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Der traumhaft schöne Garten der Villa Melzi in Bellaggio, wo »die Myrte still und hoch der Lorbeer steht« und zwischen mächtigen Baumgruppen den Blick freigibt auf den blauen See und auf die zur Weihnachtszeit von weißem Schnee bedeckten, kühn und anmutig gezeichneten Berge – das war die Umwelt, die Cosima zuerst erblickte. Den Garten schmückte auch eine Marmorgruppe: Dante und Beatrice von Comolli. Liszt empfand sie allerdings nicht als Schmuck. Er war mit der Auffassung des Bildhauers gar nicht einverstanden. Aber auch in dem Riesenwerk Dantes hatte ihn von jeher etwas unangenehm berührt: daß Beatrice vom Dichter nicht als das Ideal der Schönheit, sondern als das der Wissenschaft gedacht ist. Es gefiel ihm nicht, in diesem verklärten Leibe den Geist einer Theologin zu erblicken, »die das Dogma erklärt, die Ketzerei verdammt und über die ewigen Geheimnisse verhandelt. Nicht durch Abhandlungen und Beweisführungen beherrscht das Weib des Mannes Herz«, so lesen wir in dem erwähnten Briefe an Ronchaud. »Ihr steht es nicht zu, ihm die Gottheit zu beweisen, sondern sie ihn Kraft der Liebe ahnen zu lassen und ihn nach sich zu ziehen, dem himmlischen entgegen. Nicht im Reich des Wissens, nein! im Reich des Fühlens äußert sich ihre Macht, das liebende Weib ist hehr und der wahre Schutzengel des Mannes; das gelehrte, auch das gottesgelehrte Weib ist ein Unding, das in der Hierarchie der Wesen nirgends an seinem Platze ist.«
Das liebende Weib und der von ihm geschützte und emporgetragene Mann – das waren auch die beiden Hauptgestalten jener Dante-Sonate, die in der Villa Melzi geschaffen wurde. Sie wird in den meisten Büchern fälschlich als eine Vorstufe der Dante-Sinfonie bezeichnet. Aber sie hat nichts mit dem späteren größeren und gedankenvolleren Werk zu tun, in dem Beatrice überhaupt nicht vorkommt. Die Sonate versucht es in keiner Weise, den tiefen Gehalt der Danteschen Dichtung musikalisch auszudrücken. Sie ist nur ein leidenschaftliches Selbstbekenntnis und trägt bezeichnenderweise die Überschrift »Nach dem Lesen Dantes«. Die Bezeichnung Dante-Sonate, eine landläufige Abkürzung, ist nicht von Liszt geprägt. In dieser Sonate veranschaulicht uns die langatmige, seelenvolle Melodie des Mittelsatzes jene bloß liebende, verstehende, verzeihende und erlösende Beatrice, die für Liszt, in Übereinstimmung mit Goethe, das Ewig-Weibliche bedeutete. Der Hauptsatz aber schildert den Sturm und Drang in der Brust des Mannes, dessen Herzensnöte und Gewissensqualen in der Hut der Liebe, geführt vom Weibe, den Ausgleich und den Frieden finden.
Es ist bedeutungsvoll, daß dieses hinreißende Tonstück, das eigentlich niemand kennt, gewissermaßen ein Wiegenlied für Cosima war. Liszt selbst hat keine Beatrice gefunden. Sowohl bei Marie d'Agoult als auch, in den künftigen Jahren, bei Carolyne Wittgenstein war der Verstand stärker als das Gefühl, der Eigenwille größer als die Kraft der Hingebung. In beiden war viel Geist und Gelehrsamkeit, und wenn Marie das Band, das sie mit Liszt vereinte, frühzeitig lockerte, um ihre Selbständigkeit nicht zu verlieren, so schlang es Carolyne nach der Beschwichtigung des ersten Liebessturmes nur um so fester, um den Freund zu lenken und womöglich zu unterjochen. Nur die unvergessene Jugendliebe, die Komtesse de St. Cricq, die aber für Liszt nur ein Traum war, der keine Erfüllung fand, konnte ihm als Beatrice gelten. Aus seinem Verlangen nach einer höheren und stärkeren Liebe, als die er selbst genießen durfte, entsprang Cosima, sein leibliches Kind. Das Leben Cosimas in seiner großartigen Entwicklung und Vollendung ist nichts anderes als die so seltene irdische Verwirklichung des von Liszt geschauten überirdischen Bildes des wahrhaft liebenden Weibes.
Getauft wurde Cosima nach dem Heiligen, der dem See den Namen gegeben hat. Mitbestimmend für die Wahl des Taufnamens war die Erinnerung an die Titelheldin eines Bühnenwerkes der befreundeten George Sand. Außerdem führte das Kind, da es außer der Ehe geboren war, den Mädchennamen der Mutter: Flavigny. Liszt, dem Marie d'Agoult am 9. Mai 1839 in Rom auch einen Sohn schenkte, der den Namen Daniel erhielt, erwirkte im Jahre 1844 in seinem Heimatlande Ungarn die landesfürstliche Legitimierung seiner drei Kinder. Cosima Flavigny wurde Cosima Liszt.
Von Marie d'Agoult sagte Cosima im späten Greisenalter, sie habe etwas Heroisches an sich gehabt. Jedenfalls war sie eine ungewöhnliche Frau, und die Art, wie sie Liszt eroberte oder sich von ihm erobern ließ, wie sie ihn festzuhalten suchte und sich dann stolz von ihm wandte, ohne die Trennung je völlig verwinden zu können, verleiht ihr etwas von tragischer Größe. Aber das Mütterliche im schönsten weiblichen – oder auch nur im herkömmlich-bürgerlichen – Sinne war dieser Mutter von fünf Kindern nicht gegeben.
Blandine hatte sie in Genf zurückgelassen, in der Pflege einer Amme unter Aufsicht des evangelischen Pfarrers Demelleyer. Als nun auch Cosima in der Wiege lag, verlangte sie Blandine zurück. Doch das Kind war kränklich, und Demelleyer trug Bedenken, das Mädchen dem so frei und unbekümmert dahinlebenden, die herrschende Sitte mißachtenden Elternpaar auszuliefern. Marie wandte sich an Adolf Pictet, der die Sache in Ordnung bringen sollte. Eben die Kränklichkeit Blandinens machte sie ernstlich besorgt. »Wenn Blandine überhaupt noch lebt«, schrieb sie, »so hat sie das nur einem Eingreifen von oben zu verdanken – einem Eingreifen jener leuchtenden Dreiheit, welche die hochwürdigen Frauen die Hochheilige Dreifaltigkeit nennen und wofür Sie« (nämlich Pictet) »die Bezeichnung ›rationale Notwendigkeit‹ gebrauchen. Die Amme hat das doppelte verlangen des Herzens und des Geldbeutels, das Kind noch zu behalten, und hat verstanden, den Pastor so unter ihre Herrschaft zu bekommen, daß der eine wie die andere Hindernis auf Hindernis, Brief auf Brief häuften, ohne zu einem Schluß zu kommen.« Marie erklärte, daß sie nicht selbst zum Rechten sehen könne, da auch sie kränklich sei und überdies gar nichts von Kinderpflege verstehe. Sie wäre mit diesem kleinen Mädchen im Arme beim Überschreiten des verschneiten Simplon in der größten Verlegenheit. Pictet tat das Mögliche, verwendete auch das nötige Geld und brachte es endlich dahin, daß Blandine nach Mailand kommen und Marie sie dort abholen sollte. Doch im Augenblick der Abreise bekam Blandine den Keuchhusten. Da für diesen bekanntlich die Luftveränderung das Wohltätigste ist, gelang es doch, zu Beginn des Jahres 1839, die Amme mit dem Kinde nach Mailand zu befördern. Nun kam aber die Mutter nicht, da diese sehr erkältet war. Zehn Tage später wurde endlich das Kind der Mutter in Florenz übergeben, »groß, kräftig und frisch, trotz dem Keuchhusten, der übrigens fast verschwunden ist und keinen ernsten Charakter hat«.
Nun waren beide Mädchen zusammen. Aber es war doch wieder nur eine Amme oder eine Kinderfrau, die für sie sorgte. Vater und Mutter wechselten fortwährend ihren Aufenthalt. Von Bellaggio waren sie nach Venedig gekommen und hatten eine Reihe italienischer Städte besucht. Marie hatte die Bäder von Lucca gebraucht, hierauf wohnten sie in Florenz und in Rom und gingen abermals nach Lucca und nach San Rossore bei Pisa. Doch Marie war immer häufiger allein. Die Nachricht von einer Überschwemmung in Ungarn entführte Liszt von Venedig nach Wien, wo er für die Betroffenen spielte. Der Erfolg und der Ertrag waren so bedeutend, daß die Zahl der Konzerte sich erheblich vermehrte. Liszt blieb länger aus, als er gedacht hatte, und kehrte zwar zu Marie zurück, war aber so erfüllt von dem künstlerischen Siege, den er errungen, daß er nur ans Weiterkämpfen dachte, daß es für ihn keine Seßhaftigkeit mehr gab, daß bequemes Behagen ihm als Verrat an seiner Sendung erschienen wäre.
