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Gegen Ende Dezember erhielt die Post den Auftrag, ungefähr hundert Exemplare eines Schriftstücks auszutragen, das hier in einer wörtlichen Abschrift folgen soll:
Zwei Tage später waren die Exemplare dieses Sendschreibens bis in die untersten Schichten der Literatur und Kunst gedrungen und hatten dort eine tiefe Erregung herbeigeführt.
Immerhin gab es unter den Eingeladenen nicht wenige, die den von den beiden Freunden angekündigten Herrlichkeiten nicht so recht trauen wollten.
»Ich glaube an die ganze Geschichte nicht«, sagte einer der Skeptiker. »Ich habe ein paarmal die Mittwochabende Rudolfs auf der Rue de la Tour d'Auvergne besucht. Zum Sitzen gab es nur an die Wand gemalte Stühle, und als Getränk Wasser nach Belieben.«
»Nein, diesmal wird es ernst«, sagte ein anderer. »Marcel hat mir den Festentwurf gezeigt, der geradezu magische Effekte verspricht.«
»Sind Frauen da?«
»Ja, die Schminkeuphemia will die Königin des Festes werden, und Schaunard soll sogar Damen der Gesellschaft einführen.«
Die Idee zu diesem Fest, das so großes Staunen in den Kreisen des Zigeunertums erregte, lag eigentlich weit zurück, da Marcel und Rudolf schon seit einem Jahr diese pompöse Galafeier angekündigt, aber sie immer wieder von einem Sonnabend auf den andern verschoben hatten. Schließlich konnten sie sich nicht mehr sehen lassen, ohne ironischen Fragen ihrer Freunde zu begegnen, so daß sie endlich, um alle Brücken hinter sich abzubrechen, ihre Einladung zum Vorabend von Weihnachten in die Welt sandten.
»Jetzt bleibt uns nur noch übrig,« sagte Rudolf zu Marcel, »die hundert Franken aufzutreiben, die wir unbedingt für das Fest brauchen.«
»Wir werden sie finden,« sagte Marcel, »weil wir sie finden müssen.«
Aber der Vorabend des Festes kam heran, ohne daß der erwartete Zufall ihnen irgendwelches Geld in den Schoß geschüttet hätte, und sie begannen die Pracht ihres Programms nach und nach zu beschneiden, bis sie schließlich ihren Kostenanschlag auf fünfzehn Franken heruntergebracht hatten.
»Morgen müssen wir Ernst machen mit dem Geldauftreiben, denn absagen können wir nicht mehr«, sagte Rudolf.
»Ausgeschlossen«, stimmte ihm Marcel zu.
»Ich werde meinen Onkel aufsuchen«, fuhr Rudolf fort, »und begeistert seinen Bericht über die Schlacht bei Studzianka anhören. Das bringt mir sicher fünf Franken ein.«
»Und ich«, meinte Marcel, »werde dem alten Medici eine ›Schloßruine‹ verkaufen. Das bringt auch fünf Franken ein, und wenn ich Zeit habe, noch drei Türmchen und eine Mühle hinaufzumalen, vielleicht sogar zehn.«
Am nächsten Morgen standen sie sehr frühzeitig auf. Marcel nahm eine Leinwand und begann eine Schloßruine zu malen, während Rudolf sich anschickte, seinen Onkel Monetti zu besuchen, der auf dem Rückzug aus Rußland die berühmte Schlacht bei Studzianka mitgemacht hatte.
Um zwei Uhr traf Marcel mit einem Gemälde unter dem Arm auf dem Place du Carrousel seinen Freund Rudolf, der von seinem Onkel kam. Beide sahen etwas niedergeschlagen aus.
