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Walther hatte seinen Kirchgang hinter sich. Der Pfarrer hatte bei der Gelegenheit so besonders schön gepredigt, sagte Stoffel, und »man konnte sich alles so annehmen!« und »wir wollen nur hoffen, daß es Früchte trägt!«
»Ja,« sagte die Mutter, »und daß er nicht wieder seine neue Hose zerreißt. Es muß sauer dafür gearbeitet werden.«
Nun, so sauer gearbeitet wurde im Hause Pieterse gerade nicht. Das Gewirtschafte im Haushalt, sowie das Klagen oder, wenn man will, Rühmen darüber gehörte nun einmal dazu.
Daß Walther die schuldigen Besuche bis nach dem Kirchgang verschieben mußte, war die Folge von Jüffrau Laps' fürchterlichen Drohungen. Sie berief sich auf zweiten Chronika 16, 12, und dagegen hielt die aufkeimende freiere Richtung der Pieterses nicht stand. Man könne ja zwar, sagte Jüffrau Pieterse, nicht alles in der Schrift so gerade auf jeden einzelnen beziehen ...
Aber Jüffrau Laps blieb dabei, daß man nur den Glauben und die Gnade haben müsse, dann ginge es wohl; worauf die Jüffrau Pieterse meinte, sie nähme gern Rat an ...
»Das ist das Wahre! Dann sind Sie gerettet! Und ... schicken Sie ihn mal zu mir, nach Sonntag. Oder ... 's kann auch am Sonntag sein, aber nach der Kirchenzeit. Dann kann er mir gleich von der Predigt erzählen, wenn auch die Pastoren ... na, was weiß so ein Kind davon!«
Jüffrau Laps hielt nicht viel von Pastoren. Man kann Gottes Wort auch ohne Griechisch und Latein verstehen, wenn man nur die Gnade hat.
»Ja, Sonntag nach Kirchenzeit. Ich rechne drauf...«
Und um die Einladung dringlicher zu machen, sprach sie von den Leckerbissen, die sie ihren Gästen um die Zeit vorzusetzen pflegte.
Wenn, wie wir annehmen, Jüffrau Laps an Walthers Besuch viel gelegen war, so lag tiefes Kinderverständnis in diesem Versprechen.
Walther hatte Angst davor, mit diesem Wesen allein zu sein. Sie war ihm die lebendige Verkörperung von all den Plagen, die im Alten Testament zur Verwendung kommen, um abtrünnigen Völkern den wahren Glauben beizubringen, als da sind: Donner und Blitz, Pestilenz, Abgründe, böse Schwären, flammende Schwerter und sonstige Requisiten.
Wenn er den Mut gehabt hätte, hätte er sie wohl gebeten, die versprochenen Näschereien irgendwo außerhalb ihrer Wohnung niederzulegen. Er würde sie dann schon finden. Aber er hatte den Mut nicht.
»Und warum bist du nun nicht hingegangen?« fragte die Mutter, als Stoffels Erbauung durch die Predigt anfing, sich zu beruhigen.
Walther berief sich auf die bekannten »Leibschmerzen,« die Kinder immer haben, wenn sie sich um unangenehme Pflichten drücken wollen. Bei etwas Vertrauen zwischen Eltern und Kindern würde die Krankheit seltener sein.
»Ich glaube nichts von deinen Leibschmerzen,« erklärte die Mutter, »'s ist bloß, weil du ein unartiges Kind bist und nie thust, was man dir sagt.«
Stoffel fand das auch, und man hielt Kriegsrat. Walther wurde verurteilt, den schweren Gang zu gehen. Das Examen, das ihm bevorstand ...
Ach, es sah nach keinem Examen aus! Er wurde mit einer Freundlichkeit empfangen, die ihn in Erstaunen und Verwirrung versetzte.
»So, mein lieber Junge, bist du da. Du kommst ja so spät! Die Kirche ist lange aus. Sieh mal, was ich für dich habe, expreß für dich!«
Sie drückte ihn auf einen Stuhl nieder und schob ihm allerlei Leckereien hin. Walther war verlegen. Es wurde auch nicht besser, als sie ihn nun streichelte und liebkoste.
»Und erzähl' was von der Predigt,« sagte sie, als das Kind sich der ungewohnten Zärtlichkeit möglichst zu entziehen suchte. »Was hat der Pastor also gesagt?«
»Der Text...«
»Na ja, laß nur ... nachher, wenn dein Mund leer ist. Iß nur erst ein Paar Kuchchen. Alles zugleich kann der Mensch nicht thun. Da ist Chokolade, und ein Liqueurchen kriegst du auch. Ich hab's ja immer gesagt, daß du ein netter Junge bist, aber sie müssen dich nicht immer so schuriegeln. Nur zu, mein Junge, und thu als ob du zu Hause wärest...«
Das war nun eigentlich nicht das richtige Wort für Walther. Zu Hause!
