Ohne es zu wollen, erzählte sie dem jungen Mann von ihrem jetzigen Leben, und daß sie sich nach dem früheren zurücksehne. Diese Sehnsucht war wohl so stark, daß Fräulein Dudelsack sich nach Schluß der Quadrille irrte und, statt Marcel die Hand zu reichen, die Hand ihres Gegenübers ergriff. Er führte sie davon und verschwand mit ihr in der Menge.
Marcel suchte sie mit einiger Unruhe. Er fand sie nach einer Stunde, wie sie am Arm des jungen Mannes aus dem Café der Großen Oper herauskam und lustige Refrains trällerte. Als sie Marcel sah, der mit gekreuzten Armen in einer Ecke stand, winkte sie ihm ein Lebewohl zu und sagte: »Ich komme wieder!«
»Das heißt, Sie brauchen nicht mehr auf mich zu warten«, übersetzte Marcel. Er war eifersüchtig, aber er war vernünftig und kannte seine Geliebte. Er wartete nicht länger, sondern ging nach Hause, allerdings mit schwerem Herzen und leichtem Magen. Im Schrank suchte er nach einigen Überbleibseln und fand ein steinhartes Stück Brot neben dem Skelett eines Räucherherings.
»Gegen seine Trüffeln hätte ich nicht ankämpfen können«, dachte er. »jedenfalls hat sie ein Souper gehabt.« Und nachdem er sich noch einmal mit dem Taschentuch über die Augen gefahren war, ging er zu Bett.
Zwei Tage später erwachte Fräulein Dudelsack in einem rosafarbenen Boudoir. Ein blaues Coupé wartete vor ihrer Tür, und alle Feen der Mode, die eigens herbeigerufen waren, legten ihr ihre Wunder zu Füßen. Fräulein Dudelsack sah entzückend aus und schien noch jugendlicher geworden zu sein in dieser eleganten Umgebung. Nun begann sie wieder ihr früheres Leben, war auf allen Festen und hatte bald ihren früheren Ruf zurückgewonnen. Überall sprach man von ihr, zwischen den Kulissen der Börse wie in den Wandelgängen des Parlaments. Und ihr neuer Geliebter, Herr Alexis, war ein reizender junger Mann. Manchmal beklagte er sich bei seiner Geliebten, weil er sie etwas gleichgültig und kalt fand, wenn er ihr von seiner Liebe sprach. Aber dann sah sie ihn lachend an und tätschelte ihm die Hand.
»Was wollen Sie, mein Lieber?« sagte sie zu ihm. »Ich habe sechs Monate bei einem Manne ausgehalten, der mich mit Salat und Wassersuppe ernährte und mir ein Baumwollkleid gab. Das einzige, was nichts kostete, war die Liebe, und da ich sehr in ihn vernarrt war, haben wir viel Liebe verschwendet. Mir bleiben jetzt nur die Krümchen vom Kuchen; sammeln Sie sie auf, ich hindere Sie nicht. Im übrigen habe ich Ihnen nichts verhehlt, und wenn die seidenen Bänder nicht so teuer wären, säße ich jetzt noch bei meinem Maler. Was mein Herz angeht, das höre ich kaum noch schlagen, seit es in einem Korsett von achtzig Franken steckt. Ich fürchte sogar, ich habe es in einer Schublade bei Marcel liegen lassen.«
Das Verschwinden der drei Zigeunerhaushaltungen veranlaßte ein Fest in dem Hause, wo sie gewohnt hatten. Als Zeichen seiner Freude gab der Eigentümer ein großes Diner, und die Mieter illuminierten.
Rudolf und Marcel bezogen eine gemeinsame Wohnung. Sie hatten jeder ein Ideal, das sie aber nicht beim Namen nannten. Nur manchmal sprachen sie von ihrem vergangenen Leben und erinnerten sich an die Lieder, die Fräulein Dudelsack und Fräulein Mimi gesungen hatten, an die Mondscheinnächte, an die im Schlaf verbrachten Vormittage und die im Traum genossenen Diners. Und dann fühlten sie, ohne daß sie es auszusprechen wagten, wie sehr sie diese verschwundenen Geschöpfe geliebt hatten, mit denen vielleicht das schönste Stück ihrer Jugend dahingegangen war.
Eines Abends bemerkte Marcel, als er über den Boulevard schlenderte, einige Schritte vor ihm eine Dame, die beim Aussteigen aus einem Wagen ein so entzückendes Bein zeigte, daß selbst der Kutscher diesen Anblick als ein reizendes Trinkgeld mit den Augen verschlang. »Alle Achtung!« sagte Marcel. »Das ist ja ein wundervolles Bein. Dem möchte ich einmal gern den Arm anbieten. Machen wir uns heran!«
»Verzeihen Sie, meine Gnädigste«, sagte er, indem er sich der Unbekannten näherte, deren Gesicht er nicht sogleich sehen konnte. »Haben Sie nicht zufällig mein Taschentuch gefunden?«
»Gewiß, mein Herr, hier ist es«, antwortete die junge Frau und überreichte Marcel ein Taschentuch, das sie in der Hand trug.
