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Liebe ist der Trieb, eins zu sein – und der Trieb, unendlich viel zu sein. Wie überall, ist auch hier die Natur im Princip einfach, in der Anpassung mannigfaltig. Die Liebe eines Diebes wird bedeuten: Komm, wir wollen zusammen stehlen gehen, der Diener des Worts vereinigt sich mit seiner Geliebten in Gebet und Psalm, und so weiter, »jegliches Getier nach seiner Art.«
Oder wird der Trieb, mitzuteilen, zusammen zu sein, der Trieb zur Vereinigung bei einzelnen zugleich der Trieb zum Guten sein?
Bei Walther war es so, wenn er es auch selber nicht wußte. Hatte er nicht einmal, im Namen der langen Cecil, einem Vögelchen, das so ängstlich in seinem engen Bauerchen herumflatterte, die Freiheit wiedergegeben? Natürlich hatte Cecil darüber gelacht und Walther gefragt, ob er verrückt wäre! Sie begriff natürlich nicht, daß ein Zusammenhang sein konnte zwischen dem Mitleid mit dem armen Tierchen und dem Pochen seines Herzens, als er ihren Namen in die gefrorene Fensterscheibe seines Hinterzimmerchens kratzte, aber sie hätte es vielleicht verstanden, wenn sie Walther hätte liebgehabt. Und das ging nun einmal nicht, weil er das Höschen noch über den Schößchen der Jacke trug.
Jedenfalls war es ihm nicht möglich gewesen, an etwas Schlechtes zu denken, als er »Omikron« rief. Dabei vergaß er die lange Cecil, und er hätte sich sehr gewundert, wenn sie auf diesen Ruf erschienen wäre. Die kleine Emma, fand er, sah mehr danach aus. Walther fühlte großen Drang, zu wissen, was der junge Herr mit Betsy in der Laube anfing. Er fand Mittel, sich von den Kameraden etwas abzusondern, und da hörte er nun allerlei, was ihn nicht gerade klüger machte.
»Ja, ich hab' auch gesagt, im Mai ...«
»Gewiß, wegen der oberen Stockwerke ...«
»'s ist ärgerlich! Und was sagt deine Mutter?«
»Hm ... sie meint, wir müßten noch ein Jährchen warten. 's ist unanständig, schnell zu heiraten; 's ist gerade, als ob ...«
»Vier Jahre ...«
»Ja, vier Jahre. Louw und Anna sind sieben Jahre engagiert gewesen.«
Walther war stolz, daß er nun genau wußte, was das hieß. Er begriff, daß es so viel besagt wie zusammen ein oberes Stockwerk mieten, am liebsten im Mai.
»Und bekommst du nun das Wäschespind?«
»Nein ... das will Mutter selbst behalten. Aber wenn wir noch ein Jahr warten, will sie uns ein anderes geben – ein kleines.«
»Ich hätte das große lieber ...«
»Ich auch, aber weißt du, sie sagt, junge Leute brauchen so ein großes Spind nicht. Aber wie meine Schwester heiratete, hat sie ein großes mitgekriegt.«
»Sage also, du willst auch eins.«
»'s wird nichts nützen.«
»Versuch's nur ... ich heirate nicht ohne das große.«
»Ich will's verlangen ...«
Derartig waren die Gespräche, die Walther erlauschte. Er war unzufrieden und verkroch sich nachdenklich in einen finsteren Winkel. Was ihm eigentlich fehlte, wußte er selber nicht, aber als Emma ihn rufen kam, sah er aus, als hätte er an ganz etwas anderes gedacht als an Wäscheschränke und leerstehende Stockwerke, denn mit frohem Schreck rief er:
»Sollte sie es sein ... mein Schwesterlein?« – – –
Es war Abend geworden, und das Spiel der Kinder sollte drinnen fortgesetzt werden. Die kleine Gesellschaft war müde. Es sollte von einem der Großen etwas erzählt werden.
Welcher »Große« nach »Stadtruhe« verschlagen worden war, um da die Geschichte vom Paradies und der Peri zu erzählen, weiß ich nicht. Man wird finden, daß es zu Betsys »Engagement« und dem liebehindernden Wäschespind nicht paßte. Aber wie viele meinen, daß das Glück jedem mindestens einmal im Leben lächelt, so scheint auch in der Plattheit und Alltäglichkeit, in der am wenigsten poetischen Umgebung, immer einmal etwas vorzufallen, was dem, der es fassen will, Gelegenheit giebt, sich über das Gemeine zu erheben. Einmal wird dem Ertrinkenden zugerufen: Du kannst schwimmen, streck' die Arme aus!