Nach der ersten Überraschung über den sonderbaren Empfang bekam er Angst. Ohne zu wissen warum, ... ja warum?
Plötzlich stand er auf und erklärte, seine Mutter habe ihm befohlen, nicht lange wegzubleiben.
Kein Wort davon war wahr. Jüffrau Laps protestierte, aber Walther blieb standhaft. Trotz der großen Freundlichkeit wußte er sich durch den Feind durchzuschlagen.
Er versprach noch, »bald mal wiederzukommen,« rannte die Treppe hinunter und auf die Straße, Hier durchströmte ihn ein unbeschreibliches Gefühl des Erlöstseins. Unbeschreiblich vor allem für ihn selbst. Niemals war man ihm so ... herzlich entgegengekommen, niemals hatte man ihn so behandelt. Woher sein Widerwille? Beim Abschied hatte sie ihm einen Kuß geben wollen, und er hatte sich durch eine schnelle Wendung dem entzogen. Warum? Er wußte es nicht, aber es verursachte ihm einen Schauder.
Und sollte er nun nach Hause? Was sollte er als Grund anführen, daß er so schnell zurückkam?
Unwillkürlich lenkten sich seine Schritte nach dem Aschenthor. Es war seine Absicht nicht, Femke zu besuchen, durchaus nicht, wirklich nicht! Er hatte ja seine ausgetuschte Ophelia gar nicht bei sich. Ein Beweis, daß er beim Verlassen der Wohnung nicht an Femke gedacht hatte.
Und als er auf dem Buitensingel seine Mühlen zu Gesicht bekam...
Ach, sie schwiegen! War kein Wind? oder hielten sie Sonntag?
Der Buitensingel war voll Spaziergänger. Walther folgte dem Strom, durch den er Femkes Häuschen näher geführt wurde. Als er vor der niedrigen Umzäunung stand, wagte er nicht einzutreten ... und er schob die Schuld auf die zu Hause gebliebene Ophelia.
»Wenn ich das Bild nur hier hätte. Dann sicher!«
Das ist die Frage. Ich glaube, mit Bild und allem sonstigen wäre er ebenso scheu gewesen. Er wußte nicht, was er sagen sollte, und nicht einmal, ob er überhaupt etwas zu sagen hätte. Wenn nun Femkes Mutter ihn fragte: Aber was willst du denn eigentlich hier?
Wir, du, geliebter Leser, und ich, wir hätten ja wohl zu antworten gewußt. Aber ob unsere Weisheit weiser war als die Dummheit des Kindes, das da zaudernd vor dem Zaun stand?
Mit offenem Mund starrte er das Häuschen an. Seine Knie zitterten, sein Herz klopfte, Zunge und Gaumen waren trocken.
Eine kleine Rauchsäule, die aus dem Schornstein wirbelte, machte ihn wach. Wenn ein Brand ausbrach! Dann mußte er ja hinein! Dann durfte er sie retten, in seine Arme nehmen, sie wegtragen, weit weg, ... bis ans Ende der Welt, oder wenigstens aus der Stadt heraus! irgendwohin, wo man in rotem Sammet und grüner Seide geht, wo die Herren große Schwerter tragen und die Damen lange Schleppen! Das würde Femke kleiden. Und sie sollte zu Pferde sitzen, und er ihr folgen ... nein, neben ihr reiten mit dem Falken, auf der Faust!
Wenn doch ein Feuer ausbräche!
Aber es war nichts. Walther sah es wohl. Dieser Rauch ... war so ein gewöhnliches Küchenquälmchen. Er sah nach anderen Häusern in der Nachbarschaft, wo sie auch zu kochen schienen, und überall erlaubten sich die Schornsteine Zeugnis von einer Thätigkeit abzulegen, die von Femkes sich nicht unterschied.
Schließlich kam ein Trupp von Spaziergängern, die wohl zu lange in einem der Etablissements verweilt hatten, wo man »Erfrischungen« bekommt. Allzusehr erfrischt, streiften sie im Vorbeigehen Walther von dem Zäunchen herunter und nahmen ihn ein Stückchen mit.
Nun, das war so schlecht nicht. Was sollte er da stehen und nach dem Rauch aussehen? Wenn nun doch kein Brand kam, und Ophelia hatte er auch nicht ...
Aber morgen! Morgen würde er das Bild mitbringen! und dann würde er nicht so kindisch vor dem Zaun stehen bleiben.
