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Unter dem Namen »Multatuli« (»ich habe viel getragen«) verbarg sich zunächst der Verfasser des »Max Havelaar«, der gewesene Assistent-Resident der Abteilung Lebak in der javanischen Provinz Bantam. Mit diesem einen Werke stellte sich im Jahre 1860 Eduard Douwes(spr. Dau's) Dekker(geb. 1820 in Amsterdam) an die Spitze der modernen holländischen Litteratur, und er hat dann den Namen beibehalten, unter dem er berühmt geworden war, obwohl bald aller Welt bekannt wurde, wer das Aufsehen erregende Buch geschrieben hatte, und was er damit bezweckte.
Dekker war vierzig Jahre alt, als sein Erstlingswerk erschien. Er hatte sich früher schon litterarisch beschäftigt, ohne indessen auf diesem Gebiete Erfolge zu suchen. In einer unfreiwilligen Muße hatte er in jungen Jahren, 1843, auf Sumatra ein Theaterstück verfaßt, und es ist möglich, daß einige Anspielungen im »Havelaar« darauf zu deuten sind, daß auch kleine Erzählungen von ihm schon damals oder etwas später in holländisch-indischen Kolonialblättern veröffentlicht worden sind. Aber im übrigen hatte er sich beschränkt, seine Gedanken, seine Einfälle und dergl. für sich zu Papier zu bringen, und es waren anscheinend stattliche Sammlungen ungedruckter Manuskripte zustande gekommen.
Die Entrüstung machte ihn zum Dichter und rief ihn vor die Öffentlichkeit, vor der ihn bis dahin eine gewisse Keuschheit der Seele hatte zurückbeben lassen. Dekker war, wie erwähnt, Kolonialbeamter in Niederländisch-Indien gewesen und hatte in einer hohen Stellung den Versuch gemacht, das javanische Volk von dem Druck der eingeborenen Häupter, die die niederländische Regierung aus Zweckmäßigkeitsgründen beibehalten hatte, zu befreien. Die Staatsräson, die Trägheit und Schlimmeres, die Mitschuld und der Eigennutz der hohen holländischen Funktionäre, waren gegen ihn und seine Bestrebungen gewesen. Er hatte in einem Augenblick des Mißmutes, der Empörung seinen Abschied erbeten und erhalten, sah aber natürlich bald ein, daß damit weder ihm noch den Javanern geholfen würde, und betrieb zunächst in Batavia, später in Holland seine Wiederanstellung. Er hatte auch Aussicht, aber die Verhandlungen zerschlugen sich hauptsächlich daran, daß die Regierung ihn nach Surinam schicken wollte, er aber die Genugthuung einer Wiederanstellung in Indien verlangte.
Da gab er den »Max Havelaar«heraus, im Jahre 1860.
Trotz des großen Erfolges, den dieses Buch hatte, gelang es Dekker nicht, auf einen grünen Zweig zu kommen. Allerlei widrige Umstände wirkten dazu mit, vor allem wohl, daß er immer noch nicht die Hoffnung aufgab, wieder in den indischen Dienst treten zu können.
Erst allmählich sah Dekker ein, daß seine Hoffnung eine trügerische war. Seine Frau Everdine, eine geborene Baroneß Wijnbergen, in seinen Schriften meist »Tine« genannt, suchte ihn zu bestimmen, auf eigene Faust nach Indien zurückzukehren; sie hatte dort einflußreiche Verwandte, mit deren Hilfe der landes- und volkskundige Gatte sich eine selbständige Position hätte schaffen können. Aber Dekker ging darauf nicht ein. Er zog es vor, in Europa zu bleiben und den Beruf des Predigers in der Wüste zu wählen. Es folgten Jahre tiefsten Elends, während deren Dekker, von seiner Familie getrennt, bald hier, bald da fieberhafte Anstrengungen machte, sein Los zu verbessern.