Die Peri, die an der Paradiesespforte vergeblich bat, in den Staat der Seligen aufgenommen zu werden, brachte nach vielen fruchtlosen Versuchen endlich als das Schönste, was die Erde bot, den letzten Seufzer eines reuigen Sünders, und sie fand Gnade bei dem Wächter der Pforte, um der Heiligkeit der Gabe willen, die sie darbrachte ...«
»Jetzt Pfänder spielen!« rief Gustav.
»Pfänder spielen, Pfänder spielen!« rief ihm die ganze kleine Gesellschaft nach.
Es wurden Pfänder gespielt und eingelöst. Es mußte geküßt werden, das versteht sich von selber. Ein Rätsel aufgeben ... es wurde nicht geraten, selbstverständlich. Wer's wußte, durft's nicht sagen. Die gewöhnliche Bedingung beim Rätselraten.
»Was soll der thun, dessen Pfand ich hab' in meiner Hand?«
»Auf einem Beine stehen!«
»Über den Strohhalm springen!«
»Einen Vers aufsagen!«
»Nein, eine Fabel ... La cigale,oder so was!«
»Ja, ja, ja!«
Das Pfand war von Walther.
»Ich weiß keine Fabel«, sagte er verlegen, »und französisch verstehe ich auch nicht.«
»Ich will dir helfen,« rief Emma, »le père, du père ...«
»Ach, das ist keine Fabel ... los, Walther!«
Für einige in dem Kreise war es eine wahre Wonne, daß Walther keine Fabel konnte und kein Französisch verstand. Wenn ein kluger Mensch wüßte, wie vielen Menschen er durch Dummheit einen Gefallen thun kann, würde er sich manchmal aus lauter Menschenliebe dumm stellen.
Aber Walther dachte diesmal nicht an das Vergnügen der anderen, das er auch nicht verstanden hätte. Er weinte und war böse auf Meister Pennewip, der ihn kein Französisch und keine Fabel gelehrt hatte.
»Vorwärts, Walther, vorwärts!« drängten die Pfandbewahrer.
»Es braucht kein Französisch zu sein, erzähl' nur 'ne Fabel!«
»Aber ich weiß nicht, was 'ne Fabel ist!«
»Na ... das ist 'ne Geschichte mit Tieren!«
»Ja ... oder mit Bäumen: Le chêne un jour dit au roseau... siehst du, es geht auch ohne Tiere.«
»Ja, ja ... 'ne Fabel ist 'ne Geschichte, weiter nichts ... 's kann drin sein, was will!«
»Aber 's muß sich reimen!«
Walther dachte dran, sein Räuberlied aufzusagen. Aber er bedachte sich noch, und zu seinem Glücke! Denn das wäre ein großer Skandal im Hause Halleman gewesen, das so besonders anständig war.
»Aber nein, es braucht sich nicht zu reimen,« rief ein anderer, der wieder schlauer war als die übrigen, »die Kuh giebt Milch, Hänschen sah mal Pflaumen hangen, Prinz Willem der Erste war ein großer Denker. Siehst du, Walther, 's geht von selber ... nur los – erzähl' oder du kriegst dein Pfand nicht!«
Walther begann:
»Es war einmal ein kleiner Junge gestorben, der nicht in den Himmel durfte ...«
»Oho! das ist die Geschichte von der Peri! Was anderes!«
»Ich will es anders machen,« versprach Walther verlegen. »Also der kleine Junge durfte nicht in den Himmel, weil er ... kein Französisch verstand und auch weil er oft unartig gewesen war, und weil er meistens seine Aufgaben nicht gelernt hatte, und auch ... weil er ... weil er ...«
Ich glaube, Walther hatte hier etwas von der unseligen mütterlichen Sparbüchse auf der Zunge. Aber er verschluckte es, um die Hallemännchen nicht durch die Anspielung auf den Pfefferminzhandel zu kränken.
»... weil er mal beim Beten gelacht hatte. Denn das ist gewiß, Jungens, die beim Beten lachen, kommen nicht in den Himmel.«
»So ... o ... o ... o?« fragten ein paar Schuldbewußte.