Er gab Konzerte in Italien, reiste nochmals nach Wien und dann nach Ungarn zu seinen Landsleuten. Es war der Beginn des Wanderlebens, dem er nun für ein Jahrzehnt verfallen blieb, das ihn hin und her, auf und ab durch ganz Europa führte, das ihn Woche für Woche, oft Tag für Tag von einer Groß- oder Kleinstadt in die andere hetzte – und wo er hinkam, feierte er Triumphe. Die unerhörten einmaligen Triumphe des Einzigen unter den Klavierspielern, dessen Zaubergewalt dem spröden Werkzeug eine Klangfülle, einen Farbenreichtum, eine Vielstimmigkeit, eine Seele ohnegleichen verlieh. Die Welt wußte sich nicht zu fassen vor diesem Wunder. Das war die reifste, männlichste Erfüllung des einstigen Wunderkindes. Der Siegeszug des Künstlers bedeutete aber auch die beispiellose Kraftleistung eines ruhelosen Menschen. Überall festliche Empfänge, rauschende Veranstaltungen, überwältigende Gastfreundschaft. Liszt wird von Kaisern und Königen empfangen, verkehrt bei Hof und in den höchsten Kreisen, steht im Mittelpunkte der Gesellschaft, gewinnt eine begeisterte Anhängerschaft unter den Reichen und Vornehmen. Er wird mit den kostbarsten Geschenken überhäuft, das Geld strömt ihm nur so zu, er wirft es aber auch mit vollen Händen fort, kein Bedürftiger wird von ihm gewiesen, für jeden würdigen Zweck gibt er Wohltätigkeitskonzerte, er lindert die Not und trocknet die Tränen, wenn ein großes Unglück geschehen ist, er fordert und ermöglicht Stiftungen und Denkmäler, die ohne ihn weiß Gott wann zustande kommen würden – und er vergißt nie die Mutter und die Kinder.
Daneben arbeitet er unermüdlich. Heute Phantasien und Transkriptionen, wie sie der Zeitgeschmack wünscht, mit denen er aber niemals bloße Tagesware liefert, in denen seine schöpferische Begabung wundersame neue Töne findet; morgen Entwürfe und Vorarbeiten für die großen Werke, die er später vollenden wird. Für jetzt denkt er weniger an sich als an alle anderen, die um Geltung ringen. Er hat die Macht, die er ausübt, in den Dienst einer höheren gestellt, als ein Herold und Priester echter Kunst. Beethoven und Weber, Schubert und Schumann macht er auch dort konzertfähig, wo man bisher nur der seichten Mode frönte; und mit selbstloser Hartnäckigkeit wirbt und wirkt er für die Jüngeren, Emporstrebenden, die ihm die Großen der Zukunft sind – besonders für seinen Freund Hektor Berlioz, den später ein Größerer und Heißergeliebter, Richard Wagner, verdrängen wird. Eine Tätigkeit, die sonst mehr als einen Menschen verbrauchen würde, die aber den schlanken, sehnigen und geschmeidigen, immer noch jünglinghaften Liszt wahrhaft jung erhält und ihn an keinem Lebensgenusse hindert. In vollen Zügen schlürft er das Dasein, und fast kennt er keinen Unterschied zwischen strenger Arbeit und der übermütigsten Bejahung auch der oberflächlichsten sinnlichen Freuden.
Denn an allem ist er mit Leib und Seele, mit seinem ganzen lodernden Wesen beteiligt, wenn er sich Ferien gönnt, auf einem Schlosse oder in einer schönen Gegend, wo man wetteifert, ihn zu erfreuen und zu belustigen, dann nehmen die Huldigungen, die ihm dargebracht werden, erst recht die abenteuerlichsten Formen an. An Schlaf ist hier so wenig zu denken wie im Wirbel der Konzertreisen. Dann und wann, um wirklich auszuruhen, ist er bei Marie, mit der ihn auch eine neue stürmische Zärtlichkeit verbindet, die ihn dennoch nicht zum Bleiben zwingt. Man sieht, Liszt hat redlich das Seine getan, um die Fesseln abzustreifen. Marie aber suchte und fand keineswegs den Ersatz in stiller Häuslichkeit und sorgender Mutterliebe. Die Kinderfrau behütete die ersten Schritte, belauschte die ersten Gespräche ihrer Kleinen.
Wir wissen nichts Näheres über die frühesten Jahre Cosimas. Wir können nur feststellen, daß sie keine Mutter hatte, und mögen dies damit entschuldigen, daß es allgemeine Gepflogenheit der oberen Zehntausend in Paris war, die Kinder für die erste Zeit aus dem Hause zu geben und einer Pflegemutter auf dem Lande anzuvertrauen. Doch wir atmen förmlich auf, wenn wir endlich erfahren, daß sie im vierten Lebensjahre zur Großmutter Liszt nach Paris kam. Liszt hielt es für notwendig, daß die Kinder erzogen werden, und wußte, daß es zunächst keine bessere Erzieherin gab als seine eigene Mutter, die zwar eine einfache Frau geblieben war, den Enkeln aber ein treues Herz und ein trautes Heim zu bieten hatte. Marie d'Agoult war des Umherziehens müde und wollte wieder Pariser Luft atmen. Auch die früher oder später unumgängliche Aussöhnung mit den Verwandten und der Pariser Gesellschaft konnte sie nur an Ort und Stelle richtig vorbereiten. Sie mußte erst versuchen, ob sie überhaupt in ihren Kreisen Aufnahme fand, und sie bedurfte eines einleuchtenden Grundes, um wieder in Paris zu erscheinen und länger dort zu bleiben. So führten die beiderseitigen Wünsche zu der friedlichen Übereinkunft, daß Marie mit den Kindern zu Anna Liszt zog und Franz dort jederzeit absteigen konnte, wenn er wieder einmal »ausruhen« wollte.
Die Hochsommerwochen der Jahre 1841 bis 1843 verbrachte er zusammen mit Marie und den Kindern auf der Insel Nonnenwerth im Rhein bei Rolandseck. Das waren die einzigen Wochen, in denen sich Marie d'Agoult mit den Kindern näher befaßte. In Paris ging sie, trotz der gemeinsamen Wohnung, ihre eigenen Wege und überließ die Muttersorge der Großmutter, die nun freilich über ihre Herzensgüte und ihre angeborene Lebensweisheit hinaus den Heranwachsenden nicht viele nützliche Kenntnisse für ein Leben in den höheren Ständen vermitteln konnte. 1844 verließ Marie d'Agoult auch die gemeinsame Wohnung. Ihre Mutter war gestorben, und sie erbte von ihr ein bedeutendes Vermögen. Nun konnte sie sich von Liszt gänzlich unabhängig machen. Sie bezog ein eigenes Haus und eröffnete wieder einen glänzenden Salon, der allerdings weniger von Aristokraten als von Männern des Geistes und der Wissenschaft besucht war. Doch da fühlte sie sich so recht in ihrem Elemente. Sie war ja selbst inzwischen Schriftstellerin geworden, beschäftigte sich wie einst am liebsten mit Geschichte und Politik und kannte keine größere Genugtuung, als wenn sich ein Kreis von Gelehrten, Staatsmännern und öffentlichen Rednern um sie versammelte, der nicht nur ihre bezwingende äußere Erscheinung, sondern auch ihren Verstand, ihre Kenntnisse und ihre kluge Beherrschung des Wortes aufrichtig bewunderte.
Die Kinder blieben mit der Großmutter allein. Aber dies sollte nicht lange mehr dauern. Besonders für die Mädchen wurde es allgemach Zeit, daß sie sich die Schulbildung und auch die gesellschaftlichen Formen aneigneten, wofür die Großmutter keine Lehrmeisterin war. Liszt, der Marie d'Agoult gegenüber sehr nachdrücklich darauf bestand, daß nur er fortan die Erziehung und den Unterricht seiner Kinder zu bestimmen und natürlich auch die Kosten allein zu tragen habe, gab zunächst die zehnjährige Blandine in die Erziehungsanstalt der Frau Bernard, die von den vornehmen Familien gesucht und geschätzt war. Die jüngere Cosima, deren zarte Gesundheit besondere Rücksicht heischte, wurde einstweilen bei der Großmutter belassen. Aber die Schwestern waren so aneinander gewöhnt, die Mutterlosigkeit hatte die Geschwisterliebe so stark genährt, daß ihnen die Trennung schweren Kummer verursachte. Es wurde allerdings ermöglicht, daß Cosima an jedem Donnerstag in die Anstalt kam, um Blandine zu besuchen, und daß diese jeden Sonntag im Hause der Großmutter verbringen durfte. Doch die leidenschaftliche Zärtlichkeit, die die Mädchen verband, wollte sich nicht damit begnügen, und besonders Cosima verlangte so ungestüm und beharrlich nach der Wiedervereinigung, daß die Großmutter endlich auch sie in die Anstalt gab und Liszt dies billigte. Nun kam das große Leid über den armen Jungen, über Daniel, der sich ohne die Schwestern ganz vereinsamt fühlte und darob beinahe erkrankt wäre. Wenn man ihm begreiflich zu machen suchte, daß bei Frau Bernard eben nur Mädchen untergebracht werden dürfen, sagte er: »So gebt mir ein Kleid und einen Hut von Cosima, und ich bin auch ein Mädchen!«
Liszt blieb lange Zeit unsichtbar, da er eine Begegnung mit Marie vermeiden wollte und aus diesem Grunde nicht gern nach Paris kam. Er hatte sich vielleicht noch früher der Gräfin entwunden, als sie sich innerlich selbständig machte, und die Chronik seines Wanderlebens berichtet, auch wenn wir jedes leichtfertige Gerücht und jede unverbürgte Anekdote ausscheiden, von manchen Beziehungen, die hingereicht haben würden, um das Herz Mariens mit unversöhnlicher Eifersucht zu erfüllen. Aber sie selbst hatte ihn immer wieder freigesprochen, immer wieder an ihr Herz gedrückt, und wenn auch sie sich ihm allmählich entzog, so betraf dies weniger das Verhältnis von Mann und Weib als vielmehr das Freundschaftsverhältnis, das die Liebe festigen muß, die Übereinstimmung der Persönlichkeiten. Liszt hatte es nie an der gebotenen Rücksicht fehlen lassen, war ihr stets nur achtungsvoll begegnet, verriet kaum den nächsten Freunden die Qualen und Aufregungen, die ihm die bereits erschütterte und immer wieder künstlich aufrechterhaltene Gemeinschaft verursachte, und trug in seiner taktvollen und ritterlichen Weise, die auch vom Grafen d'Agoult anerkannt wurde, wesentlich dazu bei, daß Marie von neuem eine Stellung in Paris gewinnen und schließlich zu ihrem Gatten zurückkehren konnte.
