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Seit fünf oder sechs Jahren arbeitete Marcel an jenem prächtigen Gemälde, das, wie er behauptete, den Durchzug durch das Rote Meer darstellte, und seit fünf oder sechs Jahren wurde dieses Meisterwerk der Farbe von der Jury hartnäckig zurückgewiesen. Durch die häufigen Wege, die es vom Atelier des Künstlers zur Ausstellung und von der Ausstellung zum Atelier zurückgelegt hatte, kannte es diese Wege so genau, daß es, auf Räder gesetzt, sicherlich ganz allein sich zum Louvre gefunden hätte. Marcel, der die Leinwand wohl zehnmal vollständig umgemalt hatte, schrieb das Scherbengericht, das ihn immer wieder vom Salon ausschloß, einer persönlichen Feindschaft der Jurymitglieder zu, und er hatte seine Mußestunden dazu benutzt, zu Ehren der Zerberusse des Instituts ein kleines Schimpfwörterbuch mit wilden und boshaften Illustrationen anzulegen. Diese Sammlung hatte in den Ateliers und auf der Kunstschule einen großen Erfolg, und es gab keinen Pariser Maler, der es nicht kannte.
Lange Zeit hindurch hatte sich Marcel durch die hartnäckigen Zurückweisungen, die ihn bei jeder Ausstellung trafen, nicht entmutigen lassen. Nach seiner Ansicht war das Gemälde ein Meisterwerk, das schon eines Tages seinen Weg machen würde. Darum schickte er es auch immer wieder von neuem ein. Um die Kunstrichter irrezuführen und ihrem Vorurteil gegen den ›Durchzug durch das Rote Meer‹ die Spitze abzubrechen, änderte er einige Nebendinge, ohne die Gesamtkomposition umzuarbeiten, und gab dem Bild einen ganz neuen Titel.
Einmal kam es bei der Jury als ›Übergang über den Rubikon‹ an, aber man erkannte den Pharao wieder, trotzdem ihm der Mantel des Cäsar übergeworfen war, und das Gemälde wurde mit allen gebührenden Ehren zurückgewiesen.
Im nächsten Jahr überzog Marcel eine Fläche seiner Leinwand mit einer weißen Farbschicht, die Schnee darstellen sollte, pflanzte eine Fichte in eine Ecke und kleidete einen Ägypter zu einem Grenadier der kaiserlichen Garde um. Das Bild hieß jetzt: ›Übergang über die Beresina.‹
Aber die Jury, die gerade an diesem Tage sich den Staub von der Brille gewischt hatte, fiel nicht auf diese neue List herein. Sie erkannte sofort die hartnäckige Leinwand wieder, besonders an einem großen, buntfarbigen Teufelspferd, das sich vor einer gewaltigen Woge des Roten Meeres aufbäumte, und auch der ›Übergang über die Beresina‹ verfiel der Ablehnung.
»Schön,« sagte Marcel, »ich werde warten. Nächstes Jahr schicke ich es unter dem Titel: ›Durchgang durch die Gemäldeausstellung‹.«
»Sie werden sehr getroffen sein ... getroffen sein ... getroffen sein«, sang der Komponist Schaunard nach einer neu verfaßten Melodie, die aus einer Tonleiter von Donnerschlägen geschaffen schien und in ihrer Begleitung sämtliche Klaviere der Nachbarschaft seekrank gemacht hatte.
»Wie können sie«, murmelte Marcel, »ein solches Werk zurückweisen, ohne daß die Scharlachfarbe des Roten Meeres ihnen ins Gesicht steigt und sie mit Scham bedeckt? Und dabei stecken in dem Bild für fünfhundert Franken Farbe und für eine Million Genie, ohne meine schöne Jugend zu rechnen, die kahl wie mein Filzhut geworden ist. Aber sie haben es nicht zum letztenmal gesehen, bis zu meinem letzten Atemzug werde ich es ihnen einsenden. Ich will, daß es sich in ihr Gedächtnis eingraviert.«
»Auf diese Weise wird es wenigstens überhaupt graviert«, sagte Gustav Colline und war innerlich stolz auf seinen Witz.
Marcel aber fuhr unentwegt in seinen Verwünschungen fort, die Schaunard dann in Musik setzte.
