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Unser Held stattet wieder einen Besuch ab und wohnt schrecklichen Schauspielen bei.

Am folgenden Tage zog Walther die Klingel am Hause des Doktors. Sein Herzchen zitterte, denn das Haus sah gewaltig vornehm aus. Er wurde eingelassen, und, nachdem er angemeldet worden war, eingeladen, »er solle nur heraufkommen.«

Doktors Kaatje führte Walther in das »Studierzimmer,« wo Doktor Halsma damit beschäftigt war, eine natürliche Vaterpflicht zu erfüllen; er unterrichtete seine Kinder.

Es waren drei: Ein Knabe, etwas älter als unser Walther, saß allein in einer Ecke an einem kleinen Tischchen und schrieb oder rechnete. Die beiden anderen, ein Knabe von Walthers Jahren, und ein Mädchen, das ein paar Jahre jünger schien, standen am Tische, vor dem der Doktor saß und auf dem ein großer Erdglobus stand, offenbar der Gegenstand des Unterrichts. Das verstand Walther erst später, denn er hatte, so viel ihm bewußt war, nie einen so großen Ball gesehen. Er wußte nicht, daß es eine andere Art gab, die Lage von Ländern klar zu machen, als durch Karten. So bemerkte er noch allerlei im Zimmer, was er wohl sah, was ihm aber erst später klar wurde.

Als das Mädchen die Thür des Zimmers öffnete, hörte er die Stimmen der Kinder und auch die des Vaters. Er vernahm sogar Lachen, aber als er eintrat, wurde wie mit einem Zauberschlage alles totenstill. Die beiden Kinder an dem großen Tisch standen wie Soldaten. Es war etwas Komisches in ihrer Haltung, und Walther hätte darüber lachen können, wenn er nicht so verlegen gewesen wäre. Sogar das Mädchen hatte einen Zug von offiziellem Ernst in ihrem Gesicht ... würdevoller als er es je bei älteren Leuten, selbst in der Kirche, gesehen hatte. Während der Doktor Walther bewillkommnete und ihm einen Stuhl anbot, stand der kleine Junge mit der Hand an der Hosennaht, als sollte es heißen: eingerückt – marsch! oder rechtsum – kehrt!

Der größere Knabe, der allein saß, hatte bloß einmal aufgesehen und ihn mit dem eigenartigen feindseligen Ausdruck angeblickt, der den Menschen so ungünstig von anderen Tierarten unterscheidet, und den wir vor allem bei Wilden, Kindern und – Frauen beobachten können.

»So, mein Bursche, bist du da?« sagte der Doktor. »Das ist brav von dir. Was hast du da?«

Und dann wandte er sich zu den kleinen Soldaten:

»Erinnert mich nachher, daß ich euch bei Tisch von Olivier van Noort etwas erzähle. Du, Willem, kannst auch dran denken helfen.«

Walther schielte verlegen auf seine ausgetuschte Lady Macbeth und wußte nicht recht, wie er sein Geschenk an den Mann bringen sollte. Er fand das Zimmer so prächtig, die Möbel, die großen Schränke mit Büchern... ach, sein Gemälde kam ihm so häßlich vor, er hätte das Ding am liebsten verschluckt.

Zu Hause hatten sie ihm allerlei gute Lehren eingetrichtert, wie er stehen, sitzen und sprechen sollte. Er stand also recht linkisch da und sprach stotternd. Mit großer Anstrengung brachte er es heraus, daß er käme, um sich bei dem Doktor zu bedanken »für seine Genesung ... nächst Gott.«

Die beiden Soldaten bissen sich auf die Lippen, und auch der Doktor hatte Mühe, ernst zu bleiben.

»Nächst Gott? Ja... schön! Brav gesprochen, Kerlchen. Hast du Gott schon gedankt?«

»Gewiß, M'neer! Alle Abend im Bett und gestern in der Kirche.«

Die kleine Sietske wurde hier von einem Ausbruch von Unart befallen. Sie lachte aus vollem Halse. Das drohte ansteckend zu werden. Willem schien Grund zu haben, sich die Nase stärker zu schneuzen, als üblich ist. Auch Hermann bekam Leben und sah Walther schalkhaft an. Aber der Doktor schien keinen Gefallen an alledem zu finden. Er schlug mit dem Lineal auf den Tisch, daß die Erdkugel zitterte.