Marie hingegen? Wir können jede Enttäuschung begreifen – wir verstehen es, wenn enttäuschte Liebe sich in Haß verwandelt. Aber es ist doch nicht zu entschuldigen, daß Marie sich hinreißen ließ, im Jahre 1846 den Roman »Nélida« zu veröffentlichen, einen Schlüsselroman, der ganz offenkundig ihren Bund und ihr Zerwürfnis mit Liszt zum Gegenstand hatte und alle Schuld auf das Haupt des Mannes häufte. Daß die Tatsachen nicht stimmten, die sie in diesem Buche erzählte, mag noch hingehen: sie durfte sich damit ausreden, daß sie die Wahrheit absichtlich verschleiert und von dem Recht der Dichtung freiesten Gebrauch gemacht habe. Und wenn sie Liszt nur der Untreue oder sonst einer kränkenden Handlung bezichtigt hätte, so würde das Tatsächliche überhaupt schwer festzustellen sein, und es bliebe ihr in jedem Falle die Entlastung, daß sie selbst die Dinge nicht anders erlebt oder empfunden habe, daß ihre wirkliche Kränkung ihr kein anderes Urteil gestatte. Doch der Maler Guermann, der im Roman die Stelle Liszts einnimmt, ist nach ihrer Darstellung ein roher, eitler, kleinlicher, zum Müßiggang neigender plebejischer Künstler ohne Pflichtbewußtsein, ohne höheren Ehrgeiz, ohne echte Begabung, und sogar ein Mann, der von der vornehmen Welt, in der er sich als Emporkömmling breitmacht, schließlich nur entwürdigend behandelt wird und sich das ruhig gefallen läßt. Ein gröberes Zerrbild vom Wesen Liszts, eine schlimmere Verkennung oder Verleugnung der sonst nie verkannten oder bezweifelten Grundzüge seines Wesens läßt sich nicht denken. Dabei ist es merkwürdig, daß Marie d'Agoult dem Maler Guermann Worte in den Mund legt, die unverkennbar Lisztsches Gepräge tragen und keineswegs nur zur Ehre Nélidas gereichen. Das Buch macht uns heute den Eindruck, daß es in einer großen seelischen Erregung, in einem Gefühl der Erbitterung und aus dem Drange, das eigene Verhalten zu rechtfertigen, geschrieben ist. Dies könnte uns mit der Verfasserin versöhnen, wenn sie in ruhigeren Tagen, und da sie doch stets – der Kinder wegen – mit Liszt brieflich verkehrte, das Werk hätte verschwinden lassen. Statt dessen gab sie es zwanzig Jahre später von neuem heraus!
Wer das erste Erscheinen mit Gleichmut aufnahm, sein Staunen und seinen Tadel in die Form rein sachlicher Beurteilung zu kleiden wußte und imstande war, der Verfasserin sogar anerkennende Worte zu schreiben und anderen gegenüber ausdrückliche zu betonen, daß er stets entzückt sei von ihrem lebhaften Geiste und daß er, was auch geschehen möge, ihr aufrichtig ergeben bleibe – das war eben Liszt, der durch dieses Verhalten die Darstellung des Buches gründlich widerlegte und dem die Fratze des Herrn Guermann auch niemals geschadet hat. Im Alter mußte er eine ähnliche, nur weit ärgere Herabwürdigung vor der Öffentlichkeit durch Olga Janina über sich ergehen lassen. Doch er ließ sich zeitlebens durch persönliche Angriffe ebensowenig erschüttern wie durch verständnislose oder gehässige Urteile über sein künstlerisches Wirken. Nach der Nélida-Affäre hatte er an den Fürsten Felix Lichnowsky geschrieben: »Ich hege die fest verständige Überzeugung, daß in mir ein anderer Kern steckt, als ihn hie und da manche Leute herauszufinden prätendieren.« Mit solchen scheinbar leichten Worten, denen aber die besondere Veranlassung ein starkes seelisches Gewicht gab, war der böse Fall für ihn erledigt. Immerhin war es das Natürliche, daß er Marie nicht wiederzusehen wünschte. Auch die Kinder sollten sie so wenig wie möglich sehen.
Die Mädchen waren also bei Frau Bernard. Daniel kam dann auch zu einem Lehrer und hierauf ins Lyzeum Bonaparte. Im Erziehungsplane der Mädchen nahm die Musik eine bevorzugte Stellung ein. Liszt ließ den Klavierlehrerinnen sagen, daß er besonderen Wert auf das Vomblattlesen und das Auswendigspielen lege. Die religiösen Übungen verstanden sich von selbst. Am 3. Mai 1847 berichtete Cosima ihrem Vater von dem »größten Ereignis ihres Lebens«, von ihrer ersten Kommunion, der acht Tage später die Firmung folgte. Die Briefe an den Vater sind meist französisch, manchmal auch englisch geschrieben. Cosima wurde jedoch auch im Deutschen unterrichtet, und einer ihrer ersten Kinderbriefe, der uns erhalten ist, war ein Namenstagsbrief an Frau Anna Liszt, mit folgendem Wortlaut:
»Meine liebe Großmutter!
Wem danke ich allein des Lebens Entzücken,
Wer naht mir so liebreich mit zärtlichen Blicken?
Ich fühl' es und vergesst es nie,
Denn mein ganzes Glück sind Sie.«
Wir müssen annehmen, daß auch die Umgangssprache im engsten Kreise der Familie, wenn diese sich um die Großmutter versammelte, häufig die deutsche war.
Liszt unterwarf die Briefe seiner Töchter einer schulmäßigen Beurteilung: er tadelte häufig die Ausdrucksweise oder bemängelte die Rechtschreibung. Er überwachte auch sonst ihre Fortschritte und ließ sich dann und wann Proben ihrer Aufsätze und Zeichnungen vorlegen. Im übrigen zollte er der Frau Bernard und deren Tochter Laura, die hauptsächlich den Unterricht erteilte und von den Mädchen besonders verehrt wurde, Lob und Anerkennung. Er war aber durchaus kein nachsichtiger, vielmehr ein sehr anspruchsvoller Vater. Er verlangte unbedingten Gehorsam und war immer eher zum Tadel als zum Lobe bereit. So kam es vorübergehend auch zu einer gewissen Spannung zwischen ihm und den Kindern. Aus den Briefen Blandinens, die als die Älteste den schriftlichen Verkehr mit dem Vater besorgte, entnehmen wir, daß die Mädchen Verlangen nach der Mutter hatten, daß diese aber nach einigen flüchtigen Begegnungen nicht nur selbst fernblieb, sondern offenbar auch von Liszt ferngehalten wurde. Er scheint geradezu den Auftrag gegeben zu haben, daß die Kinder nicht ohne besondere Erlaubnis mit der Mutter verkehren durften, und die Großmutter scheint darüber gewacht zu haben. Denn eines Tages, im Februar 1850, berichtete Blandine, daß sie und Cosima, von einem unwiderstehlichen Drange getrieben, die Mutter aus eigenem Entschluß aufgesucht und der Großmutter nichts davon gesagt hätten. Seither sei die Mutter auch schon wiederholt bei ihnen gewesen und habe sich um ihre Studien und Aufgaben gekümmert, hier verstand nun Liszt keinen Spaß. Er wünschte weder diesen Verkehr ohne Aufsicht und Beobachtung, noch konnte er sich die Einmischung in die Studien gefallen lassen. Blandine suchte sich zu entschuldigen mit dem »Schrei des Herzens«, den sie vernommen, mit der natürlichen Empfindung, die sie zur Mutter drängte. Aber Liszt, der den Brief seiner Tochter als offenbar diktiert bezeichnete, hatte für den »Schrei des Herzens« nur gelinden Hohn übrig und wies besonders die »naive« Bemerkung Blandinens, der Vater habe seine Kinder der Mutter berauben wollen, mit der ganz bestimmten Erklärung zurück, daß vielmehr die Mutter ihre Kinder jener Sorge, Liebe und Hingebung beraubt habe, die von der Natur, der Sittlichkeit und dem Glauben vorgeschrieben sind als Pflichten, von denen keine schöne Phrasen und keine poetischen Rührseligkeiten befreien können.