Er schämte sich vor seinen bunten Herrschaften mit Federn, Schwertern und Harnischen. Die hatten gewiß Mut, die Könige, Ritter und Pagen, sonst hätte man sie doch nicht so ausgezeichnet. Wenn es nicht anders wurde, würde er wohl nie auf so ein Bild kommen.
Aber es würde anders werden, zweifellos, sicher, gewiß, wahrhaftig! Je weiter er sich entfernte, desto tapferer nahm er sich vor am nächsten Tage hineinzutreten und flink zu Femkes Mutter zu sagen: »Guten Tag, Jüffrau, wie geht es Ihnen?«
Schwerer fiel es ihm festzusetzen, was er zu Femke selber sagen sollte. Er machte sich Redensarten zurecht, die nach »Floris dem Fünften« schmeckten, und wenn sie Femke nicht gefallen sollten, so würde er sagen, sie seien von »unserem größten Dichter.«
Er wollte sie dann auch allerlei fragen, was er nicht verstanden hatte, was ein »lockerer Zeisig« wäre, und was ein »Ehebett« bedeute, und »Keuschheit,« all die geheimnisvollen Worte aus »Floris« u.s.w.
Die verschiedenen Arten der Entwicklung des Knaben flossen ineinander. Wir haben es nicht mit eigentlicher Liebe zu thun, aber Walthers Neigung zu Femke, das ist sicher, vermengte sich mit Lust zur Forschung. Er wußte wohl, daß er nicht allzuviel von ihr lernen konnte, besonders Büchersachen, aber schon das gemeinsame Sprechen über Dinge, die sie beide nicht kannten, mußte ein Genuß sein.
Er war sehr neugierig, was sie ihm wohl alles zu sagen und zu fragen haben würde, denn auch sie hatte gewiß ihre Empfindungen aufgesammelt für ihr erstes Freundchen. Aber ach! dieser Freundschaft war er nicht so sicher! Sie hatte in seiner Krankheit nach ihm gefragt ... aber vielleicht war sie gerade zufällig da entlang gekommen, und da war es nicht so viel, einmal die Glocke zu ziehen: wie geht's Walther?
Immerhin, sie hatte den Mut gehabt. Was würde Mungo Park gesagt haben, wenn er ihn da so unentschlossen vor dem Zaun gesehen hätte! Denn das versteht sich, auf die Art kann man keine Weltteile erobern.
Ob man wohl Mungo Park auch gefragt hätte: was willst du denn eigentlich in Afrika?
Nun, der konnte wohl antworten. So ein Reisender in so einem Buch mit Bildern wird nicht verlegen.
So begann denn Walther allerlei Ansprachen an Negerkönige, die er mit Lanze und Schwert überwunden hatte. Und alle Frauen des Landes küßten ihm die Hände, wenn er vorbei ritt, auf seinem Schimmel mit der feuerroten Schabracke. Und er fragte herablassend nach den guten Mädchen, die Mungo Park in seiner Krankheit gepflegt hatte, »weil der fremde weiße Mann fern war von Mutter und Schwestern und kein Haus hatte.« Er wird sie fürstlich belohnen...
Denn Walther ist König in all dem eroberten Lande – und Femke Königin! Wie sie der große Sammetmantel prächtig kleiden wird ... und die goldene Krone!
Das Erobern von Weltteilen war ein leichtes Stück. Er war zwar kaum dreizehn Jahre alt, und es konnte ihm einer zuvorkommen, während er durch den verräterischen Pennewip mit Deklination und Konjugation aufgehalten wurde. Und es mußten noch mehr Dinge gelernt werden, ehe man selbst von einem kleineren Lande König werden konnte. Auch mußte sein Taschengeld eine Aufbesserung erfahren, denn sechs Deut die Woche reichten bei aller Sparsamkeit nicht aus. Die Hallemännchen ... na ja, die hatten ja mehr, aber sie dachten zum Glück nicht an Afrika. Vorläufig fürchtete er diese Konkurrenz nicht, aber es konnten andere Kinder, die dem »Großsein« näher waren, auf die Idee kommen! Und dann: wie sollte er es machen, daß seine Mutter nicht brummte, wenn er auf seinen Zügen ins Binnenland einmal länger ausblieb, als es sich mit der Pieterseschen Hausordnung vertrug?
Das waren alles so Bedenken. Aber es würde schon gehen.
Was dann mit ihm und Femke in Afrika vor sich gehen würde, das würde später in hübschen Büchern mit farbigen Bildern zu lesen sein. Er sah sich schon auf seinem salomonischen Throne und Femke daneben. Sie war aber gar nicht stolz. Sie mochten es alle wissen, daß sie bloß ein Wäschermädchen gewesen war, alle, die da vor ihr knieten. Sie war Königin geworden, weil Walther sie lieb gehabt hatte. Und nun brauchten sie nicht mehr zu knien ...