»Rrrruhe!« rief er mit Donnerstimme, daß Walther ängstlich wurde. »Rrrruhe! Was ist das für eine Samojedenwirtschaft beim Unterricht! Ich will euch...Orrrdnung!«

Da fing eine Uhr an zu schlagen. Sietske schien zu zählen und hob bei jedem Schlage einen Finger auf.

»Ich will euch ...«.

»Fünf!« schrie Sietske. »Meine Hand ist alle, guck mal: fünf! Fünf Uhr, Väterchen, Tyrannchen! Hurra ... Hurra!«

Die beiden Jungen schrien sofort mit. Es war ein Quodlibet von »Gaudeamus igitur« und »Vive la joie« und »God save the King« ... vorwärts, Jungens! Vive la vacance ! Willelmus von Nassauen ... mit dem Ellbogen durch seinen Hut! Vorwärts, Willem! Vorwärts, Hermann! Rache, Rache, Rache! A bas les tyrans! Amour sacré– faß ihn fest, Willem, du bist der Stärkste – de la patrie ... de Heer van Son is 'n brave kapitein, hij regeert zijn volkje ... daar ging 'n patertje langs den kant... Rache! So, so, wie ich dich liebe – Rache, Rache, Rache! Halt dich wacker, Hermann. Ich hab ihn an der linken Hand ... io vivat, io vivat... bum bum bum ... hurra! Dans son bivouac, le troubadour fidèle... Rache! Fleur du Tage... Rache! Oh, shall he, boys, oh shall he, boys oh, shall he... Rache! Pro salute horum– kein Latein (das rief Sietske) – hop maar Jannetje, hop maar Jannetje... Rache!«

Walther rieb sich die Augen und traute seinen Ohren nicht. Das ging über seinen Verstand. Niemals hatte er träumen können, daß die Welt Schauspiele lieferte wie dieses. Von Zauberei hatte er wohl schon gehört, und daß Elias im feurigen Wagen gen Himmel fuhr, kam ihm nach einigem Bibelstudium nicht so sehr auffallend vor. Aber daß Willem, Hermann und Sietske ihrem Vater, so einem würdevollen Doktor, um den Hals fielen, an ihm in die Höhe kletterten und ihm beinahe die Kleider vom Leibe rissen – unerhört. Er hätte mit einem alten Pantoffel seiner Mutter nicht so umzugehen gewagt, oder mit Stoffels abgelegten Kleidern. Er wunderte sich, daß die Welt nicht unterging.

»Na, na, na!« rief der entthronte Tyrann, »ein bißchen sanfter, Jungs! Kann ich dafür, daß euch die Geographie keinen Spaß macht?«

»Trag das liebe Töchterchen vor den Spiegel, Papa!« rief jetzt Sietske, die rittlings auf seinen Schultern saß.

Der Vater gehorchte. Aber er hinkte, denn Hermann hatte sich auf seinen linken Fuß gesetzt und umarmte den Schenkel. Willem zog ihn am Arme vorwärts. Vor dem Spiegel angekommen, fing die kleine Amazone zu deklamieren und zu gestikulieren an:

»O teures Afrika!«

Walther erschrak. Da faßte man wirklich seinen Weltteil an, sein Afrika. Und sie schien sich nichts daraus zu machen!