Cosima, die versichert hatte, sie werde gern »entsagen«, da sie an den guten Gründen ihres Vaters nicht zweifle, ließ er durch Blandine darüber belehren, daß beide Mädchen nicht nur zu entsagen, sondern einfach alles gutzuheißen hätten, was er bestimme. Für jetzt veranlaßte er, daß die Mädchen die Anstalt der Frau Bernard und ihr geliebtes Fräulein Laura verließen und zur Großmutter zurückkehrten, wo sie ihr »neues Schicksal« abzuwarten hatten.
Dieses neue Schicksal, das da plötzlich über die Mädchen hereinbrach, war aber nur eine Auswirkung des größeren Schicksals, dem Liszt selbst sich unterworfen hatte. Am 10. Februar 1847 hatte er in einem Briefe an Marie d'Agoult seine Bekanntschaft mit der außerordentlichen und hervorragenden (» très extraordinaire, mais très extraordinaire et éminente«) Fürstin Sayn-Wittgenstein erwähnt. Er mache zwanzig Meilen Umweg, um mit ihr sprechen zu können. Und am 5. September desselben Jahres hatte er seiner Mutter geschrieben: »Die Lösung meiner Lebensfrage naht. Ein ebenso unerwartetes als entscheidendes Ereignis scheint die Waagschale des Geschickes auf Seite des Glückes zu neigen und stellt mir eine Lebensaufgabe, der ich mich gewachsen fühle – es müßten denn sehr unglückliche und unvorherzusehende Zufälle die Verwirklichung meiner Hoffnungen verhindern.«
Carolyne Sayn-Wittgenstein, geborene Iwanowska, hatte auf ihrem Landsitz in Rußland mit Liszt, der im nahen Kiew Konzerte gab, nicht nur eine oberflächliche Freundschaft geschlossen, sondern ihr Leben mit dem seinen für immer verknüpft. Getrennt von ihrem Gatten lebend, mit dem sie seelisch nichts gemein hatte, erwählte sie den großen Künstler, dessen innerstes Wesen und wahre Aufgaben sie besser erkannte als vordem Marie d'Agoult, zum Leitstern ihres Lebens und wurde auch sein Gestirn, dessen Bahn er nicht mehr verlassen konnte. Nachdem Liszt zum Großherzoglich Weimarischen Kapellmeister in außerordentlichen Diensten ernannt worden war und dadurch die Möglichkeit erlangt hatte, die Laufbahn des Klaviervirtuosen, auf der er ja bereits alles erreicht hatte, mit dem Berufe des Dirigenten zu vertauschen und nun nicht nur im Konzertsaal, sondern auch auf der Bühne, im Weimarer Hoftheater, für das Beste und Größte der alten und der neuen Kunst einzutreten, und nachdem er so, wenngleich er sich noch immer eine gewisse Freizügigkeit wahrte, Weimar zu seinem Wohnsitz erkoren hatte, kam auch die Fürstin mit ihrer Tochter Marie nach Weimar; nicht nur um dem Geliebten unmittelbar nahe zu sein, sondern auch um die Gunst der Großherzogin zu genießen, die eine Schwester des Zaren war.
Die Fürstin war überzeugt, daß es ihr gelingen werde, die Trennung ihrer Ehe mit einem Protestanten, überdies einer Ehe, zu der sie als unwissendes und widerstrebendes Mädchen von ihren Eltern gezwungen worden war, baldigst zu erreichen, um so sicherer, als die Fürsprache der Großherzogin ihr gewiß war. Aber die Verwandten des Fürsten, die auf das große Vermögen nicht verzichten wollten, das Carolyne in die Ehe gebracht, und die katholische Kirche, die die kirchlich geschlossene Ehe einer Katholikin auch dann für unauflöslich erachtet, wenn sie einen Protestanten geheiratet hat, bemächtigten sich des Zaren, mit dem nun seine Schwester, die für Carolyne aufrichtige Freundschaft hegte, einen langen Kampf auszufechten hatte. Einen Kampf, der um so schwerer zu führen war, als hier fortwährend auch die Ehre und würde der beteiligten Staaten und Herrscherhäuser in Frage kam. Der Zar verlangte zunächst, daß Carolyne nach Rußland zurückkehre, um dort ihre Angelegenheiten zu regeln. Sie aber fürchtete, daß sie dann Rußland (und am Ende Sibirien!) nie mehr werde verlassen können. Es begann ein Kleinkrieg, der die Angelegenheit immer wieder zu verzögern und jeden schon gefällten Spruch zu mildern oder seinen Vollzug hinauszuschieben suchte, der aber – um dies hier vorwegzunehmen – doch nur damit endete, daß Carolyne in aller Form aus Rußland verbannt wurde. Damit waren ihre Beziehungen zum großherzoglichen Hofe auf das empfindlichste gestört. Sie wurde gesellschaftlich fallen gelassen, und ihr Herzensbund mit Liszt, den früher niemand zu tadeln wagte und der ja auch zur baldigen Vermählung führen sollte, war auf einmal ein Gegenstand übler Nachrede. Die sehr fromme und höchst kirchlich gesinnte Fürstin aber, deren Gemahl bereits wieder geheiratet hatte, ohne daß ihr dadurch eine Erleichterung geworden wäre, wußte mit unglaublicher Zähigkeit und Beharrlichkeit die kirchliche Trennung ihrer Ehe und die Zustimmung des Papstes zu ihrer neuen Vermählung durchzusetzen. Doch auch die Gegenseite ruhte nicht und konnte im letzten Augenblick, als schon die Hochzeit stattfinden sollte, diese vereiteln und von einem neuen Spruche des Papstes abhängig machen. Die mittlerweile gealterte und ergraute Fürstin hat einen neuen Spruch nicht mehr verlangt. Die beiden Liebenden, die längst nur noch gute Freunde und treue Gefährten waren, brauchten ihrer gemeinsamen Arbeit auch weiterhin nicht zu entsagen. Ihre Wege gingen nun freilich immer mehr auseinander. Liszt, der, um jeden Schein des Eigennutzes zu vermeiden, die Fürstin bewogen hatte, ihr ganzes Vermögen auf ihre Tochter zu übertragen, und der sich sagen mußte, daß sie nur für ihn Heimat, Reichtum, Ansehen und Lebensglück geopfert hatte, wahrte ihr bis ans Ende eine unerschütterliche Anhänglichkeit und Ergebenheit. Hat so die Fürstin, deren Eigenheit sich immer stärker ausprägte und die sich für das, was sie verloren oder nicht erreicht hatte, durch eine zunehmende Herrschsucht im Verkehre mit Liszt zu entschädigen suchte, bis zuletzt einen sehr starken und nicht immer segensreichen Einfluß auf ihn ausgeübt, so waren vollends zu Beginn dieses Verhältnisses die beiden auch persönlich so eng verbunden, daß er sein Leben nur im Einverständnis mit ihr bis ins kleinste regelte. Das neue Schicksal, das er seinen Töchtern ankündigte, war von der Fürstin gewollt und herbeigeführt.
Die Fürstin hielt sich nicht nur für berufen, sich als Frau ganz besonders um die Erziehung der Lisztschen Töchter zu kümmern, sondern sie war begreiflicherweise auch bemüht, jeden von Marie d'Agoult unternommenen versuch, sich der Kinder zu bemächtigen, unwirksam zu machen. Eine leicht verständliche Eifersucht und ein unverkennbares Pflichtgefühl bestimmten sie, unmittelbar einzugreifen, als die Auseinandersetzungen zwischen Liszt und Blandine wegen des Verkehres der Kinder mit der Mutter den geschilderten Höhepunkt erreicht hatten. Sie wußte keine bessere Führerin der jungen Mädchen als ihre eigene Erzieherin, die Frau Patersi von Fossombroni, die zwar schon hochbetagt war, sich trotzdem aber bereit erklärte, aus Rußland nach Paris zu kommen und dort die beiden Mädchen in ihre Obhut zu nehmen. Diese Frau Patersi war nicht nur reich an Kenntnissen und von ausgesprochener erzieherischer Begabung, sondern auch besonders vertraut mit den Umgangsformen, Anstandsregeln und Vorurteilen der höheren Gesellschaft. Wie sehr sie selbst im » ancien régime« wurzelte und wie schwer es ihr wurde, sich in der »modernen« Welt zurechtzufinden, darüber gibt es allerlei Berichte, deren Zuverlässigkeit nicht geprüft werden kann. So wird erzählt, daß sie die neu aufkommende Eisenbahn für nicht ganz schicklich hielt und es jedenfalls vermied, sich in die Kissen des Abteils zurückzulehnen. Als sie nun nach Weimar berufen wurde, um dort mit Liszt und der Fürstin alles genau zu besprechen, soll sie den weiten Weg von Petersburg bis dahin, soweit er überhaupt schon mit der Bahn zurückzulegen war, aufrecht sitzend verbracht haben.