»Sie wollen mein Bild nicht annehmen!« sagte Marcel. »Die Regierung bezahlt und bekleidet sie und gibt ihnen das Kreuz der Ehrenlegion, nur damit sie jedes Jahr am 1. März meine Leinwand zurückweisen ... Ich durchschaue ihre Absicht sehr gut, sie wollen, daß ich meine Pinsel hinwerfe. Sie hoffen, mich durch die Abweisung des ›Roten Meeres‹ zur Verzweiflung zu treiben. Aber sie kennen meinen Charakter schlecht, wenn sie damit rechnen, daß ich auf eine so grobe List hereinfalle. Ich warte überhaupt nicht mehr bis zur nächsten Ausstellung. Von heute an wird mein Werk das Damoklesgemälde sein, das ewig über ihren Häuptern schwebt. Ich werde es jetzt jede Woche einmal einem von ihnen ins Haus, in den Busen ihrer Familie, in das innerste Heiligtum ihres Privatlebens schicken. Ich will die Ruhe ihres Familienglücks stören, daß ihnen der Wein sauer, der Braten angebrannt, die Gattin abscheulich vorkommt. Sie sollen in kurzer Zeit verrückt werden, so daß man sie in der Zwangsjacke zu den Sitzungen des Instituts schicken muß. Dieser Plan gefällt mir.«
Einige Tage später, als Marcel schon seine furchtbaren Rachepläne gegen seine Verfolger vergessen hatte, erhielt er den Besuch des alten Medici. Es war dies unter den Zigeunern der Beiname eines Juden, namens Salomon, der damals in allen Maler- und Literaturkreisen wohl bekannt war und mit ihnen mancherlei Geschäfte hatte. Der alte Medici handelte mit allem möglichen Trödlerkram. Er verkaufte Zimmereinrichtungen von zwölf Franken an bis zu dreitausend Franken. Er kaufte alles und wußte es mit Profit wieder loszuschlagen. Sein Laden, der sich auf dem Place du Carrousel befand, war ein Feenschloß, in dem man alles fand, was man wünschte. Alle Erzeugnisse der Natur, alle Schöpfungen der Kunst, alles, was die Fruchtbarkeit der Erde und das Genie des Menschen hervorbringt, wurde für Medici zu einem Verkaufsgegenstand. Sein Geschäft befaßte sich mit allem und jedem, was überhaupt existierte, und erstreckte sich sogar auf geistige Dinge. Medici kaufte Ideen und Einfälle, um sie entweder selbst auszubeuten oder sie wieder zu verkaufen. Er verkaufte Zigarren gegen eine Feuilletonidee, Pantoffeln gegen ein Sonett, frische Seefische gegen Witze. Er unterhielt sich gegen Stundenhonorar mit Schriftstellern, die in den Zeitschriften über gesellschaftliche Neuigkeiten berichten mußten. Er besorgte Karten für die Parlamentstribünen und Einladungen zu Privatsoireen. Er vermietete für eine Nacht, für Tage und Monate an obdachlose Maler, die dafür mit Kopien nach Meisterwerken des Louvre bezahlen mußten. In der Theaterwelt gab es keine Geheimnisse für ihn. Er brachte Stücke an, er setzte besondere Aufführungen durch. Sein Kopf war ein wirkliches Adreßbuch, und er kannte die Namen und Privatverhältnisse aller Berühmtheiten, auch der weniger wichtigen.
Als er mit dem intelligenten Gesicht, das ihn auszeichnete, bei den vier Zigeunern eintrat, erkannte er, daß er in einem günstigen Moment gekommen war. In der Tat saßen die Freunde gerade bei einer wichtigen Beratung, die unter dem Vorsitz eines wilden Hungers stattfand, und überlegten, auf welche Art sie sich etwas zu essen verschaffen könnten. Es war ein Sonntag gegen Ende des Monats, also ein böser Tag und ein finsteres Datum.
Der Eintritt Medicis wurde daher mit einem Freudenchor begrüßt, denn man wußte, daß der Jude viel zu sehr mit seiner Zeit sparte, um sie für Höflichkeitsbesuche zu verschwenden. Sein Erscheinen hing also immer mit einer Geschäftsangelegenheit zusammen.
»Guten Abend, meine Herren«, sagte er. »Wie geht es Ihnen?«
»Colline,« sagte Rudolf, der behaglich ausgestreckt auf seinem Bett lag, »übe die Pflichten der Gastfreundschaft. Biete unserem Gast einen Stuhl an, der Gast ist heilig. Ich grüße Sie im Namen Abrahams.«
Colline holte einen Sessel herbei, der so elastisch wie Bronze war, schob ihn dem Juden zu und sagte mit einladender Stimme: »Bilden Sie sich ein, Sie wären Cinna, und besteigen Sie diesen Sitz.«
Medici ließ sich in den Sessel fallen und wollte sich gerade über dessen Härte beschweren, als er sich erinnerte, ihn selbst an Colline gegen einen politischen Aufsatz für einen ideenarmen Abgeordneten eingetauscht zu haben. Während er sich hinsetzte, klang es in seinen Taschen von Silbermünzen, und die vier Zigeuner begannen, durch diesen melodiösen Klang berauscht, sich süßen Träumen hinzugeben.
»Herr Marcel,« sagte Medici, »ich komme ganz einfach, um Ihr Glück zu machen, das heißt, ich habe Ihnen eine wunderbare Gelegenheit zu bieten, sich als Künstler durchzusetzen. Die Kunst, das wissen Sie wohl, Herr Marcel, ist ein steiniger Weg, und der Ruhm ist die Oase.«
»Vater Medici,« sagte Marcel, der auf glühenden Kohlen saß, »im Namen Ihres Schutzpatrons, der fünfzig Prozent, machen Sie es kurz.«
»Jawohl,« warf Colline ein, der stets einen geistreichen Witz im Köcher hatte, »seien Sie kurz wie König Pipin der Kurze.«
»Oho!« riefen die Zigeuner und sahen nach, ob der Fußboden sich nicht öffnete, um die Philosophen zu verschlingen.