»O Afrika, Sofala, Monomotapa, Monoemugi ... prachtvoll! Noch 'n Augenblick, Papa, teurer Schultyrann – halt fest, Willem! Ich will ganz Afrika dem Spiegel erzählen und sehen, was ich für ein Gesicht mache. Mesopotamien, Mesopomomo ... Mund voll, famos! Nigritien – bleib stehen, Papa, ich bin noch nicht halb fertig, »Willem, hilf mir, mein Pferdchen trappelt so ... hüh, hüh! Äthiopien – Hermann, halt ihn an den Füßen fest – nicht kitzeln, sonst fall' ich – Marokko... Schiermonnikoog... hüh, hüh, Pferdchen ... Alexandrien, Sudan, Ägypten... Weesp, Rotterdam, Haarlemmermeer, Kolveniersburgwall – die Stunde ist aus, ich kann sagen, was ich will – Katzenellenbogen, Algiers, Kleopatra, Karl der Große – wer fängt mich auf?«

»Ich!« rief Willem.

Sietske strampelte in die Höhe, bis sie auf des Doktors Schultern stand, und sprang dann auf Willem zu, der sie geschickt auffing und niedersetzte.

»Uff!« rief der Doktor.

»Uff, uff, uff? O, teurer Vater, wir sind noch lange nicht beim Uff! Zwei volle Stunden Unterricht, und dann gleich Uff? O nein, teuerster Tyrann von Monomotapapa, ein braves Kind hat auch sein Recht. 'S ist 'ne wahre Schande ... sag's weiter, Hermann...«

»'ne wahre Schande... nun du, Willem!«

»'s ist 'ne wahre Schande, meine Herren, wie afrikanisch miserabel heutzutage die europäischen Väter ihre niederländischen Kinder behandeln.«

»Weg mit den Eltern! Mitrufen, Papa!«

»Weg, weg, weg mit ...«

» ... mit den Kindern,« brummte der Papa dazwischen. Aber Sietske ertappte ihn dabei.

»Was muß ich hören, Sakkerlot! Orrrdnung, Orrrdnung! Was ist das für eine Samojedenwirtschaft ... nach der Stunde!«

»Sehr richtig!« schrien die Jungens. »Orrrdnung nach der Stunde! Das ist Ordnung!«

»Und ... was seh' ich da!« rief Sietske. »Wer hat das schöne, neue, prächtige, himmlische, entzückende Lineal kaput gemacht? 'ne Säge, 'ne Säge, Papas unschuldiges Lineal ist 'ne Säge! O die Väter, die Väter! Rufe mit: es leben die Kinder!«

»Ja. ja... aus voller Brust, Papa!«

»Leben die lieben ...Papas!« rief der Vater, und er wurde für diesen Aufruhrschrei wieder tüchtig gestraft.

»Wenn ich mal Vater bin, werde ich mich anders betragen!« sagte Hermann.

»Ich auch!« versprach Sietske. »Nie, nie, nie mehr als eine halbe Stunde Schule im Jahrhundert. Nie, nie. Sofala, Monomotapapa... vorwärts, teuerster Vater, ruf mit: es leben die Kinder! Sonst ...«

»Leben die ...«

Wieder ertönte die Glocke. Ein Schlag. Jetzt erhob der Vater den Finger.

»Halt! Die Saturnalie ist vorbei. Kommt alle mit – du auch, Bursche – Mama wartet auf uns mit dem Essen.«

Willem nahm Sietske auf den Rücken, und Hermann bestieg den Papa. So ritt die Familie die Treppe hinunter. Walther ging hinterher, aber Lady Macbeth verschwand, zusammengedrückt, in seiner Brusttasche.

Er wußte nicht, wie ihm war. War das derselbe Mann, der ... Bärenfelle? Goldene Feder?

Aber wie war das möglich? Es war doch kein Traum, daß er und alle die Seinen so zu der betäubenden Würde dieses Mannes emporgeschaut hatten?

Er begriff nichts davon.

Im Speisezimmer herrschte wieder ein ganz anderer Ton wie vor und nach fünf in der Schule.

»Stelle den jungen Herrn Mama vor,« sagte der Doktor.

Er wandte sich an Willem. Aber Sietske sagte:

»Vater, darf ich's thun?«

Doktor Holsma nickte. Das kleine Mädchen nahm Walther würdevoll an der Hand und führte ihn zu der Dame, die an der gedeckten Tafel saß und Salat machte.

