Robert Müller
Tropen
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Robert Müller

Tropen


Vorwort

Im Jahre 1907 war an der Grenze zwischen Brasilien und Venezuelas im Quellgebiete des Rio Taquado ein Indianeraufstand ausgebrochen. Die europäischen und nordamerikanischen Reisenden, die sich innerhalb der Aufstandszone herumtrieben, waren Angriffen und Mißhandlungen ausgesetzt und konnten von den anrückenden venezolanischen Regierungstruppen mit knapper Mühe vor einem Massaker bewahrt werden. An der Spitze der Stämme, die sich gegen die immer merkbarer übergreifende Zivilisation auf den Kriegspfad begeben hatten, stand eine Priesterin namens Zaona. Sie hatte durch geheimnisvolle Weissagungen den Sieg der indianischen Sache verkündigt und die wilden Triebe der Urwaldnationen geweckt. Man hätte in San Franzisko, Kalifornien, wo ich mich damals aufhielt, wie überhaupt an den fortgeschrittenen Punkten der Welt von diesen Ereignissen, die in den genannten Landstrichen keine Ausnahme vom gewöhnlichen Jahresablauf darstellen, kaum Notiz genommen, wenn nicht der bedeutende Umfang der Erregung, gleichwie der Umstand, daß ihr weißhäutige Ausländer zum Opfer gefallen waren, die öffentliche Aufmerksamkeit auf sich gezogen hätten. Eine Expedition von sieben Nordamerikanern und drei Deutschen, die in der Absicht, eine sogenannte Freelandkolonie zu begründen, ausgezogen war und von den Regierungen der in Betracht kommenden Republiken militärischen Schutz erhalten hatte, war schließlich zusamt ihrer Bedeckungsmannschaft aufgerieben worden. Die Kolonisationspläne dieser kleinen Gesellschaft stammten von dem deutschen Ingenieur Hans Brandlberger, der mit amerikanischem Kapital den großzügigen Vorsatz verwirklichen wollte, fruchtbare Gebiete des inneren Südamerika, die heute noch von unendlichem Urwald überzogen sind, weißen Farmern zugänglich zu machen und auf kommunistischer Grundlage eine ideale Verwaltung der kultivierten Gebiete durchzuführen. Brandlberger hatte das Schicksal seiner Begleiter geteilt.

Die Zeitungen brachten das Ereignis in Extraausgaben mit großen roten Lettern. Zuerst las ich an dem Namen Brandlbergers, der als Führer genannt war, vorbei. Dann, als ich mit der Ungeheuerlichkeit der ausgiebig geschilderten Greuel vertraut war, fesselte die immerhin bemerkenswerte Tatsache mein Gemüt, daß ein Deutscher die großen und interessanten Pläne des von den Zeitungen ausführlich behandelten Freelandunternehmens ausgearbeitet hatte. Mein Gedächtnis beschwerte sich mit dem Namen Brandlbergers. Es war nicht eben ein heroischer oder auch nur charakteristischer Name, und kein blendendes Schicksal von Heldentum eines Forschers war in ihm vorgesehen. Er mochte häufig genug sein und klang eher nach behaglichem Lebensgeschmacke denn nach eifernder Tatenlust. Aber ich fühlte eine Verbindung zu diesem Namen. Hatte nicht einer meiner Schulkameraden ihn getragen? Mein Gedächtnis quälte sich wie über eine seiner bösesten Sünden. Ach nein, ich hatte niemals einen Träger dieses Namens gekannt! Was mich quälte, war der Bleistift, den ich soeben verlegt hatte und inzwischen mechanisch suchte. Ich suchte ihn über und unter dem Schreibtisch, ich durchstöberte den Papierkorb, ich schaute, im vorhinein hoffnungslos, ins Gestänge der Schreibmaschine; ich riß endlich die Schubladen auf, in denen sich die Manuskripte häuften – – – da schoß mir, von dieser Bewegung zitiert, eine Erinnerung durch den Kopf, und ich verschmähte den Bleistift. Nach ein paar tastenden Griffen zwischen staubiges Papier hielt ich das umfangreiche maschingeschriebene Manuskript in Händen, das Hans Brandlberger mir vor langer Zeit persönlich übergeben hatte.