Ein ganzes Jahrzehnt und darüber ist Dekker aus den Sorgen kaum jemals herausgekommen. Seine Frau und seine Kinder, die zunächst in Indien zurückgeblieben waren, kamen nach Europa; aber es war nicht daran zu denken, den Hausstand wieder aufzurichten. Tine, Dekkers Frau, hielt sich meist in Brüssel, zeitweise auch in Gelderland bei Freunden auf, sie war sogar genötigt, die Hilfe ihrer Verwandten in Anspruch zu nehmen, die auf eine Trennung drangen, während Dekker selbst bei Zeitungen als Mitarbeiter anzukommen suchte, bald Bücher schrieb und als Redner auftrat, einmal zu Wiesbaden sogar im Hazardspiel sein Glück versuchte. In die Zeit der sechziger Jahre fallen folgende hauptsächlichsten Schriften Dekkers: »Zeige mir den Platz, wo ich gesät habe«(1861 zu Gunsten der notleidenden Bevölkerung javanischer Landstriche, die durch eine Wassersnot verheert worden waren), »Minnebriefe«(1861 zu Gunsten einer verarmten Familie), »Über freie Arbeit«(1861, eine Schrift über javanische Verhältnisse), »Gespräche mit Javanern«(1862) und andere kleinere Schriften, die später gesammelt, teils auch in die »Ideen« einverleibt worden sind. 1869 begann er seine »Millionen-Studien«,die aber erst später vollendet wurden.
In den ersten sechziger Jahren wurden auch die »Ideen« begonnen, auf die wir noch genauer eingehen.
Leider trugen ihm diese Schriften, die wir heute noch mit größtem Interesse lesen, kaum das dürftige Stück Brot ein, um nicht zu verhungern. Bei der Herausgabe des »Havelaar« war ihm ein Schriftsteller Jakob von Lennep behilflich gewesen; dieser hatte sich dafür aber das Autorrecht übertragen lassen, und jetzt weigerte er sich aus angeblich patriotischen Gründen, neue Auflagen herzustellen. Die ersten Hefte seiner »Ideen« wurden vom Publikum verschlungen, aber der ganze Überschuß floß in die Tasche des Verlegers, der Dekker ausbeutete. Einige Werke hatte Dekker, wie angeführt, von vornherein mit der Bestimmung in Druck gegeben, daß der Überschuß zu einem Zwecke der Wohlthätigkeit verwendet werden sollte. Der in seinen Hoffnungen gescheiterte Mensch, der genug mit eigenen Sorgen zu thun hatte, konnte nicht leben, wenn er nicht noch anderen wohlthun durfte.
Zu allem Unglück fällt in diese Zeit auch noch die Bekanntschaft einer jungen Dame, einer Lehrerin aus dem Haag, die Dekker und seine Werke schwärmerisch verehrte, Mimi Hamminck Schepel. Aus der schöngeistigen Verehrung entwickelte sich bald infolge persönlichen Verkehrs ein regelrechtes Liebesverhältnis, gegen das die beiden Beteiligten wohl redlich angekämpft haben, das sie aber nicht überwinden konnten. Schließlich konnte seine Frau das nicht mehr ertragen, und sie sagte sich im Jahre 1870 von ihm los. Sie hat dann in Italien, bei einer Jugendfreundin, in einer Stellung etwa einer Gesellschafterin, bis 1874 gelebt. Mimi ist Dekkers zweite Frau geworden; sie hat die Briefe Dekkers (neun Bände) herausgegeben.
Wenn man die begeisterten Schilderungen von dem innigen Familienleben gelesen hat, die Dekker in seinem Erstlingswerke gab, wenn man weiß, was die erste Frau Dekkers mit ihm getragen hat, und wie sie stets den Glauben an ihn behalten hat, so sehr man ihr auch von verwandter und befreundeter Seite zusetzte, so ist es eine peinliche Enttäuschung, wenn man erfährt, wie dies ideale Verhältnis geendet hat. Selbst die Kinder waren ihm schließlich entfremdet; der Sohn hat ihn später einmal besucht, aber zu einem herzlichen Verständnis ist es nicht mehr gekommen.
In den siebziger Jahren besserten sich Dekkers Lebensumstände. Seine Bücher trugen ihm genügend ein, um gemächlich leben zu können; er hatte einen Verleger gefunden, der ihn reichlich honorierte. Seit 1870 hat er fast ununterbrochen in Deutschland gelebt, zunächst in Wiesbaden, später in Nieder-Ingelheim, wo er durch die Munificenz eines Verehrers seiner Werke ein Landhäuschen besaß. Einige Reisen brachten ihn wohl noch in sein Vaterland, er hielt dort wieder öffentliche Vorträge, wohnte der Aufführung seines Theaterstücks » Fürstenschule « bei und ordnete Geschäftliches mit seinen Verlegern. In diese Periode fällt auch die Fertigstellung seiner » Ideen «, die in sieben stattlichen Bänden vorliegen.