Die Reise wäre auch ohne das anstrengend genug gewesen. Frau Patersi erkrankte unterwegs und mußte sich zwei Monate von ihrer fürstlichen Schülerin pflegen lassen. Aber die Anordnungen für Paris erlitten dadurch keinen Aufschub. Anna Liszt hatte geschrieben, daß Marie d'Agoult die Mädchen in eine andere Pension geben wolle und sichtlich danach strebe, unmittelbaren Einfluß auf sie zu gewinnen. Je mehr die Mädchen zu jungen Damen heranwuchsen, um so lebhafteren Anteil schien die Mutter an ihrer Entwicklung zu nehmen. Überdies stellte sie auch, allerdings unverbindlich und ohne verläßliche Angabe der ziffernmäßigen Höhe, ein Vermögen für sie in Aussicht. Anna Liszt hinwiederum hätte die Mädchen am liebsten bei sich behalten. Doch ihr Sohn und die Fürstin blieben unnachgiebig. Frau Patersi hatte in Paris eine Schwester, die Frau van Saint-Mars, und so ließ sich die Sache noch vor der Genesung der Erkrankten ins reine bringen. Am 5. Oktober 1850 schrieb Liszt an seine Mutter:
»Ich hätte vorgezogen, daß Ihnen diese Zeilen durch Madame Patersi überbracht worden wären, der ich Sie bitte meine beiden Töchter zu übergeben, da ich ihr deren Erziehung hinfort anzuvertrauen wünsche. Von Herzen danke ich Ihnen für alle Liebe, mit der Sie sich in den letzten Monaten der Kinder angenommen, und auch diese werden Ihnen stets gleich mir für die Pflege, die Sie ihrer ersten Jugend angedeihen ließen, dankbar bleiben. Unglücklicherweise ist Madame Patersi gleich bei ihrer Ankunft hier erkrankt und Kann nicht vor vierzehn Tagen in Paris eintreffen; da Sie aber ausziehen, will ihre Schwester Madame Saint-Mars, die mit ihr und meinen Töchtern Rue Casimir-Périer Nr. 6, Faubourg St. Germain, wohnen wird, die Güte haben, die Kinder abzuholen und bis zur Ankunft von Madame Patersi bei sich zu behalten. Wollen Sie also nach Empfang dieses Briefes Blandine und Cosima ihrer Hut übergeben. Haben Sie auch die Güte, liebe Mutter, die mir von Ihnen bezeichneten Möbel sowie alles übrige zum Hausstand Gehörige, was Sie nach Ihrer Versicherung entbehren können, in die erwähnte Wohnung von Madame Patersi bringen zu lassen. Ich hoffe, daß Sie meinen Töchtern oft das Vergnügen schenken werden, bei ihnen zu speisen, und wünsche, daß auch Daniel sich oft bei Madame Patersi einfinde. Man wird also sechs silberne Bestecke, Glas und Porzellan, Tisch- und Bettwäsche usw. nötig haben. Ich müßte dies alles neu anschaffen und wäre Ihnen sehr verbunden, wenn Sie ihnen davon abtreten wollten, was Sie selbst nicht gebrauchen. Ich habe Madame Patersi gebeten, Sie mit meinen Töchtern häufig zu besuchen, sie aber überallhin zu begleiten. Ich bin überzeugt, daß Sie sie bei näherer Bekanntschaft achten und auch gerne haben werden, wenn Sie sehen, daß sie auf die Kinder günstig einwirkt. Sie allein hat zu entscheiden, was ihnen erlaubt oder verboten werden soll … Leben Sie wohl, liebe Mutter, bleiben Sie gesund und heiter und bewahren Sie Ihr volles Vertrauen Ihrem Sie liebenden Sohn.«
Am selben Tage schrieb Liszt auch an Blandine und ermahnte die Mädchen mit ähnlichen Worten zur Ehrerbietung und zum Gehorsam gegenüber Frau Patersi. Am 22. Oktober, an dem Liszt sein neununddreißigstes Lebensjahr vollendete, kam diese endlich selbst nach Paris mit einem neuen Schreiben Liszts an seine Mutter, worin es hieß:
»Frau Patersi überbringt Ihnen meine Wünsche zur frohen Feier des 22. Oktober. Ich hoffe, daß Sie Ihre Übersiedlungsmühen glänzend überstanden haben und sich einer blühenden Gesundheit erfreuen. Wo wohnen Sie denn eigentlich jetzt? Sind Sie den Kindern nahe oder fern? Schreiben Sie mir Näheres darüber in Ihrem nächsten Brief, damit ich weiß, wo und wie Sie sich eingenistet haben. Da Madame Patersi viele Bücher braucht, bitte ich Sie, ihr meine ganze kleine Bibliothek zur Verfügung zu stellen. Ich würde es sogar gerne sehen, wenn der größte Teil meiner Bücher in ihre Wohnung käme, um das Studierzimmer der Kinder damit auszuschmücken. Es gewährt mir große Genugtuung, zu wissen, daß meine Töchter nun in normalen und in jeder Beziehung befriedigenden Verhältnissen aufwachsen. Der vornehme Charakter und die bewährte Erfahrung von Madame Patersi geben mir begründete Hoffnung, daß mein ernstes Streben, ihnen eine angemessene Zukunft zu sichern, von Erfolg begleitet sein wird. Ich zweifle nicht, daß auch Sie in angenehme Beziehung zu ihr treten und sich mit dem neuen Stand der Dinge befreunden werden, der sich mit Gottes Hilfe bis zur Verheiratung der Mädchen dauernd erhalten möge.«
Diesem Briefe waren von der Fürstin noch einige Zeilen beigefügt. Sie hatte sich schon früher der Mutter Liszts brieflich genähert und war von ihr mit mütterlicher Teilnahme begrüßt worden. Jetzt schrieb sie:
»Am nächsten 22. Oktober hoffe ich das Glück zu haben, Ihnen auch dem Namen nach als Tochter so ganz anzugehören, wie sich mein Herz schon längst zu eigen fühlt … Mögen Sie, liebe Mutter, diesen Tag in dem frohen Bewußtsein verbringen, daß Gottes Segen auf Ihren Kindern ruht. Ich bin glücklich, daß Ihr Sohn Madame Patersi während der zwei Monate, die sie bei uns verbrachte, gründlich kennengelernt und ihr seine Töchter voll Zuversicht anvertraut hat. Mich erfüllt darob eine tiefe Freude, und ich hoffe, daß auch Sie sich freuen, sie in so kluger und zärtlicher Obhut zu wissen. Gestatten Sie mir – bis ich das Vergnügen haben werde, Sie persönlich zu umarmen, dies heute im Geiste zu tun und Ihren mütterlichen Segen für Ihre ehrfurchtsvoll ergebenen Kinder zu erbitten.«
Die Fürstin begab sich damals in den Kurort Eilsen, und Liszt, der sie besuchte, schrieb von dort am 11. Dezember wieder an seine Mutter. Aus diesem Briefe, worin der Sohn bedauerte, daß die gute alte Frau jetzt ziemlich entfernt von seinen Töchtern wohnte, geht hervor, daß sie auch noch in anderer Hinsicht mancher Unzufriedenheit und manchen Besorgnissen Ausdruck gegeben hatte. Liszt aber, der schon früher, seiner Mutter wie den Kindern gegenüber, stets einen klaren und unbeugsamen Willen zum Ausdruck brachte, ließ sich auch jetzt durch ihre »gedrückte Stimmung« in keiner Weise beirren. »Lassen Sie Ihrem geraden, vortrefflichen Sinn und Ihrem mütterlichen Gemüt nichts einreden, und stärken Sie nur Ihr Vertrauen zu mir. Trotz allem wird es sich immer mehr zeigen, daß meine Ideen, mein Plan und meine Maßregeln die richtigsten sind … Für jetzt und später wünsche ich angelegentlichst, daß Sie, liebe Mutter, mit den beiden Damen« (mit Frau Patersi und ihrer Schwester) »im besten, aufrichtigsten Einverständnis bleiben. Madame Patersi ist ein vortrefflicher Charakter. Durch ihre Antezedenzien und durch ihre ausgezeichnet geschulte Bildung paßt sie ganz vorzüglich zu dem Berufe, den sie zu erfüllen hat: meinen Töchtern gleichzeitig solide Kenntnisse beizubringen und sie vornehm und praktisch zu erziehen. Ich sehe es wahrhaftig als ein entschiedenes Glück an, in dieser höchst achtbaren Frau eine genügende Garantie für die Erfüllung meiner Wünsche betreffs der Leitung meiner Töchter gefunden zu haben.«
Aber nicht nur Anna Liszt, auch die Mädchen konnten sich nur schwer in den neuen Zustand hineinfinden. Cosima, die am meisten von der Willensstärke und inneren Unnahbarkeit ihres Vaters geerbt hatte, versuchte sich sogar gegen diesen aufzulehnen. Doch die Antwort Liszts genügte, um jeden Widerstand zu beugen. Cosima schrieb ihm: »Ich will das Unrecht, das ich gegen Sie hegte, gutmachen durch eine vollständige Unterwerfung unter Ihren Willen.« In demselben Briefe heißt es dann: »Ich sage es Ihnen offen: daß ich einen großen Schmerz empfunden habe, Großmama zu verlassen. Mir scheint, daß es eine große Undankbarkeit wäre, ohne Schmerz sich von einer Großmutter zu entfernen, die uns soviel Güte gezeigt hat. Aber Frau von Saint-Mars ist so gut, daß ich schon vollständig an sie gewöhnt bin und sie recht liebe. Ich bin durchaus bereit, das gleiche gegenüber Madame Patersi zu empfinden, die Sie so sehr lieben.« Dann gab sie Rechenschaft über den bereits begonnenen Unterricht. Wir entnehmen daraus, daß der Wissensstoff, den die Mädchen zu verarbeiten hatten, wahrlich kein geringer war. Am eifrigsten befaßten sie sich mit der Weltliteratur, mit Geschichte und Erdkunde, wobei sie offenbar nicht auf karge Lehrbücher angewiesen waren. Sie lasen beispielsweise »Größe und Verfall der Römer« von Montesquieu, und Liszt empfahl ihnen, auch Livius, Sallust und Tacitus zu studieren; sie lasen die »Geschichte der Revolution« von Mignet, die »Geschichte des dritten Standes« von Thierry und von demselben die »Eroberung Englands durch die Normannen«. Cosima nahm hierbei entschieden Stellung für die Sachsen und ließ sich sogar bei ihrer Großmutter in einen Streit mit einer Engländerin ein, weil diese die Normannen vorzog, was Cosima nicht begreifen konnte. Gegen den Sachsen Harald war sie aber auch eingenommen. »Ich finde, daß das nicht gut ist, zu schwören, sein Vaterland zu befreien, und ihm dann die Freiheit nicht zu geben.« Ebenso selbständige Bemerkungen machte sie zu den Satiren Boileaus und zu den Tragödien Shakespeares, Corneilles und Racines. Aus einem späteren Berichte Blandinens wissen wir, daß diese mehr Corneille, Cosima mehr Racine liebte; daß Blandine für die Römer, Cosima für die Griechen schwärmte. Wir sehen, wie frühzeitig sich die Mädchen nicht nur mit den Tatsachen der Geschichte, sondern auch mit dem Geiste der Völker und der großen Dichter vertraut zu machen suchten und über welche reiche Belesenheit sie in so jungen Jahren verfügten. Eine Schilderung des gesamten Lehrplanes der Frau Patersi würde uns geradezu staunen lassen über die Dürftigkeit des Wissens, das heute von den Knaben und Jünglingen in den höheren Schulen verlangt wird. Das Bemerkenswerte an diesen Studien lag wohl darin, daß hier überhaupt nicht nach einem genauen Plane gearbeitet wurde, sondern daß den außerordentlich begabten und von brennendem Ehrgeiz erfüllten Mädchen sozusagen alles zugänglich gemacht wurde, wofür sie sich erwärmen konnten und was ihrer Fassungskraft nicht allzu fern lag.