Dieser Vorgang spielte sich in den drei gut auf ihre Zwecke hin ausgestatteten Räumen ab, die sich Redaktion der »three worlds« nannten. »Three worlds«, für die ich damals die Lektüre einlaufender Manuskripte besorgte, waren eine internationale Monatsschrift, die philanthropischen Zwecken gewidmet war und in Peking, Frisko und Berlin, das heißt in den bedeutendsten und meistgesprochenen Sprachen der Welt erschien. Sie veröffentlichten Arbeiten jeder schriftstellerischen Art auf allgemein verständlicher Grundlage. Ein kurzer Einblick in das Manuskript Hans Brandlbergers hatte dessen Unbrauchbarkeit für unsere Zwecke erwiesen. Der Gang der Erzählung wird durch langwierige Ausführungen unterbrochen und die Technik des Vortrages ergeht sich streckenweise in so ungeheuerlichen philosophischen Abschweifungen, daß es fraglich erscheint, ob der Verfasser überhaupt je so etwas wie einen erzählenden Stil beabsichtigt habe. Aber dies war der ganze Grund nicht, aus dem »three worlds« die Aufnahme und Veröffentlichung der Arbeit trotz aller aktuellen Beziehungen zurückwiesen. Der Herausgeber der Zeitschrift, ein hochstehender und vielvermögender protestantischer Missionsleiter, dem ich das Manuskript nunmehr nach eingehender Lektüre mit leidenschaftlicher Empfehlung übergab, wies es nach Einsicht in ein paar Stellen wegen inhaltlicher Bedenken zurück. Es widersprach in seinen Ideen und Beweisführungen den philanthropischen Grundsätzen der von ausbeuterischen Millionären geförderten Zeitschrift.

Ich habe mich nun, angestachelt vielleicht durch die Leichtfertigkeit, mit der den Redaktionen dogmatische Einwände gegen oft wenig geprüfte Werke einer freien und unabhängigen Schöpfung geltend gemacht werden, entschlossen, das herrenlose Manuskript als Buch zu veröffentlichen. Ich bin mir vollständig darüber klar, daß ich durch diese Tat kaum die Literaturgeschichte, aber vielleicht die Geschichte der Menschheit um einen wertvollen Beitrag bereichere. Irgendwelche anderen künstlerischen Absichten, als scharf und umfassend zu beschreiben, treten darin nicht zutage, wie es von einem Manne, der naturwissenschaftliche und technische Studien betrieben hat, auch nicht anders zu erwarten ist. Wenn gleichwohl hier und da die Anstrengung deutlich wird, etwas zu schaffen, das ein Ergebnis von Kunst sein könnte, so möchte ich die Ermüdung des Verfassers im reinen Zeugenschaftablegen darauf zurückführen, daß es ihm mitunter wohl auch darum zu tun war, sein Erlebnis so gegenständlich und gegenwärtig als möglich zu verdeutlichen. Es war keineswegs ein klarer und in seinen Absichten ausgesprochener Mensch; dies geht aus seinen Schriften nur allzu deutlich hervor; er wollte vielleicht, während er Zeugenschaft ablegte, zu vieles zugleich, denn er besaß eine einzige Tugend: er war gründlich! So daß man seiner Arbeit zwar nicht die eines Kunstwerkes, aber immerhin die eines Dokumentes zuweisen kann.

Er legt Zeugnis ab von einem Typus, und dies ist selten genug. Hans Brandlberger war ein junger Mann vom Beginn des 20. Jahrhunderts, und er war durchaus so, wie alle jungen Leute dieser alten Zeit. Ich erinnere mich seiner persönlichen Erscheinung jetzt deutlich genug. Er war klein, schmal, aber kompakt in den Schultern, und trug in dem länglichen, blassen Gesichte ein ziemlich starkes Augenglas. Sein Haar war sehr blond und auf der linken Seite gescheitelt. Über die rechte Wange lief ein zarter Mensurschmiß, und diese Narbe gab ihm jenes Charakteristikum, nach dem man ihn einschätzte. Er schien ein junger Durchschnittsdeutscher zu sein. Diesen Eindruck jedoch straft die Durchsicht seines Buches ein wenig Lügen. Er war mehr als einer jener jungen deutschen Männer mit Überzeugungen, Mangel an Taschengeld und mehr oder weniger Aussichten auf eine bürgerliche oder staatliche Laufbahn; er war aber auch vielleicht weniger. Er war ein Grübler. Er war als der Typus des beginnenden 20. Jahrhunderts vor dem großen Kriege ein Mann ohne eigentliche Begabung und ohne Charakter, ja, kaum ein Mann von Geist – – wenn man unter Geist die harmonische Mischung von Freiheit und Gebundenheit des Urteils versteht. Und um Geist zu haben, war er zu frei und zuviel Wühltier. Aber er besaß die gewisse geistige Energie, die dieses Jahrhundert in seinem Beginne auszeichnete. Er war tief – – das heißt kleinlich, bei starkem, ethischem Interesse amoralisch und in mehr als einem Sinne liberal. Er war stets ein wenig böse und gereizt gegen sich. Er war analytisch.