Die letzten Jahre, etwa das ganze letzte Jahrzehnt seines Lebens, hat er nichts mehr geschrieben. Er lebte in gesicherten Verhältnissen still vor sich hin; die Nachbarn betrachteten ihn als einen Sonderling. Am 19. Februar 1887 ist er zu Nieder-Ingelheim gestorben.
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Gehen wir nach dieser kurzen Skizze des Lebensganges Dekkers zu dem Werke über, das uns hier am meisten angeht: den »Ideen«.
Wir können uns wohl vorstellen, wie sie entstanden sind.
Dekker hatte frühzeitig eine stattliche Sammlung von allerlei Aufzeichnungen angelegt, zu seinem Vergnügen, oder um beim Schreiben selbst seine Gedanken zu klären. Das Paket Schriften mit einigen hundert Titeln, das er seinen »Shawlmann« (Havelaar) dem biederen Droogstoppel ins Haus schleppen läßt, war mehr als ein humoristischer Einfall. Er sagt einmal in den »Ideen«: »Die Liste der Stoffe in Shawlmanns Paket war nicht vollständig. Sie war länger und die Themen waren meist ausgearbeitet. Das Paket ist vielleicht in Straßburg verloren gegangen. Auch in Haarlem, Amsterdam, Brüssel mußte ich Koffer im Stich lassen, im Haag eine ganze Bibliothek.« Das ist etwa 1872 geschrieben, und aus einem seiner Briefe wissen wir, daß 1864 – der Arme führte damals in den Rheinlanden ein wahres Landstreicherleben – ihm die Kölner Polizei beinahe einen Koffer mit Manuskripten auf offenem Markte verkauft hätte, weil er eine Wirtshausschuld nicht begleichen konnte. Es ist also die Möglichkeit nicht ausgeschlossen, daß noch gelegentlich einmal Schriften von Dekker sich auf irgend einem Hotelboden in den namhaft gemachten Städten vorfinden könnten.
Vergleichen wir die kuriose Liste im »Havelaar« mit den späteren Werken, die unter dem Namen Multatuli auf den Büchermarkt gekommen sind, so finden wir eine Menge von Beziehungen. Vielerlei, was ihm in glücklicheren Zeiten schon durch den Kopf gegangen war, was er in traurigen Stunden mit fieberndem Hirn durchdacht hat, was er damals schon notiert und skizziert hatte, was aber später verloren gegangen war, hat er später wieder aufgenommen und weitergesponnen: und für manchen Titel, der uns in dem Verzeichnis des Shawlmanns lediglich absonderlich oder gar absurd vorkommt, finden wir in den späteren Werken, besonders in den » Ideen ,« die Aufklärung. Natürlich kommt beim Bearbeiten fortgesetzt Neues hinzu.
Die »Ideen« sind gewiß eins der eigenartigsten Bücher, die je geschrieben worden sind. Jetzt, wo man sich in weiteren Kreisen mit dem im Leben so vernachlässigten Dichter zu beschäftigen beginnt, wo durch einzelne Veröffentlichungen der Appetit nach dieser seltenen Speise geweckt ist, kann man öfters in Zeitungsartikeln das Bedauern aussprechen hören, daß die »Ideen« noch nicht vollständig ins Deutsche übertragen sind. Wer das sagt, der kennt sie nicht.
An den »Ideen« zeigen sich zugleich Dekkers größte Vorzüge und sein größter Mangel. Wir bewundern seine Entschiedenheit, seine Konsequenz, seine logische Schärfe, seine brillante Darstellungskunst, seinen glühenden Eifer für die Wahrheit, seinen tötenden Sarkasmus gegen alle Heuchelei und gegen alle Halbheit – und wir bewundern das alles um so mehr, als er im Leben bewiesen hat, wie ernst ihm das alles war. Der Mann, der von einem Fürstenthron herabstieg – denn derartig war seine Stellung in Indien oder so konnte er sie sich gestalten – um ein Bettler, ein Vagabund zu werden, aber ein ehrlicher Mann zu bleiben, der Mann lügt nicht, er fälscht nicht, er schmückt sich nicht mit bunten Lappen, es sei denn, um sich in dichterischer Illusion über den Gegensatz seines hohen Gedankenfluges und seiner erbärmlichen äußeren Lage hinwegzutäuschen, und die kleine Koketterie, die hie und da wirklich auftaucht, hat mit seiner Wahrheit nichts zu thun. Wir sind eher geneigt, ihm eine gewisse Donquichottenhaftigkeit, eine Principienreiterei zum Vorwurf zu machen, – weniger indes in seinen Schriften wie in seinem Leben.