Dabei war es aber nicht auf Bücherweisheit abgesehen. Die Mädchen mußten alles kennenlernen, was Stadt und Umgebung an lebendigem Anschauungsunterricht boten. Sie nahmen nicht nur an feierlichen Gottesdiensten teil und hörten die berühmtesten Kanzelredner, sie wurden auch in Theater und Konzerte, in Museen und Kunstausstellungen, in Bibliotheken und Handschriftensammlungen, in das Pariser Stadthaus und in eine Sitzung der Kammer geführt, sie besuchten Versailles und die Porzellanfabrik in Sèvres, die Gärten und Wälder um Paris, sie sahen einmal den großen Faschingszug, ein anderes Mal eine Militärparade und wohnten einer Preisverteilung im Lyzeum Bonaparte bei, wo Daniel, zur Freude seines Vaters, fast immer der Erste unter allen Schülern war. Es gab kaum eine Sehenswürdigkeit und kein bemerkenswertes Ereignis, dem sie nicht Beachtung zu schenken hatten. Da sie bei Frau Patersi nicht mehr in einer Anstalt waren, sondern ihr richtiges Heim hatten, in dem die Erzieherin sozusagen die Mutterstelle einnahm, so war auch für angemessenen Verkehr gesorgt: sie empfingen Besuche, wurden eingeladen und wuchsen immer mehr in das gesellschaftliche Leben hinein, von dem sie natürlich nur einen ernsten und gediegenen Ausschnitt kennenlernten. An jedem Donnerstag speisten sie bei der Großmutter, jeden Sonntag kam diese zu ihnen. Für ihre musikalische Weiterbildung und für vielfältige musikalische Anregungen sorgten der Klavierbauer Erard, der Neffe jenes Erard, der sich des jungen Liszt in seiner ersten Pariser Zeit so tatkräftig angenommen, und der Geiger und Orchesterleiter Franz Seghers, vorübergehend auch Karl Reinecke. Erard schenkte ihnen einen neuen Flügel, Seghers bat Cosima, die musikalisch noch begabter war als Blandine, an seinen Trio-Abenden mitzuwirken. Neben der Kunst- und Kulturgeschichte im weitesten Umfange wurden auch die Naturwissenschaften und die Mathematik gepflegt, wofür Cosima vorübergehend besondere Aufmerksamkeit zeigte. Frau Patersi sagte eines Tages, die Mädchen seien so gescheit wie »emeritierte Professoren«. Dabei lernten sie nur eines nicht: die Freude am Luxus und an untätigem Behagen. Sie hatten keine Bedienung, mußten ihr Bett und ihre Stube selbst in Ordnung bringen, wuschen sich ihre feine Wäsche und richteten sich ihr Haar, auch für die Bälle, die sie besuchten.
Nichts aber geschah ohne Wissen und Genehmigung Liszts. Über alles ließ er sich berichten, die Mädchen mußten ihm zu Beginn jedes Monats schreiben, und nach wie vor prüfte er ihren Stil, stellte er das und jenes an ihren Briefen aus: überflüssige Wiederholungen, alltägliche Wendungen, vorlaute Bemerkungen, anmaßende Aussprüche. Die Oberaufsicht führte jetzt die Fürstin, die es sich immer mehr angelegen sein ließ, die Mädchen unter ihren Einfluß zu bekommen und darin von Frau Patersi unterstützt wurde, aus deren Munde nur begeisterte Lobpreisungen ihrer einstigen besten Schülerin zu hören waren.
Das Jahr 1853 brachte endlich die persönliche Bekanntschaft der Kinder mit der Fürstin. Und – mit Richard Wagner! Die beiden Vorkämpfer einer neuen, »fortschrittlichen«, mit den Grundgedanken und Hochzielen germanischer Weltanschauung verknüpften Tonkunst hatten den Bund fürs Leben geschlossen. Ihre erste Begegnung fällt schon in das Jahr 1839, in ihre Pariser Zeit. Es war nur eine flüchtige Begegnung, und sie blieb zunächst ohne Folgen. Wagner hatte seine deutsche Heimat verlassen, um in Paris sein Glück zu suchen. Das war ein Irrtum und wurde eine Enttäuschung. Doch dieser ebenso traurige als wichtige Abschnitt in seinem Leben war von größter Bedeutung für sein Werden, für sein Emporwachsen zu dem urdeutschen und dabei ganz auf sich selbst beruhenden Schöpfer der deutschen Oper oder des deutschen Musikdramas (das rechte Wort ist bis heute nicht gefunden).
Wenn Wagner und Liszt tondichterisch vieles gemein hatten, wenn der nicht nur etwas ältere, sondern auch noch früher eigene Wege schreitende Liszt für Wagner in manchen musikalischen Formen Vorgänger und Vorbild war, und wenn wir beide soeben mit Fug die Vorkämpfer einer neuen Tonkunst nannten, so waren sie doch in Einem grundverschieden. Liszt hat nicht nur kein Bühnenwerk geschrieben, sondern er war auch der Gattung der Oper eher abgeneigt. Die Bühne erschien ihm für den Ausdruck »hehrer Leidenschaften« als ein zu begrenzter Raum. Er empfand es als seelische Hemmung, daß sie das freie Walten der Einbildungskraft erschwere oder unterdrücke. Gegenüber der grenzenlosen Freiheit des inneren Schauens bleibt die vollkommenste Bühne unzugänglich. Wohl aber zwingt sie den Zuschauer, sich ganz dem Sichtbaren hinzugeben, und schlägt so die Einbildungskraft in Fesseln. »Der Geist errät mehr, als man ihm zeigen kann.« Der Zuschauer, der sich eine dramatische Handlung denkt und im Geiste miterlebt, läuft im Theater Gefahr, durch eine »die Täuschung vernichtende Wirklichkeit von seiner Aufmerksamkeit abgezogen«, in seiner geistigen Bewegung gestört zu werden. Die Einbildung geht so oft »über die Möglichkeit der Darstellung hinaus«, daß diese vergebens den Versuch macht, »es mit ihr aufzunehmen«. Das sind Worte, die Liszt im Jahre 1855 schrieb, zur selben Zeit, als er für Wagners Werke in Weimar eine dauernde Heimstätte zu gründen suchte. Sie beweisen, daß Liszt die Mängel des bestehenden Theaters deutlich erkannte; aber auch, daß er kein Bild einer höheren und edleren Bühne in der Seele trug. Jedenfalls fühlte er sich nicht berufen, die Tonkunst in den Dienst der Bühne zu stellen oder vielmehr die musikalischen und die theatralischen Wirkungen so unlöslich zu verbinden, daß eben hierdurch die Empfangende, der zugleich Zuschauer und Zuhörer ist, sich in einer Weise »gefesselt« fühlt, die jeden Widerspruch aufhebt.