»Mama, dies ist 'n junger Herr ... ach, ich muß deinen Namen wissen. Wie heißt du?«

»Walther Pieterse.«

»Das ist der junge Herr Walther Pieterse, der sich bei Papa bedanken kommt, weil er... krank gewesen ist, und der... der junge Herr bleibt zum Essen hier, Papa?«

Der Doktor nickte wieder.

»... und der hier zum Essen bleibt, Mama.«

»Wenn Mama gestattet,« sagte der Vater.

»Ja. wenn Mama gestattet.«

Mevrouw Holsma wies Walther mit ein paar freundlichen Worten einen Stuhl an. Es war auch nötig.

Walther kam alles fürstlich vor, und er war froh, daß er saß. Drei Viertel seiner kleinen Figur war nun unter dem Tische geborgen. Das war ebenso viel gewonnen. Beinahe alles, was er sah und hörte, setzte ihn in Erstaunen. Er faltete die Hände.

»Willst du beten. Männchen?« fragte der Doktor.

»Ja, M'neer,« stammelte Walther.

»Eine gute Gewohnheit. Nur zu! Thust du das immer bei Tische?«

»Ja, immer ... bei warmem Essen, M'neer!«

Es herrschte Sitte in dem Hause. Keiner lachte.

»So bete nur ruhig!«

Den Augenblick, daß Walther den Blick gesenkt hielt, benutzte der Doktor, um ohne ein Wort seine Kinder zur Artigkeit zu ermahnen. Sie befolgten diesen Wink treulich. Es war ihre Schuld nicht, wenn Walther später merkte, daß er in diesem Kreise eine sonderbare Figur gemacht hatte.

»Du thust wohl daran,« sagte Holma. »Wir thun's nicht, und ... wir thun vielleicht auch wohl daran.«

»Gewiß,« sagte die Mutter, »jeder muß nach seiner Überzeugung handeln.«

Dies einfache Wort berührte Walther tiefer, als man ahnen konnte. Er – eine Überzeugung! Dies kurze Wort der Mevrouw Holsma billigte ihm eine Würde zu, legte ihm ein Gewicht bei und gab ihm ein Recht, an das er nie gedacht hatte. Während er die Suppe aß, dachte er fortwährend: ich darf eine Überzeugung haben!

Es war ihm nie in den Sinn gekommen, daß eine Sache anders aufgefaßt werden konnte, als es ihm durch seine Mutter oder durch Stoffel, oder wen immer – vorausgesetzt natürlich eine erwachsene Person – hingestellt wurde. Die ganze Frage des Betens oder Nichtbetens kam ihm nicht so wichtig vor, wie diese Neuigkeit, daß er eine Überzeugung haben konnte. Sein Herzchen schwoll ...

Der Doktor, der ein Menschenkenner war, rief Walther aus seinen Gedanken zurück.

»Jeder muß nach seiner Überzeugung handeln. Und um zu einer Überzeugung zu kommen, muß man viel nachgedacht haben. Ich bin überzeugt, daß unser kleiner Gast gern von den Zuckererbsen da wird essen wollen. Sietske, reiche sie ihm.«

Sietske that es mit vieler Grazie.

Walther hatte den Sinn von Holsmas Worten, auch diesen Übergang, gut begriffen. Er fühlte, daß die Schulmeisterei nach fünf Uhr ohne Gnade zur Seite gestellt war, und daß der freundliche Gastgeber ihn bloß vor kritikloser Besserwisserei hatte warnen wollen, ohne damit den gemütlichen Ton zu opfern, der in der That hier bei Tische herrschte.

Trotz seines scheuen Wesens nämlich, oder lieber gerade im Zusammenhang mit dieser Eigenschaft, war Walther ein sehr intelligenter Knabe. Daß dies beinahe allen, mit denen er bisher in Berührung gekommen war, unbekannt geblieben war, lag in dem Mangel an Selbstvertrauen, der ihn hinderte, sich offen auszusprechen. Es sah meist so aus, als ob er später als andere begriffe, weil er – vielleicht feiner organisiert oder von größeren Ansprüchen an seine Erkenntnis – nicht so schnell mit dem Resultat seines Nachdenkens zufriedengestellt war. Während seiner Krankheit hatte Holsma diese Eigenart des Knaben kennen gelernt, und hieraus floß das Interesse, das er ihm bezeugte.