Bei besonderen Gelegenheiten, na ja, da mochte es angehen. Beispielsweise, wenn seine Mutter und Stoffel ihn besuchten. Die sollten wohl sehen, wie alle die Menschen ihn ehrten, ihn und sie, der sie so übel begegnet waren. Aber einmal war genug. Dann wollte er alles vergeben und ihnen ein großes Haus bauen, mit Regenfässern und Waschzubern. Auch für Pennewip würde er eine große Schule bauen, mit Tischen und Tintenfässern, Schreibheften und Landkarten von Europa und Tabellen von den neuen Maßen und Gewichten. Da konnte der alte Meister den ganzen Tag Unterricht geben, von morgens früh bis abends spät – ja die ganze Nacht durch.
Eben wollte Walther das Rätsel lösen, wie zu gleicher Zeit Pennewip und die schwarze Jugend zufriedenzustellen wäre, als Leentje die Thür öffnete.
Ohne es zu merken, hatte er die Wohnung erreicht und geklingelt. Ahnungslos fiel er in eine ganz andere Umgebung als die war, in der er sich seit einer halben Stunde bewegte. Er begriff kaum, was seine Mutter wollte, die ihn fragte, wie der Besuch abgelaufen war, und ob Jüffrau Laps mit seinem Predigtbericht zufrieden gewesen wäre.
Predigt? Laps? Auf das Examen war er gar nicht vorbereitet. Er stotterte allerlei zusammen, zum Glück nicht von Afrika.
Es schien indessen in der Zwischenzeit ein Umschwung in der Stimmung vorgefallen zu sein. Denn Stoffel sagte:
»Siehst du, Mutter, was ich schon immer sagte. Dazu gehört was, um's der immer recht zu machen. Sie weiß immer alles besser ...«
»So ist es,« antwortete die Mutter. »Sie ist verdreht und übergeschnappt, das sage ich! Nun sage du mal, Stoffel, ob man von so 'nem Kinde verlangen kann, es soll alles behalten, was der Pastor sagt. Das kann ich selber nicht. Und du auch nicht. Und Meister Pennewip auch nicht. Und ich sage, kein Mensch kann's. Und das von so 'nem Kinde zu verlangen! Sie will bloß den Professor spielen ... darum thut sie's!«
Das war Stoffels Ansicht auch, und die Mutter wurde sehr beredt durch den Beifall.
»Was die sich denkt!« fuhr sie fort. »Ob sie denkt, daß sie selber ein Pastor ist? Mit all ihren Bibelsprüchen! Und dann so ein Kind damit zu chikanieren, das eben noch krank gewesen ist! 's ist 'ne Schande! Was brauchst du dahin zu gehen? Du hast mit ihr nichts zu schaffen. Ich sage bloß immer ...«
Hier fiel ihr ein, daß sie selbst Walther zu dem Besuch gezwungen hatte. Sie fiel sich daher selbst in die Rede mit der Ermahnung, nun endlich seine Sonntagshose auszuziehen. Und ihre Unzufriedenheit über die falsche Richtung, die ihre Rede eingeschlagen hatte, äußerte sich nun in einer ganz neuen soundsovielsten Leichenrede über Walthers letzten Anzug, für den so schwer gearbeitet werden mußte ...
»Und dann das Kind eine ganze Stunde auf dem Trocknen sitzen zu lassen! Und sie hatte doch gesagt ...«
Das konnte Walthers Gerechtigkeitsgefühl nicht zugeben. Es versicherte, daß im Gegenteil ... und da kam ihm wieder die übermäßige Freundlichkeit in die Quere – aus Verlegenheit breitete er sich ausführlich über die Chokolade aus ...
»So. Warum hast du das nicht gleich gesagt? Na, 's ist egal. Ich wollte bloß sagen: Das fehlte bloß noch, daß sie dir nichts vorgesetzt hätte. So sind die Menschen. Immer müssen sie an anderen nörgeln, nach sich selber sehen sie nicht. Ich glaube auch an die Gnade, und ich hör' auch mal gern was aus der Schrift, wenn ich meine Wirtschaft besorgt habe ... aber ewig und immerzu davon schwatzen? Nein, darin sitzt es nicht. Wie, Stoffel? Der Mensch muß was thun in der Welt! Und zieh doch endlich die neue Hose aus, Walther, das hab' ich nun schon hundertmal gesagt ... Trude, gieb ihm die alte!«
So geschah es. Aber Walther gelobte sich, in Afrika würde er alle Tage seine Sonntagshose anziehen.