Dies aber ist der Kern alles dessen, was Wagner je gedacht, gewollt und geleistet hat. Dies war Wagners Beruf und Sendung. Schon als Kind hatte er von der Bühnenkunst, vor und hinter den Kulissen, die stärksten, für sein Leben entscheidenden Eindrücke gewonnen. Der Zauber der Bühne war ihm aufgegangen, wie keinem je zuvor. Der Zauber eines Scheines, der zum Sein wird, zu einem mächtigen, überirdischen Sein, neben dem das gewohnte Leben teils gänzlich verblaßt, teils in seiner trugvollen Nichtigkeit enthüllt wird. Der Zauber eines Erlebnisses, dessen eingestandene Unwirklichkeit uns als eine höhere Wahrheit entgegentritt, deren Erkenntnis uns für das Ausharren im Lebenskampfe wunderbar zu stärken vermag und uns herrlichen Trost in der Not des Daseins spendet. Der Zauber eines sinnlichen Eindruckes, der uns der Erde entrückt und als geweihte Menschen der Erde wiedergibt. Ein Zauber, dessen jede empfängliche Seele, jedes schlichte Gemüt in naiver Hingerissenheit teilhaftig wird und der zugleich die tiefste Schau der Dichter und Denker offenbart. Ein Zauber, der seine reinste Form und seine höchste Kraft gewinnt, wenn er sich durch die Töne mitteilt, wenn die geheimnisvolle Wirkung der Tonkunst das Erlebnis der Bühne in einen beseligenden Traum verwandelt, der alles erfüllt, was der Geist des Empfangenden sucht und begehrt.
Dieser Zauber sprach so unwiderstehlich zum Gemüte des jungen Wagner, daß es für ihn überhaupt keine Dicht- und Tonkunst, sondern nur eine Bühnenkunst gab; daß er einzig und allein Bühnenwerke schaffen wollte und daß erst aus diesem Drange heraus seine dichterischen und tondichterischen Fähigkeiten sich entwickelten. Die einzige Form, in der ihm die Vereinigung von Wort und Ton auf der Bühne entgegentrat, war die Oper jener Zeit. Auch ihrem Zauber erlag er, und dieser Gattung verschrieb er sich, als er Musiker, Kapellmeister und – eben Opernkomponist wurde, wobei es für ihn vom Anfang ausgemacht war, daß er sich seine Opern-»Texte« selber schreiben mußte. In Paris, der damaligen Hauptstadt des europäischen Musiktreibens und der glanzvollen Heimstätte der großen Oper, hoffte er alles zu finden, was er brauchte, um mit seinen bisherigen Bühnenwerken, vor allem mit dem »Rienzi«, der erst in Paris vollendet wurde, ans Ziel zu kommen. Aber dieses Werk, worin es, in einer schon sehr erhabenen Art, vor allem auf gewaltige Opernwirkungen abgesehen war, hatte den Parisern trotzdem nichts zu sagen. Besonders deshalb, weil es seinem Schöpfer an den nötigen Verbindungen und am nötigen Gelde fehlte. Wagner kam als Künstler nicht zur Geltung und konnte seine Pariser Tage zeitweilig nur dadurch fristen, daß er Donizettis »Favorita« und ähnliche Erzeugnisse für Klavier zwei- und vierhändig, für Geige, Flöte, Flügelhorn setzte und bearbeitete. Die Not machte ihn auch zum Schriftsteller. Doch das alles nährte ihn nicht und machte ihn nicht genügend bekannt. Zweieinhalb Jahre hoffte und hungerte er in Paris und – wußte, daß er nach Deutschland gehörte. Aus dieser herben Schicksalswendung und der in ihr gewonnenen Erkenntnis entstand der »Fliegende Holländer«, das erste Werk rein deutschen Gepräges, das Wagner schuf, der Vorbote jener wahrhaft neuen und einzigartigen Kunst, die wir heute mit dem Namen Richard Wagners bezeichnen.
In dieser traurigen und doch so segensreichen Pariser Zeit trat ihm die glänzende Erscheinung Liszts entgegen, dem alles in den Schoß fiel, wonach Wagner vergeblich strebte: Geld und Ruhm. Und dieser Liszt stand im Mittelpunkte derselben Kreise, aus denen Wagner sich verbannt sah. Er erschien ihm geradezu als Vertreter einer Kunst und eines Unterhaltungswesens, deren Hohlheit Wagner bereits erkannt hatte. Was Luxus und Mode war – und Liszt schien dazu zu gehören –, wurde Wagner allgemach zum Greuel. Die Erfolge und Einnahmen Liszts weckten in ihm keinen Neid; aber sie waren ihm ein Beweis, daß dieser Günstling des Glückes und der Pariser Gesellschaft in einer Welt lebte, in der er selbst es nie zu etwas Rechtem bringen würde. Die Pariser Salons, die Pariser Konzertsäle, die Pariser Theater, nach denen er so sehnlich verlangt hatte, blieben ihm verschlossen. Doch er hatte seinen Wünschen schon entsagt. Er war froh, wenn er nur schaffen durfte. Liszt kannte nicht nur keine Sorgen, sondern der ewig Hilfsbereite war auch in der Lage, anderen zu helfen. Das war vielleicht das einzige, was Wagners Neid wecken konnte; denn inmitten aller Nöte und Entbehrungen war auch dieser stets von dem Drange erfüllt, den Armen, den noch Ärmeren beizustehen. So glichen Wagner und Liszt in diesem Lebensabschnitt zwei Gestirnen, die aneinander vorbeifliegen und sich vielleicht nie mehr im Raume treffen werden.
Da wurde der für Paris bestimmte »Rienzi« in Dresden angenommen. Der Künstler kehrte nach Deutschland zurück, und sein Werk errang einen ungewöhnlichen Erfolg. Mit einem Schlage war Wagner ein weitbekannter Mann. Vom Dresdener Hoftheater wurde er als Kapellmeister verpflichtet. Nun hatte er sein Brot und eine »schöne Stellung«. Aber nun begannen die schlimmeren Enttäuschungen. Sehr früh hatte Wagner erkannt, daß der Zauber der Bühne untrennbar ist von dem Zauber der Darstellung, worin eben alle Bühnenkunst beschlossen ist. Von dieser Seite her empfing er die entscheidenden Eindrücke durch Wilhelmine Schröder-Devrient. Ihr und sich selber gelobte er schon als Sechzehnjähriger, nur Werke schaffen zu wollen, die ihrer Darstellung würdig wären. Der seltsame Eindruck des schwachen und durch die Schröder dennoch hinreißenden Bellinischen Romeo belehrte ihn aber auch darüber, »welch unvergleichliches Kunstwerk dasjenige sein müßte, das in allen seinen Teilen des Darstellungstalentes einer solchen Künstlerin und überhaupt des Vereines von ihr gleichen Künstlern vollkommen würdig wäre«. Das Doppelstreben nach idealer Darstellung und nach dem unvergleichlichen theatralischen Kunstwerke beherrschte fortan alle seine geistigen Regungen und bestimmte sein ganzes Handeln. Er schuf den »Tannhäuser« und den »Lohengrin«, und er war als Kapellmeister, als Opernleiter ein bis zur Unduldsamkeit treuer, selbstloser Diener hoher, reiner Kunst.
Doch er geriet durch die strenge Auffassung seiner künstlerischen Pflichten, durch seine »überspannten« Forderungen an das Können und die seelische Hingabe der Künstler, wohl auch durch die Schärfen und Spitzen seines leidenschaftlichen Auftretens in einen unversöhnlichen Gegensatz zur Oberleitung, zu den Amts- und Fachgenossen und zu einem Teile der Öffentlichkeit. Starre Überlieferung auf der einen, gedankenloser Leichtsinn auf der anderen Seite, Eitelkeit und Trägheit der Sänger, Neid und Mißgunst der Musiker, Bevormundung durch einen engherzigen Bureaukratismus, Feindseligkeiten der Presse und was sonst ihn von außen hemmte und im Innersten erregte, das war nicht nur der gewöhnliche Widerstand der Welt, gegen den sich jeder Schaffende und Wirkende kämpfend zu behaupten hat, das war vielmehr die grundsätzliche Verneinung der tiefsten Kräfte und Triebe seines Wirkens und Schaffens – und das drängte ihn natürlich zu um so heftigerer Bejahung. Denn alle Erschwerungen und Einengungen seiner praktischen Tätigkeit, alle entmutigenden persönlichen Erfahrungen, die ihn beispielsweise daran hinderten, mit so reichen Mitteln, wie sie ihm das Hoftheater in Dresden zur Verfügung stellte, mit den trefflichsten, ihm ergebenen Künstlern (auch die Schröder war darunter!) eine wahrhaft lebensvolle, überzeugende bühnenmäßige Verwirklichung seiner eigenen, immer höheren Vollkommenheit entgegenreifenden Schöpfungen zustande zu bringen, all das berührte nicht etwa nur die verzeihliche Selbstsucht eines ehrgeizigen Tondichters, sondern es traf seinen Lebensnerv, es verneinte seinen Lebenszweck. So gelangte er dazu, von sich aus die geltende Kunst und die öffentlichen Zustände, die eine solche leblose, lustlose und geistesarme Kunst ermöglichten oder begünstigten, zu verneinen. Nur von neuen Menschen in neuen Zuständen sei auch eine neue, wahre Kunst zu erhoffen. Die Umsturzbewegung der Jahre 1848 und 1849 war ihm ein Widerhall seiner geheimsten Wünsche, seiner sehnsüchtigsten Erwartungen. Mit der Unerfahrenheit des Künstlers in nichtkünstlerischen Dingen, mit der ahnungslosen Redlichkeit eines großen Menschen scheute er nicht die Teilnahme an politischen und Parteikämpfen, die ihm die Möglichkeit einer gesellschaftlichen Erneuerung vorspiegelten. Das Ergebnis dieser revolutionären Betätigung war die Flucht aus Dresden und die steckbriefliche Verfolgung.