»Nun,« fragte Marcel, »hast du Erfolg gehabt?«
»Nein, mein Onkel hat einen Ausflug nach Versailles gemacht. Und du?«
»Dieser gemeine Medici will keine Schloßruinen mehr, er hat ein ›Bombardement von Tanger‹ verlangt.«
»Unser ganzer Ruf ist dahin, wenn wir unser Fest nicht geben. Was soll unser Freund, der einflußreiche Kritiker, denken, wenn ich ihn umsonst eine weiße Krawatte und gelbe Handschuhe anziehen lasse?«
In großer Unruhe kamen sie wieder in ihrem Atelier an, gerade als es auf der Uhr eines Nachbarn vier schlug.
»Noch drei Stunden«, sagte Rudolf.
»Aber bist du sicher,« meinte Marcel, »daß hier nirgends mehr Geld liegt. Die Emigranten haben zur Zeit Robespierres ihr Geld in den Möbeln versteckt. Unser Lehnstuhl hat vielleicht einem Emigranten gehört, sollen wir ihn auseinandernehmen?«
»Wahnsinn!« sagte Rudolf verzweifelt.
Aber plötzlich stieß Marcel, der die Ecken des Ateliers durchstöbert hatte, ein lautes Triumphgeschrei aus.
»Wir sind gerettet!« rief er und zeigte seinem Freund eine alte Münze in der Größe eines Fünffrankstücks, die ganz mit Grünspan bedeckt war. Es war ein karolingisches Geldstück, wenigstens wies die glücklich noch erhaltene Jahreszahl auf die Regierungszeit Karls des Großen hin.
»Sie ist sicherlich nicht echt, keine dreißig Sous kriegst du dafür«, sagte Rudolf mit einem verächtlichen Blick auf den Fund seines Freundes.
Mit dreißig Sous läßt sich schon allerlei anfangen«, meinte Marcel. »Jedenfalls will ich ihn Medici anbieten. Hast du sonst nichts mehr? Halt, da ist ja noch der Abguß vom Schienbein des berühmten russischen Tambourmajors Jaconowski, das bringt sicher was.«
»Nimm das Schienbein. Es ist ein Jammer, wie hier ein Kunstgegenstand nach dem andern verschwindet.«
Während Marcel fort war, suchte Rudolf seinen Freund Colline, den transzendentalen Philosophen auf, der ganz in der Nähe wohnte, und entlieh sich halb mit Gewalt den schwarzen Frack.
»Du kannst ja ruhig in Hemdsärmeln kommen«, sagte er. »Man wird dich für einen biederen Hausdiener halten.«
»O nein«, sagte Colline errötend. »Ich werde meinen braunen Paletot anziehen. Aber warte doch,« fügte er hinzu, als er sah, daß sich Rudolf mit dem Frack schon entfernen wollte, »ich habe noch ein paar Kleinigkeiten in den Taschen.«
Die Kleinigkeiten, die darin waren, bestanden in einer Reihe von Quart- und Oktavbänden sehr gelehrter Art, die allein schon den Grundstock zu einer kleinen Bibliothek gebildet hätten.
Als Rudolf nach Hause kam, saß Marcel auf der Erde und spielte mit drei Fünffrankstücken.
»Bei Medici war zufällig ein Münzensammler,« erzählte Marcel, »dem gerade dieses Stück fehlte. Er bot mir sofort fünf Franken. Aber Medici stieß mich an und warf mir einen Blick zu, der ›halbpart‹ bedeutete. Daraus haben wir den Preis bis auf dreißig Franken getrieben, von denen ich ihm leider fünfzehn abgeben mußte. Jetzt dürfen die Eingeladenen kommen, wir können ihnen ungeahnte Genüsse bieten.«
Sofort begannen die beiden Freunde mit den Vorbereitungen. Sie räumten das Atelier auf, machten Feuer an im Kamin, hingen einen mit Kerzen besteckten Bilderrahmen als Kronleuchter an die Decke und stellten einen Tisch in die Mitte des Ateliers, der als Rednertribüne dienen sollte. Davor wurde der einzige Lehnstuhl hingesetzt als Platz für den einflußreichen Kritiker, und auf einem kleineren Tische lagen alle Werke, Romane, Versbücher, Feuilletons, deren Verfasser den Abend mit ihrer Anwesenheit zieren sollten. Um jeden Zusammenstoß zwischen den verschiedenen Arten von Literaten zu verhindern, war im übrigen das ganze Atelier in vier Abschnitte eingeteilt, die jeder mit einem in aller Eile hergestellten Schild versehen waren. Man las darauf:
Versdichter | Romantiker | |
Prosadichter | Klassiker |
Für die Damen war in der Mitte ein Platz vorbehalten.