Der Maler war vollständig verblüfft. Dann aber ließ ihn ein lauter Ausbruch des Lachens wieder zu sich kommen, und er erkannte an dieser lustigen Fanfare seine frühere Geliebte. Es war Fräulein Dudelsack.
»Ah,« schrie sie, »Herr Marcel geht auf Abenteuer aus, das ist aber lustig! Was wolltest du noch so spät in dieser Gegend?«
»Ich gehe in dieses Gebäude«, sagte er und wies auf ein Theater, wo er freien Eintritt hatte. »Sie sind übrigens sehr neugierig!« fügte er etwas unwirsch hinzu.
»Und Sie sehr geistvoll«, sagte die junge Dame. »Außerdem sollten Sie nicht so laut sein, alle Welt hört uns und hält uns für ein Liebespaar, das sich zankt.«
»Das wäre nicht das erstemal, daß uns das passierte«, warf Marcel ein.
Fräulein Dudelsack fühlte eine Herausforderung in diesen Worten und antwortete schnell: »Und es wird auch nicht das letztemal sein, nicht wahr?« Das Wort war deutlich genug.
»Ihr Himmelslichter«, sagte er, indem er seine Augen zu den Sternen erhob. »Ihr seid Zeugen, daß ich nicht angefangen habe. Schnell meinen Panzer um!«
Damit war das Feuer eröffnet.
Es handelte sich jetzt nur noch darum, einen schicklichen Weg zu finden, auf dem sich ihre beiderseitigen Neigungen, die so plötzlich wieder erwacht waren, vereinigen konnten.
Während sie nebeneinander gingen, betrachteten sie sich gegenseitig. Sie sprachen nicht, aber ihre Augen, diese Bevollmächtigten des Herzens, trafen sich oft, und nach Verlauf von einer Viertelstunde hatte dieser Kongreß von Blicken den Streit stillschweigend geschlichtet. Man brauchte jetzt den Frieden nur zu unterzeichnen.
Fräulein Dudelsack war es, die zuerst das Schweigen brach. »Ehrlich gestanden,« fragte sie, »wo wolltest du jetzt hin?«
»Ich wollte eine junge Dame treffen.«
»Ist sie hübsch?«
»Ihr Mund ist ein Nest des Lächelns.«
»Den Ausdruck kenne ich schon bei dir.«
»Aber du,« fragte Marcel, »woher kamst du auf den Flügeln dieser Droschke?«
»Ich habe Alexis zur Bahn gebracht. Er will seine Familie besuchen.«
»Was ist das für ein Mensch, dieser Alexis?«
Fräulein Dudelsack entwarf jetzt ein entzückendes Bild ihres Geliebten, und so gingen sie langsam über den Boulevard und spielten die Komödie ihrer wiedererwachten Liebe. Bald zärtlich, bald spöttisch fügten sie Strophe auf Strophe zu dem Gedicht ihrer Liebe, das sie schon so oft gesungen. Als sie an eine Straßenecke kamen, tauchte plötzlich eine ziemlich starke Patrouille auf.
Fräulein Dudelsack spielte die heftig Erschreckte. Sie klammerte sich am Arm Marcels an und sagte: »O, mein Gott, sieh nur diese Soldaten. Es gibt gewiß wieder revolutionäre Unruhen. Retten wir uns, ich habe eine furchtbare Angst. Bring mich fort.«
»Aber wohin denn?« fragte Marcel.
»Zu mir. Du sollst sehen, wie hübsch es da ist. Wir werden soupieren und uns über Politik unterhalten.«
Aber Marcel dachte an Herrn Alexis. »Nein,« sagte er, »ich gehe nicht hin, trotz des angebotenen Soupers. Ich will meinen Wein nicht aus dem Glas eines andern trinken.«
Sie antwortete nichts auf diese Abweisung. In ihrer Erinnerung tauchte das ärmliche Heim des Malers auf, denn dieser war sicherlich inzwischen kein Millionär geworden. Dann hatte sie eine neue Idee, und indem sie das Auftauchen einer zweiten Patrouille zum Anlaß nahm, heuchelte sie einen neuen Schrecken.
»Man wird schießen«, schrie sie. »Ich wage es nicht, nach Hause zurückzukehren. Marcel, lieber Freund, führe mich zu einer meiner Freundinnen, die in deinem Viertel wohnen muß.«
Als sie den Pont Neuf überschritten, begann Fräulein Dudelsack plötzlich laut zu lachen.
»Was gibt es?« fragte Marcel.
»Nichts!« sagte sie. »Nur, mir fällt ein, meine Freundin ist ja umgezogen. Sie wohnt jetzt in Batignolles.«
Als Rudolf das Liebespaar zärtlich umschlungen ankommen sah, war er durchaus nicht erstaunt.
»Wenn man die Liebe nicht gründlich begräbt,« sagte er, »dann steht sie immer wieder auf!«