Um sich einen Halt gegen seine Fehler zu schaffen, war er ehrlich. Es ist vielleicht die gewöhnlichste und heute nicht mehr verzeihlichste Art, seine Schwäche zu beschönigen. Und schon, glaube ich sagen zu dürfen, ahnte er dies. Sein Verhältnis zu Jack Slim, dem Amerikaner, wurde ihm zum Problem. Er geriet so außerordentlich unter den Einfluß dieses Mannes, arbeitete sich so gründlich an dieser ihm ganz entgegengesetzten und darum seiner Sehnsucht kaum fremden Natur zu einer Art Nachfolgerschaft durch, daß es beinahe scheinen möchte, als sei sie eine freie Erfindung seines spekulativen Dranges, seines heftig monologisierenden Innenlebens. Ja, ich wurde, von der Lektüre seines Manuskriptes scharf, argwöhnisch und kombinationslustig gemacht, nicht anstehen, eine solche Behauptung einfach aufzustellen und aus gewissen Stellen zu belegen, wenn nicht Jack Slim eine historische Figur gewesen wäre, von der die meisten unter uns erfahren und sich ein Urteil gebildet haben.

Man weiß ja, wer Jack Slim war; der seltsamste Mensch vielleicht, der seit Cagliostro Europa zum Aufhorchen oder Lächeln veranlaßt hat. Er war berüchtigt durch seine politische Exzentrizität, seine unmöglichen Prophezeiungen über die Entwicklung des menschlichen Geschlechtes und seine theosophischen Bestrebungen. Er hatte Verbindungen an allen Ecken der Welt, war ein Freund Tolstois, kannte als Student Gauguin, saß in Wiener Kaffeehäusern an der Tafelrunde Altenbergs und beriet den deutschen Kaiser. Man weiß heute, daß er es war, der Kaiser Wilhelm II. beim Ausbruch des Burenkrieges zur Abgabe jener drohenden Depesche gegen E. veranlaßte. Er war aus irgendeiner seiner vielen Paradoxien her ein politischer Gegner der Engländer; vielleicht auch nur darum, weil seine orientalische Herkunft, die sich gern mit Indien identifizierte, mächtiger war, als bekannt ist. Denn es ist in der Tat so ziemlich nachgewiesen, woher Slim, der Amerikaner, eigentlich kam. Sein Großvater, Selim Bukabra, ein Araber aus dem Hedjas, war gerade zur Zeit, als der preußische Hauptmann Helmut Moltke in türkischen Diensten weilte, Offizier des Sultans gewesen. Er war einer der intelligentesten und fähigsten Soldaten der Reorganisationsperiode und schloß sich dem Preußen in Freundschaft an, als dieser in seinen ursprünglichen Dienst zurückkehrte. Er heiratete eine deutsche Offizierstochter und begab sich später mit ihr nach Nordamerika, wo er sich in der Marine eine Laufbahn zu schaffen wußte. Er trug hier seinen verkürzten verstümmelten Vornamen als Familiennamen. Sein Sohn Jack, in der Kriegsmarine der Union erzogen, trat später in die Handelsmarine über und verlegte den Schwerpunkt seiner Tätigkeit nach Peru. Dies ist der Vater des historischen Jack Slim. Die Herkunft von Jack Slims Mutter war in jeder Beziehung dunkel. Man hat über sie nie etwas anderes in Erfahrung bringen können, als daß sie, ungebildet, aus der Hefe des eingeborenen Volkes stammte und niemals mit Jack Slim dem Älteren verheiratet war. Der junge Jack wurde gleich seinem Vater auf einem U. S. A. Schulschiff erzogen und ging später in die Welt hinaus.