Aber Colline wurde diesmal noch nicht verschlungen.
»Also die Sache ist folgende«, fuhr Medici fort. »Ein reicher Amateur, der eine Galerie zusammenstellt, um damit eine Rundreise durch Europa zu machen, hat mich beauftragt, ihm eine Serie hervorragender Kunstwerke zu verschaffen. Ich möchte Ihnen den Zutritt zu dieser Ausstellung verschaffen. Ich will Ihnen Ihren ›Durchzug durch das Rote Meer‹ abkaufen.«
»Gegen bar?« fragte Marcel.
»Gegen bar!« antwortete der Jude und ließ das Orchester seiner Silberlinge spielen.
»Bist du nun zufrieden?« fragte Colline.
»Wahrhaftig,« schrie Rudolf wütend, »wir müssen uns wirklich einen Knebel anschaffen, um diesem Lumpen sein dummes Maul zu stopfen. Siehst du denn nicht, daß er von lumpigem Silber redet? Ist dir denn gar nichts heilig, du Gottloser?«
Colline setzte sich erschreckt auf einen Tisch und nahm die Haltung des Harpokrates, des Gottes des Schweigens, an.
»Fahren Sie fort«, sagte Marcel, indem er auf sein Gemälde wies. »Sie sollen selbst die Ehre haben, einen Preis für dieses unbezahlbare Werk zu bestimmen.«
Der Jude legte fünfzig Dreifrankstücke in guter neuer Münze auf den Tisch.
»Und dann?« fragte Marcel. »Das ist die Vorhut.«
»Herr Marcel,« sagte Medici, »Sie wissen gut, daß mein erstes Wort immer auch mein letztes ist. Ich habe nichts mehr hinzuzufügen. Aber überlegen Sie wohl: es sind hundertfünfzig Franken, und das ist schon eine Summe.«
»Aber eine sehr geringe Summe«, antwortete der Maler. »Allein in der Robe Pharaos steckt für hundertfünfzig Franken Kobalt. Zahlen Sie mir wenigstens noch die Unkosten, runden Sie die Summe nach oben ab, und ich will Sie Leo X. nennen, Leo X. Nummer zwei.«
»Hier mein letztes Wort«, sagte Medici. »Ich gebe keinen Sou mehr. Aber ich biete den Anwesenden ein Diner mit beliebigem Wein, und beim Dessert bezahle ich in Gold.«
»Sagt denn niemand ein Wort?« heulte Colline und schlug dreimal mit der Faust auf den Tisch. »Ich stimme zu!«
»Gut,« sagte Marcel, »abgemacht!«
»Das Gemälde werde ich morgen abholen«, sagte der Jude. »Auf, meine Herren, das Diner wartet.«
Medici bewirtete die vier Freunde auf wirklich großartige Weise. Er bot ihnen eine Menge Dinge an, die bisher in ihrem Leben völlig unbekannte Größen gewesen waren. Vom Tage dieses Diners ab hörte der Hummer auf, für Schaunard ein fabelhaftes Wesen zu sein, und er zog sich bei dieser Gelegenheit eine solche Vorliebe für dieses Seetier zu, daß sie sich bis zum Wahnsinn steigerte.
Die Zigeuner kehrten so berauscht von diesem Festgelage heim, als kämen sie von der Weinlese. Beinahe hätte übrigens diese Trunkenheit bedauernswerte Folgen gehabt, denn Marcel wollte, als er des Morgens um zwei an dem Geschäft seines Schneiders vorbeikam, seinen Gläubiger unbedingt wecken und ihm hundertfünfzig Franken auf seine Schuld abzahlen. Ein Funke von Vernunft, der noch im Gehirn Collines glühte, hielt den Maler gerade noch am Rand des Abgrundes zurück.
Acht Tage nach diesem Festgelage erfuhr Marcel, welche Galerie sein Gemälde aufgenommen hatte. Als er zufällig über den Faubourg Saint-Honoré kam, blieb er in einer Gruppe stehen, die neugierig das Aushängeschild über einem Laden betrachtete. Dieses Aushängeschild war nichts anderes als das Gemälde Marcels, das Medicis an einen Delikatessenhändler verkauft hatte. Nur hatte sich der ›Durchgang durch das Rote Meer‹ noch etwas verändert und trug auch einen neuen Titel. Es war nämlich ein Dampfschiff hinzugefügt, und man las darüber: ›Zum Hafen von Marseille.‹ Ein schmeichelhafter Beifall erhob sich unter den Zuschauern, als man das Bild enthüllt hatte. Marcel ging, entzückt von diesem Triumph, weiter und murmelte: »Volkes Stimme ist Gottes Stimme!«