Aber der große Mangel Dekkers besteht in seiner mangelnden literarischen Selbstzucht. Er ist spät zur Litteratur gekommen, und er ist nicht um der Litteratur willen Litterat geworden; sein unstetes Leben, sein mehr als ein Jahrzehnt währendes Unglück, die Sorgen, das Elend, das ihn ruhelos von Ort zu Ort trieb, unter Verhältnissen, die schon gar nicht mehr schlimmer sein konnten – es kamen in den sechziger Jahren Monate vor, in denen er kein gekochtes Essen über die Lippen bekam, in denen er zu Fuß, mit schlechtem Schuhwerk, von Ort zu Ort ging und unterwegs den Bauern grüne Erbsen und Rüben aus den Äckern stahl, um den Hunger zu stillen, und wenn dann bessere Zeit kam, wurde es ihm schwer, sich wieder an Fleischgenuß zu gewöhnen – in diesen fürchterlichen Verhältnissen des jähesten Wechsels, einen Tag von Verehrern enthusiastisch gefeiert, tags darauf von Schmarotzern belagert, und noch einen Tag weiter ohne Brot und Heim, aus dem Zusammenhang mit seiner Familie gerissen, schließlich den Seinen entfremdet, die er so sehr geliebt hat – ist ihm die Zeit nicht gekommen, an sich selbst Kritik zu üben, an seiner Vervollkommnung als Schriftsteller zu arbeiten. So wirkt er mehr durch das, was er sagt, so trifft er auch oft instinktiv die beste Form, die sich denken läßt, aber sehr oft vermißt man auch die zügelnde Hand, die Selbstkorrektur.
Als er dann allmählich zur Anerkennung kam, als seine Werke anfingen gesucht zu werden, zwang ihn auch noch vielfach das Geldbedürfnis, die Bogen ohne die letzte Feile in die Druckerei zu schicken, und bei späteren Auflagen brachte er wohl durch Randglossen Korrekturen und Erweiterungen an, stellte er Ideenzusammenhänge her, beantwortete er Einwürfe, die er sich selber machte oder die andere ihm gemacht hatten, und dergleichen mehr, aber zu einer durchgreifenden Überarbeitung hat er sich niemals entschließen können. Es sieht oftmals so aus, als könne er nichts streichen, was er geschrieben hat, als scheine ihm jeder Gedanke zu wertvoll – eine Eigentümlichkeit, die sich wohl auch sonst bei Selbstdenkern, um das Wort Autodidakt zu vermeiden, vorfinden dürfte.
In den letzten Jahren ruhte seine Thätigkeit ganz. Wir wissen aus seinen Briefen die Stelle, an der er gerade schrieb, als im September 1874 die Nachricht vom Tode seiner ersten Frau, Tine, die sich schließlich von ihm notgedrungen getrennt hatte, bei ihm eintraf. Es sind nur wenige Bogen, die dann noch dazu gekommen sind, und er hat noch beinahe 13 Jahre gelebt.
Es ist, als ob der Kampf aufgehört hätte, nachdem der Dichter in behaglichere äußere Umstände gekommen wäre. Die Not der früheren Jahre hatte seine Kraft aufgezehrt.
Wir finden in der Litteratur vielfach Beispiele, daß reichbegabte Naturen auf den verschiedensten Gebieten Lorbeeren suchen und dabei gerade dasjenige Gebiet, das ihnen am nächsten zu liegen schien, vernachlässigen. Dekker hätte auf dem Gebiete des humoristischen Romans, des satirischen Zeitromans, Unvergängliches leisten und dabei seinen Gedanken die weiteste Verbreitung geben können. Er hat im » Havelaar « und in den » Millionen-Studien « einen glänzenden Anfang dazu gemacht, er hat auch in anderen kleineren Schriften bewundernswerte Proben seiner Erzählungs- und Darstellungskunst gegeben, und er hat schließlich in der » Walther-Geschichte ,« die die » Ideen « fortlaufend unterbricht, das Gebiet betreten, auf dem man bedauern muß ihn nicht öfter zu finden.