Walthers scheues Wesen war zum Teil eine Folge der Methode, nach der man ihm die wenigen Kenntnisse, die er besaß, mitgeteilt hatte. Alles, was man ihn lehrte, war bereits in den Augen des Sprechers eine unumstößliche Sache gewesen. Zweimal zwei ist ... so viel, Prinz Soundso ist ein Held, artige Kinder kommen in den Himmel, Gott ist groß, die Bataver sind besonders tapfer, den wahren Glauben giebt es in der Noorder-Kirche u. s. w. u. s. w. Daß es Zweifel geben konnte, war ihm nie gesagt worden, und er hielt daher seinen Wunsch, mehr von den Dingen zu erfahren, für unangemessen und unrecht. Einigemal hatte er versucht, seiner Wißbegier Luft zu machen, aber es war ihm schlecht bekommen. In der Religionsstunde war sein Gerechtigkeitsgefühl über die böse Geschichte von Jakob und Esau gestrauchelt. Er fühlte einen Augenblick beinahe den Mut, etwas aus dem Lebenswandel des angehenden Erzvaters abzulehnen, und er begann schon ein bescheidenes Wörtchen ... aber der Pfarrer antwortete ihm mit Verweisen. »Solche Fragen paßten sich nicht für ein Kind!« hieß es. Walther sollte doch bedenken, daß der Herr aus diesem Stamme hervorgehen sollte, und daß also die Linsengeschichte vollkommen in Ordnung war. »Der Mensch darf nicht verstockt sein.« Der arme Junge betete den Abend wohl eine Stunde lang, daß Gott ihn nicht so sehr verstocken solle. Und es half.

So ging es mit allem. Aus frommem Abscheu vor der Verstocktheit beruhigte er sich bei allem, was ihm gesagt wurde. Da er indessen die ihm gegebenen Vorstellungen nicht verdauen konnte, wurde seine Seele damit nicht genährt. Er sprach, auch innerlich, alles, was ihm vorgepredigt wurde, geläufig nach und verwies sich selber seine Unzufriedenheit als etwas Undankbares und als einen Rest der alten Verstocktheit, die Gott ihm nicht so auf einmal abnehmen konnte.

Es scheint sonderbar, daß er nicht an die Möglichkeit begründeten Zweifels dachte, Er wußte ja, daß Tausende und Millionen Menschen anderer Meinung waren als seine Mutter und Pennewip, und daß also die Möglichkeit bestehen konnte eine Wahl zwischen verschiedenen Meinungen zu treffen. Daran dachte Walther nicht. Das war thöricht, beschränkt und kindisch, gewiß – aber es geht dem ganzen Menschengeschlecht so.

Walther war scheu und linkisch. Nach allen den sonderbaren Ereignissen im Studierzimmer war er ja wohl auf allerlei Ungewohntes gefaßt, aber daß Willem und Hermann, ja sogar die kleine Sietske sich so ohne weiteres auf ihre Teller nehmen durften, was sie wollten, das wunderte ihn mehr als die Luftreise des Elias. Bei Genoveva in der famosen Wildnis, ja in Afrika konnte es nicht freier und gemütlicher zugehen. Er war ganz überrascht von so viel Ungewohntem. In der That, überrascht und ganz weg – und so sehr, daß er, als seine Nachbarin ihm beim Nachtisch eine Schüssel mit Creme herüberreichte...

Es ist geschehen, ihr Götter! Und... ich muß es erzählen! Könnte ich nun doch, wie manch alter Chronikenschreiber, die Schuld auf geheime Ratgeber werfen, »die das rieten und nicht wohl dran thaten.«

Ach! welcher geheime Hofrat der Welt konnte Walther geraten haben, den Porzellanlöffel über den Rand der Schale zu schwenken und das Ding – es war noch etwas von der Speise dran, wahrhaftig! – in Sietskes Schoß fallen zu lassen. Er that es, er!