»Ja, die kommen nicht in den Himmel. Nun hatte der Junge ein Schwesterchen gehabt, das ein Jahr vor ihm gestorben war. Er hatte sie sehr lieb gehabt, und als er tot war, suchte er sofort nach seinem Schwesterchen ... Wer ist dein Schwesterchen? fragte man ihn ...«
»Wer fragte das?«
»Still! Fallt ihm nicht in die Rede, laßt Walther weiter erzählen!«
»Ich weiß nicht, wer das fragte. Der kleine Junge sagte, daß sein Schwesterchen ... ein blaues Röckchen anhatte und Grübchen in den Wangen ...«
»Ganz wie Emma!«
»Ja, ganz wie Emma. Man sagte ihm, daß im Himmel ein kleines Mädchen wäre, das gerade so aussah. Sie war ein Jahr zuvor da angekommen, und sie hatte gebeten, ihr Brüderchen einzulassen, das sicher nach ihr fragen würde ... Aber der kleine Junge durfte nicht hinein ... ich habe schon gesagt, warum ...«
»Hatte das Mädchen denn immer seine Aufgaben gelernt?«
»Natürlich! Das versteht sich ... laßt Walther doch weiter erzählen!«
»Er war sehr traurig, daß er sein Schwesterchen nicht wiedersehen sollte, und fand, daß das Sterben eigentlich nicht der Mühe wert gewesen war. Ach, laß mich doch hinein! bat er den Herrn, der an der Thür stand ...«
»An der Pforte!« verbesserten viele gleichzeitig, die die Alltäglichkeit einer Thür störte, ohne daß sie die Erhabenheit von Walthers Vorstellung vom Tode rührte.
So etwas kommt öfter vor.
»Gut, an der Pforte!« sagte der arme Junge und schämte sich, daß er sich so gegen die Vornehmheit versündigt hatte. »Der Herr an der Pforte sagte: Nein! Da kehrte der kleine Junge auf die Erde zurück.«
»Das geht nicht ... wer tot ist, bleibt tot!« riefen die Philosophen.
»Laßt ihn doch erzählen ... 's ist doch bloß 'ne Geschichte!«
Walther fuhr fort.
»Er ging zurück auf die Erde und lernte Französisch. Wie er dann wieder vor der ... Pforte stand, sagte er Owi Msjö! Es half aber nichts, er durfte nicht hinein.«
»Das glaube ich gern ... er hätte sagen sollen: j'aime, tu aimes. «
»Das weiß ich nicht,« sagte Walther einfach.
»Noch einmal ging er hinunter und lernte seine Aufgaben, bis er sie rückwärts aufsagen konnte. Und das that er an der Pforte. Aber es nutzte nichts ... er durfte nicht hinein.«
»Das glaub' ich wohl,« rief ein Kluger. »Um in den Himmel zu kommen, muß man eingesegnet sein. War er eingesegnet?«
»Nein,« sagte Walther, »darum war's auch so schwer. Er versuchte noch etwas anderes, aber es half nichts. Er sagte, er wäre mit seinem Schwesterchen engagiert ...«
»Gerade wie Betsy!« rief Emma.
»Ja, wie Betsy ... und daß er sie so lieb hätte und daß er sie gern heiraten wollte ... aber 's half alles nichts, er durfte nicht in den Himmel. Zuletzt wagte er schon gar nicht mehr hinzugehen, weil der Herr an der Pforte hätte böse werden können ...«
»Nun ... wie weiter?«
»Ich ... weiß ... es ... nicht ... weiter,« stotterte Walther, »ich weiß nicht, was der kleine Junge thun sollte, um in den Himmel zu kommen.«
Walther wußte wohl weiter, aber er konnte es nicht in Worte bringen, was er wußte. Das zeigte sich eine Stunde später.
Beim Nachhausegehen, als die ganze Gesellschaft erschreckt auseinanderfuhr, um einem Wagen auszuweichen, der in toller Fahrt aus dem Thore kam, glitt Emma unter dem Brückengeländer durch und fiel in den Stadtgraben. Man stieß einen Schrei aus ... und noch einen ...
Walther war dem Kinde nachgesprungen.
Wenn er in dem Augenblick gestorben wäre, hätte ihn wohl der »Herr an der Pforte« nicht abgewiesen, weil er kein Französisch verstand und nicht eingesegnet war.
Als er aber naß und beschmutzt nach Hause gebracht wurde, sagte Jüffrau Pieterse, daß man den Herrn nicht versuchen solle, und das war es doch, wenn man ins Wasser sprang und nicht schwimmen konnte.
Ich finde, daß man bei jemand, der nicht schwimmen kann, gerade an den Herrn denken darf. Denn wer es kann, hat mehr Aussicht, sich selbst zu helfen.
Und Jüffrau Pieterse klagte: »daß mit dem Jungen doch immer was los war!«
Nun, das finde ich auch.