Die » Ideen « nennt Dekker die »Times seiner Seele.« In diesen sieben Bänden, von denen die ersten Anfänge 1862, bald nach »Havelaar« geschrieben sind, von denen der letzte Band 1877, fünfzehn Jahre später, gedruckt herauskam, hat er niedergelegt, was in ihm vorging, was ihn bewegte. Wie in Shawlmanns Paket die Materien bunt durcheinander gewürfelt lagen, wie sie sich wohl auch in seinen verloren gegangenen Koffern und in denen, die die Irrfahrten überdauerten, angesammelt hatten, erschienen die Gegenstände hier vor dem Leser. »Wenn ich etwas geschrieben habe und nachlese, so ist mein Haupteindruck meist: über diese Sache ließe sich vieles sagen« – so spricht er sich einmal aus, und so hat er es auch gehalten. Er hat vieles gesagt, was auszuführen er wohl dem Leser hätte überlassen können, und der aufmerksame Litteraturfreund, der seinen Wegen nachwandelt, merkt vielfach, wie ihm beim Schreiben selbst Gedanken gekommen sind, die er dann in allerlei Abschweifungen ausführt.
Das Ganze macht etwa den Eindruck, als ob der geistreiche Feuilletonist einer Tageszeitung beim Durchblättern der Jahrgänge gefunden habe, es sei doch schade, daß das alles, Plaudereien, Skizzen, Humoresken, Satiren, Epigramme, Gedankensplitter, Roman-Fortsetzungen, Leitartikel, – daß das alles, was der Tagesbedarf hervorgerufen hatte, nun auch mit der Befriedigung dieses Bedarfs abgethan sein sollte, und als ob er deshalb alle diese Beiträge, wie sie waren, mit geringer oder gar keiner Nachredaktion zu einem Buch vereinigt hätte. Thatsächlich sind ja manche der Arbeiten Dekkers erst in Zeitungen erschienen, und thatsächlich hat er auch einmal die Herausgabe eines Tageblattes geplant.
Dekker hat den Mangel wohl gefühlt. »Ich kenne wenig Schriftsteller, an deren Werken ich so viel auszusetzen hätte wie an den meinen« – »Wer zufrieden ist mit seiner Arbeit, hätte Gründe, mit seiner Zufriedenheit unzufrieden zu sein« – dergleichen Aussprüche finden sich öfter.
Ich möchte, um einen Begriff von seinen » Ideen « (dieser Titel ließe sich wohl am besten mit dem Allgemeinbegriff »Gedanken« übersetzen) zu geben, eine Inhaltsangabe der sieben Bände versuchen. Auf Vollständigkeit kann natürlich bei der Vielgestaltigkeit des Werkes nicht im entferntesten Anspruch gemacht werden.
Band I : Gedankensplitter, kleine satirische Geschichten, Politisches, Gedanken über die Natur, Philosophisches, eine Reisegeschichte, Bemerkungen zu »Havelaar«, Anfang der Walther-Geschichte, Gedanken über Religion.
Band II : Brief an Frau X., politische Auseinandersetzungen mit dem Ministerium Thorbecke, historische Kritik, religiöse Polemik, Fortsetzung von Walthers Geschichte, die Inkasöhne, über indische Verhältnisse, ein Beweis des Pythagoras, Rede auf dem internationalen Kongreß für sociale Fortschritte u. a.
Band III : Gedanken über Wahrscheinlichkeitsrechnung, historische Fälschungen, über öffentliche Vorträge, Kunst und Kritik, Erinnerung an Napoleon, Skizze eines Straßenpredigers, Waterloo, die Hühneraugengeschichte von Marseille, die Belohnungstheorie in der Erziehung, die Stellung der Lehrer, allerlei Unterrichtsfragen, Religion u. a. m.