Seine Vorliebe für das deutsche Volk ist bekannt. Alle seine politischen Projekte beschäftigen sich mit der Zukunft des Deutschtums. Er hatte drei Ideen, die er immer wieder vertrat. Er befürwortete die Gründung eines großen deutschen Kolonialreiches in dem noch unerforschten Arabien. Er, der nächst Palgrave der größte Arabienreisende gewesen ist, pflegte zu beteuern, daß Arabien reichlich so vielversprechend sei wie Kanada oder Sibirien; und daß die deutsche Nation hier ein Kulturwerk schaffen könnte, das selbst Indien hinter sich lassen würde. Seine zweite Idee hängt mit den mystischen Neigungen seines Temperaments zusammen. Er war Katholik und wußte sogar auf den deutschen Kaiser eine Zeitlang einen starken Einfluß in dieser Richtung geltend zu machen; Katholizismus und Weltmannstum schienen ihm identisch. Seine Broschüre über die Zukunft des österreichischen Staates gipfelte in der Aufforderung, dem Papsttum dadurch seine Unzukömmlichkeit für die nördlicheren Nationen, Deutsche und Slawen, zu nehmen, daß man seinen Sitz in eine österreichische Provinz, nach Steiermark oder Tirol, verlegte. Er erhoffte sich von dieser staatsmännischen Tat eine vollständige Umwälzung der geistigen Richtung; worauf es nach seiner Meinung in dem vom Liberalismus zersetzten Österreich ankam. Im Zusammenhang damit mochte seine Idee über die Schöpfung eines jüdischen Reiches am Schwarzen Meere stehen. Es war als Reservoir für das die übrige Welt mit auflösenden Tendenzen speisende jüdische Volk und als Pufferstaat gegen die asiatischen Gebilde der Zukunft im Tibet und in Kaukasien gedacht. Vielleicht war hier übrigens nicht nur die Sympathie für den reinen Typus des Westariers, sondern auch jene für das semitische Element, von dem er einen guten Teil in sich trug, ausschlaggebend. Solchen Einflüssen entzieht sich auch der freieste Geist nur schwer. Und Slim wollte sich ihnen gar nicht entziehen: er sah in ihnen im Gegenteil die Werte für jede Kulturbildung. Es geschieht das Eigentümliche, daß wir hier einen Mann, dessen geistige Erfahrung, Blutzusammensetzung und Bildung ihn zu einem Nihilisten bestimmen, als konservativen Typus wirken sehen. Es ist, als ob die Natur in ihm nach Kämpfen, Mischungen und Versetzungen einen wirklich reifen Typus hätte schaffen wollen.

Immer wieder hat es Männer, die dieses interessante Leben verfolgten, beschäftigt, warum trotz alledem Slims Pläne, die eine Welt hätten neu aufbauen können, scheiterten. Nichts von seinen Ideen ist bis heute verwirklicht; vielleicht nicht einmal er selbst. Nun, nachdem ich das Manuskript des deutschen Ingenieurs gelesen habe, glaube ich es zu wissen. Er war zu langschrittig; er ließ die allgemeine und naturgemäße Entwicklung nie an sich herankommen; die Folge davon war, daß Menschen, die weniger begabt waren als er und ihm nicht folgen konnten, es im allgemeinen weiter brachten. Was sich niemand bei seinem Anblicke, der einen sachlichen, lebhaften und waghalsigen Blutmenschen enthüllte, hätte einfallen lassen, wird aus einer Bemerkung deutlich, die er über sich selbst dem Ingenieur gegenüber fällt: er war ein durchaus theoretischer Mensch, für den auch die höchste und brutalste Aktivität nur ein geistiges Entwicklungssymbol war. In dieser Offenbarung aber einen historischen Menschen, der uns alle durch sein reiches und groteskes Leben beschäftigt hat, suche ich den Wert des vorliegenden Buches, das ein alltägliches und unrühmliches Ende erzählt. Es ist kein Zweifel, daß der Jack Slim des Buches und jener Jack Slim eine Person sind. Wenn ich ganz ehrlich bin, muß ich gestehen, daß diese Überraschung der letzte und wirksamste Grund zur Veröffentlichung des vorliegenden mangelhaften Manuskriptes geworden ist. Slim wurde das Opfer einer Eifersucht. Man denke sich drei weiße Männer, die mit der Glut der Tropen im Blute um eine Indianerin werben – da fällt mir ein, sie hieß Zana. Ob die Trägerin dieses Namens mit jener Priesterin Zaona identisch ist, die Jahre nach den Geschehnissen, die hier erzählt sind, den großen Indianeraufstand entfesselte, war nicht zu erweisen. Vielleicht war sie es wirklich, dann lag nur eine individuelle Lautauffassung ihres Namens vor. Und dann hätten wir wieder einen der seltsamen Züge aber die Beziehungen der Menschen in der Wirklichkeit vor uns, einen jener Züge, an denen dieses geheimnisvolle Buch so reich ist.

Und geheimnisvoll ist es, dieses Buch. Es vermeidet die Aussprache von gewissen tiefen und bösen Dingen und verhütet so, daß sie zu moralistischen Dingen werden. Es hat ersichtlich das Bestreben, ehrlich zu sein, und ist darum ersichtlich unaufrichtig und indirekt. Die Absicht des Verfassers, die Brutalität des Tiefsten der Ergänzung statt der Erzählung zu überlassen, scheint sein leitender Gedanke und seine heikelste Scham gewesen zu sein. Wie also Slim und der Holländer starben – ich erwarte da mit dem Verfasser vieles von dem Verständnis und dem Takt der Leser.

Dies nun ist die Geschichte eines deutschen Ingenieurs.


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