O, wie traurig! Schon begann er sich ein wenig auf seinem Stuhl in die Höhe zu schieben. Noch ein Augenblick, dann würde er wirklich gesessen haben. Vielleicht hätte er auch bald etwas gesagt. Es war ihm ein Land von Afrika in den Sinn gekommen, das Sietske vorhin vergessen hatte. Nicht um als klüger zu gelten, hatte er es sagen wollen, aber doch um etwas weniger dumm zu scheinen, als er gewiß aussah. Aber jetzt – nach dieser elenden Löffelgeschichte!

Alles das stürmte auf ihn ein. Bevor er noch zu der Frage gekommen war, wie man seine Ungeschicklichkeit aufnähme, ja sofort nach der Katastrophe begann Sietske, als ob es so sein müßte:

»Papa wollte etwas von Olivier van Noort erzählen.«

Sie stand auf, wischte ihr Röckchen ab und reichte Walther einen anderen Löffel, den sie vom Büffett nahm.

»Ja, Papa, Olivier van Noort! Papa hat's versprochen.«

Und alle mahnten um die Geschichte. Auch Mevrouw Holsma hatte viel Interesse dafür. Walther merkte, daß man, die Erinnerung an sein Unglückchen unter Gespräch verstecken wollte. Das rührte ihn. Er war so etwas nicht gewöhnt. Als Sietske wieder Platz genommen hatte, sah sie, daß eine Thräne über seine Wange rollte.

»Mama, ich hab' einen silbernen Löffel genommen. Das ist doch ebenso gut? So'n porzellanenes Ding ist topfschwer! Ich habe ihn schon dreimal fallen lassen, und Hermann wird auch nicht mit fertig.«

Die Mutter nickte ihr freundlich zu.

»Wie steht's mit Olivier van Noort?«

»Ich traue mich nicht. Ihr sagt wieder, ich fange mit Geographie an.«

»Pfui, Papa, bei Tische!«

»Ja, ja,« sagte die Mutter, »ich hab's schon gemerkt, daß die Saturnalie Montags, Mittwochs und Freitags immer schlimmer ist. Das Haus dröhnt ja nach der Geographie.«

»Eine Viertelstunde ist zu lange,« seufzte Holsma.

»Alte Rechte. Papa,« sagte Willem.

»Na ja. Aber als es eingeführt wurde, warst du allein. Da ging's noch. Du bist eigentlich der Urheber der Barbarei. Wie Hermann zur Stunde kam ...«

»So ein Kerlchen warst du da,« zeigte Willem, »du wußtest nicht A und nicht B.«

»Ist nicht wahr. Mutter hatte mich lesen gelehrt. Mama, willst du die Hälfte abhaben? Ich habe hier die schönste Aprikose der ganzen Schale ... ganz zufällig, ja! Nimm sie nur!«

»Weil ich dir Lesen beigebracht habe?«

»Olivier van Noort!«

»Lesen! hm!« brummte der Vater. »Als ob du lesen könntest! So ein eingebildetes Bürschchen!«

Man hörte die Klingel an der Hausthür. Gleich darauf kam ein Herr ins Zimmer, der von den Kindern recht freundlich als Onkel Sybrand begrüßt wurde.

Der Hausherr lud jetzt die ganze Familie in den Garten und schickte Hermann in das Studierzimmer, ein Buch zu holen.

»Aber Junge, schlag' nun nicht heimtückisch den Globus entzwei. Das arme Ding kann nichts dafür!«

Und nun kam die Geschichte von Admiral Olivier de Noort und dem armen Viceadmiral Jan Claesz van Ilpendam, den sie 1599 in der Magellanstraße ans Land gesetzt haben, weil er den Gehorsam verweigerte ... eine Geschichte, über die die ganze Familie Holsma mitsamt ihren Gästen sich recht ausführlich und in lebhafter Wechselrede unterhielt ...


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