Band IV : »Fürstenschule,« Drama in fünf Akten, Auseinandersetzung mit den Kritikern des »Havelaar«, der »Millionen-Studien« u. a., Epigramme, politische Polemik, indische Erinnerungen.
Band V : Fortsetzung der Walther-Geschichte, die Geschichte der beiden Scheiks, über das Theater, Bilderdyk, Jakob Claesz van Ilpendam, Sprachliches, Kriegführung in Indien.
Band VI und VII : Geschichte Walthers, mit allerlei eingesprengten Betrachtungen u. dergl.
Diese flüchtige und lückenhafte Übersicht – ein genauer Index müßte Bogen füllen – kann natürlich keinen vollen Eindruck von der ungemeinen Vielseitigkeit dieses Sammelwerkes geben, das den Titel »Ideen« führt. Das ist auch hier nicht der Zweck. Es soll hauptsächlich gezeigt werden, wie das Stück, das uns hier am meisten interessiert, die » Walther-Geschichte«, sich über die verschiedenen Bände verteilt. Schon im ersten Band setzt diese Erzählung ein, im zweiten wird sie weiter geführt, aber sie dient dem Dichter gelegentlich als Folie für allerlei Gedanken-Entwicklungen, die die Kapitel dann unterbrechen; dann folgen zwei Bände, die sich mit ganz anderen Sachen befassen und in denen die Personen dieser Geschichte höchstens als Beispiele für Ansichten herangezogen werden; in den letzten drei Bänden nimmt die Geschichte dann, wieder mit Unterbrechungen und Einschiebungen, einen immer mehr zunehmenden Raum ein um schließlich im siebenten Bande als Fragment zu endigen.
Der Walther-Roman läßt sich aus den übrigen Teilen des »Ideen«-Werkes mit leichter Mühe herauslösen. Es ist eine litterarisch sehr wertvolle Arbeit, deren Schönheiten im einzelnen zu würdigen jetzt der deutsche Leser eingeladen werden soll. In ihren Anfängen hat sie einigen Anklang an Dickenssche Schriften, aber ihr Charakter ist doch ein wesentlich anderer. Ein seltsames Gemisch von Realismus und Phantastik, eine bedeutsame Vertiefung in die Psychologie der Kinderseele thut sich vor uns auf, mit einer fein beobachteten Sittenschilderung verquickt, einer Sittenschilderung, die ziemlich durch alle Schichten geht, vom niedrigsten Volk bis hinauf in den Kreis der Majestäten. Und ein gewaltiger Humor, der alles durchschaut und über alles lächelt, durchgeistigt die manchmal krause Scenenführung.
Die in diesem Bändchen wiedergegebenen »Abenteuer des kleinen Walther « führen die Geschichte bis zu einem bestimmten Abschluß, sodaß ein geschlossenes Ganzes entsteht. Ein zweiter Teil » Walther in der Lehre ,« der den Helden in eine ganz neue Umgebung führt und der daher gleichfalls als ganz selbständiges Werk auftreten kann, soll später folgen. Es erscheint dieser Weg als der geeignetste, um die Geschichte des kleinen Walther dem deutschen Publikum zugänglich zu machen.
Die vorliegende Bearbeitung bemüht sich, die ursprünglich durch das ganze Ideenwerk verstreuten Walther-Kapitel so zu einem Ganzen zusammenzubringen, wie der Verfasser vielleicht selbst bei einer späteren Überarbeitung den Roman zusammengefaßt hätte. Von den Betrachtungen, die die Handlung unterbrechen, ist ein etwas sparsamer Gebrauch gemacht worden. Wo die Absicht des Dichters schon in der Geschichte selbst deutlich hervortritt, sind die manchmal weitschweifigen Ausführungen weggelassen. Es ist aber noch genug übrig geblieben, um dem Leser die Art des Dichters vor Augen zu führen. Auch sonst sind hie und da einige Längen gekürzt, und ein paar Einschiebsel, die mit der Walther-Geschichte nach Art der trefflichen Scheheresade verkettet sind, aber für den deutschen Leser mehr Anspruch auf selbständige Existenz zu haben scheinen, sind gleichfalls für diesmal ausgeschieden worden. So ist zu hoffen, daß die Erzählung etwas straffer zusammengefaßt auftrete und ihre großen poetischen wie idealen Schönheiten wirksamer zur Geltung bringe.