»Schön,« sagte Rudolf, »aber es fehlen noch Stühle.«
»Es befinden sich ein paar auf dem Treppenabsatz,« meinte Marcel, »aber sie sind an der Wand befestigt. Wir müßten sie losmachen.«
»Natürlich machen wir sie los«, sagte Rudolf und holte die Stühle, die irgendeinem andern Mieter gehörten.
Als es sechs schlug, gingen die Freunde schnell etwas essen und begaben sich dann an die Beleuchtung der Räume. Sie fühlten sich selbst davon geblendet. Um sieben Uhr kam Schaunard mit drei der versprochenen vornehmen Damen. Sie hatten aber vergessen, ihre Diamanten und ihre Hüte mitzubringen. Auf eine, die einen roten Schal mit schwarzem Muster trug, machte Schaunard Rudolf besonders aufmerksam.
»Dies ist eine hochvornehme Dame,« sagte er, »eine Engländerin, die nach dem Sturze der Stuarts ihre Heimat verlassen mußte. Sie ernährt sich ganz bescheiden, indem sie englische Stunden gibt. Wie sie mir erzählt hat, war ihr Vater Lordkanzler unter Cromwell. Du mußt also sehr höflich gegen sie sein. Duze sie nicht zu auffällig.«
Zahlreiche Schritte hörte man jetzt im Treppenhaus, es waren die Eingeladenen, die ankamen. Sie schienen erstaunt zu sein, daß im Kamin Feuer brannte.
Der schwarze Rock Rudolfs näherte sich den Damen, und er küßte ihnen mit der ganzen Anmut eines Grandseigneurs aus der Barockzeit die Hand. Als ungefähr zwanzig Personen anwesend waren, fragte Schaunard, ob jetzt nicht irgendeine Erfrischung gereicht würde.
»Sogleich«, sagte Marcel. »Wir warten nur noch auf die Ankunft des einflußreichen Kritikers, dann wird heißer Punsch gereicht.«
Um acht Uhr waren alle Eingeladenen versammelt, und die Vorführung des Programms konnte beginnen. In den Pausen wurden Getränke dargeboten, deren Zusammensetzung ein Rätsel für alle Zeiten blieb.
Ungefähr um zehn erschien die weiße Weste des einflußreichen Kritikers. Er blieb nur eine Stunde und wußte sich im Trinken sehr zu beherrschen.
Als es um Mitternacht kein Holz mehr gab, begannen die Gäste mit Sitzplätzen in Rücksicht auf die Kälte miteinander zu losen, wer seinen Stuhl ins Feuer werfen sollte.
Um ein Uhr war man so weit, daß alles stehen mußte.
Im übrigen herrschte eine liebenswürdige Heiterkeit unter den Eingeladenen. Kein Zwischenfall störte die Stimmung, außer einer aufgeplatzten Naht in Collines schwarzem Rock und einer Ohrfeige, die Schaunard der Tochter von Cromwells Lordkanzler gab.
Dieser denkwürdige Abend bildete acht Tage lang den Hauptgesprächsstoff in den Kreisen des Zigeunertums, und die Schminkeuphemia, die die Königin des Festes gewesen, pflegte darüber zu ihren Freunden zu sagen:
»Es war hochvornehm, sogar Kerzenbeleuchtung hatten sie.«