Auf dem Wege in die Schweiz fand er für ein paar Tage Zuflucht in Weimar. Durch den »Rienzi« war Liszt auf Wagner aufmerksam geworden. Als sie zufällig beide in Berlin weilten, wurden sie durch die Schröder-Devrient zusammengeführt, drei Jahre nach der Pariser Begegnung, an die sich Liszt, der fortwährend Umdrängte und Umworbene, nicht einmal erinnern konnte. Wagner war bezwungen von seiner Herzlichkeit und von der fast naiven Schlichtheit seiner Äußerungen. Zwei Jahre später konnte Liszt endlich den »Rienzi« in Dresden hören, und von da an kamen bald aus dieser, bald aus jener Weltgegend, in der er Triumphe feierte, seine Bekannten nach Dresden, nur des »Rienzi« halber, da sie durch die Mitteilungen Liszts, der gelegentlich auch Stücke daraus spielte, darüber belehrt worden waren, daß sie etwas »unerhört Bedeutendes« zu erwarten hätten. Zur ersten Aufführung des »Tannhäuser« kam Frau Marie Kalergis, geborene Gräfin Nesselrode, später Frau Muchanoff, die wir als eine der treuesten Freundinnen Liszts und der eifrigsten Gönnerinnen Wagners kennen und die eben durch Liszt »in enthusiastisch anregender Weise« für Wagner gewonnen worden war.
Das Jahr 1848 sah Liszt wieder in Dresden. Diesmal wurde sein Verkehr mit Wagner besonders lebhaft und fruchtbar. Jetzt begann ihre Freundschaft. Noch im selben Jahre machte Wagner einen Besuch in Weimar. Für Liszt, der einen durchgreifenden Einfluß auf das Weimarer Kunstleben, auch auf die Theaterverhältnisse, zu gewinnen suchte, gab es fortan keine schönere Aufgabe, keine, die ihm mehr am Herzen lag, als Wagner zu fördern. Im Februar 1849 führte er den »Tannhäuser« auf. Im Mai sollte auch Wagner einer Aufführung dieser Oper beiwohnen. Doch da überstürzten sich die Ereignisse, und der in Dresden unmöglich Gewordene kam schließlich als Flüchtling in Weimar an, wo er nun dem großherzigen Freunde nicht nur für die zweckmäßigste persönliche Hilfe, sondern auch für ein tief wirkendes künstlerisches Erlebnis zu danken hatte. Er wohnte einer Wiederholungsprobe des »Tannhäuser« bei und war erstaunt, in dieser Leistung sein zweites Ich wiederzuerkennen. »Was ich fühlte«, so schrieb er einige Jahre später – »was ich fühlte, als ich diese Musik erfand, fühlte er, als er sie aufführte, was ich sagen wollte, als ich sie niederschrieb, sagte er, als er sie ertönen ließ. Wunderbar! durch dieses seltensten aller Freunde Liebe gewann ich in dem Augenblicke, wo ich heimatlos wurde, die wirkliche, langersehnte, überall am falschen Orte gesuchte, nie gefundene Heimat für meine Kunst.« Aus der Schweiz wandte sich Wagner auch wegen der Aufführung des »Lohengrin« an Liszt. Am 28. August 1850, an Goethes Geburtstag, wurde die romantische Oper, die zugleich das erste Musikdrama war, von Liszt aus der Taufe gehoben.
Wagner hatte sich in Zürich niedergelassen. Durch seine Verbannung aus Deutschland war er abgeschnitten von allen Verbindungen mit dem deutschen Theater und außerstande, durch persönliche Einwirkung etwas für seine Bühnenwerke zu tun. Aber das Gefühl der Freiheit und Unabhängigkeit, in der er sich jetzt befand, beglückte und stärkte ihn – trotz der äußeren Unsicherheit seiner Lage; und da die Fesseln der Amtssorgen und Berufspflichten von ihm gefallen waren, ergoß sich ihm ein neuer Strom schöpferischer Kräfte durch Herz und Hirn. In diesem gehobenen Seelenzustande, aus dem im Verlaufe so vieler Ereignisse gewonnenen Einblick in das Wesen der Menschen und in die Grundlagen der menschlichen Gesellschaft, aus dem nun auch durch Heimweh genährten innigen Verbundensein mit den Anschauungen und Überlieferungen des deutschen Volkes, aus den erhabenen Eindrücken der ihn umgebenden schweizerischen Natur, die seinen Vorstellungen vom deutschen Mythos den angemessenen landschaftlichen Hintergrund verlieh, und aus grenzenloser Nichtachtung aller herkömmlichen Regeln und praktischen Aufführungsmöglichkeiten, aus ungehemmter rein künstlerischer Schaffensfreude erwuchs in immer breiterer und kühnerer Gestaltung das Weltgedicht »Der Ring des Nibelungen«. Aus Dresden hatte er den Entwurf einer Heldenoper »Siegfrieds Tod« mitgebracht. Ihr war ein Vorspiel »Der junge Siegfried« vorauszuschicken. Zwei weitere Vorspiele kamen hinzu, bis das vierteilige Werk als Dichtung vollendet war – ein Riesenwerk, das schon durch seinen Umfang und durch die jedes Vorbildes spottenden bühnenmäßigen Schwierigkeiten, zu denen sich dann noch die unerhörtesten musikalischen Anforderungen gesellen sollten, von der Eingliederung in den regelrechten Bühnenbetrieb ausgeschlossen zu sein schien. Wagners Sorge um die trotz allem zu ermöglichende »lebensvolle Verwirklichung« des riesenhaften Werkes erweckte in ihm den Gedanken an besondere Festspiele. Liszt war es, der diesen Gedanken zuerst aufgriff und ihn in Weimar zu verwirklichen hoffte. Wenn nun Wagner mit seinen Entwürfen und Plänen allerdings der Zeit voraneilte und der Gegenwart zu entfliehen schien, so trachtete er doch immer in reger Verbindung mit der lebendigen Musik zu bleiben und seine bisherige künstlerische Tätigkeit im kleinen und beschränkten Maße, aber in seinem Sinne fortzusetzen. Dies führte zu seiner Beteiligung an schweizerischen Konzert- und Theateraufführungen, wobei ihm vorübergehend zwei ergebene Schüler und Freunde zur Seite standen: Karl Ritter, der Sohn der Frau Julie Ritter in Dresden, die dem Künstler zur Sicherung seines Schweizer Daseins eine ganz bedeutende jährliche Unterstützung zukommen ließ, und – Karls Schulfreund Hans von Bülow.
Dieser, am 8. Januar 1830 in Dresden als der Sohn des Schriftstellers Eduard von Bülow geboren, hatte mit seinen Eltern einen harten Kampf zu bestehen, als er sich der musikalischen Laufbahn widmen wollte. In diesem Kampfe unterstützte ihn besonders Richard Wagner, mit dem er in seinem siebzehnten Lebensjahre bekannt geworden war. Die letzte Entscheidung des namentlich als Klavierspieler außerordentlich begabten jungen Mannes fiel in seinem einundzwanzigsten Jahre, nachdem er der Uraufführung des »Lohengrin« in Weimar beigewohnt hatte. Jetzt konnte ihn nichts mehr abhalten, sich einzig und allein der Tonkunst unter der Führung Liszts und Wagners zu widmen. Seine Eltern hatten sich inzwischen voneinander getrennt, sein Vater war zum zweiten Male verheiratet. Hans lernt bei Wagner in Zürich und in St. Gallen dirigieren und geht dann nach Weimar, wo er von Liszt die letzten Weihen am Klavier empfängt und als sein »legitimer Erbe von Gottes und Talentes Gnaden« entlassen wird. Auch als schaffender Tondichter findet er in Weimar Beachtung. Außerdem macht er sich als ein sehr schneidiger, manchmal allzu scharfer streitbarer Tagesschriftsteller bemerkbar. Er ist der erste Jünger der neuen Kunst, er wird der begeisterte Apostel der beiden großen Freunde, die ihn als den Dritten im Bunde aufnehmen.
Im Oktober 1853 trafen Liszt und die Fürstin mit ihrer Tochter, sowie eine kleine Schar von Freunden und Anhängern, in Basel mit Wagner zusammen. Bei der »ungemeinen Lebhaftigkeit und anregenden Hingebung« der Fürstin für alles, was diesen Kreis bewegte, und da Wagner, wie er selbst später einbekannte, »damals von der Schwäche des Vorlesens seiner Dichtungen beherrscht« war, gab er den dritten Teil des Nibelungen-Werkes, den »Siegfried«, zum besten. Von Basel begleitete er Liszt und die Damen nach Paris, wo er diese nun auch mit den übrigen Teilen seiner Niederschrift bekannt machen mußte.
Für Liszt war dieser Pariser Aufenthalt deshalb bedeutungsvoll, weil er hier seine Kinder nach neun Jahren zum ersten Male wiedersah. Die Mutter hatte ihn schon in Weimar besucht. Blandine war jetzt nahezu achtzehn, Cosima nahezu sechzehn Jahre alt; Daniel stand im fünfzehnten Lebensjahre. Ein Strom von Herzlichkeit erfüllte Liszt und die Seinen bei dieser seit langem erhofften Vereinigung, und die Fürstin ergriff die Gelegenheit, auch ihr eigenes Verhältnis mit allen recht innig zu gestalten. Am 10. Oktober wurde Wagner zu einem Familienabend zugezogen, an dem auch Berlioz teilnahm, und mußte hier wieder vorlesen; er brachte den ersehnten Schluß des Ganzen, den letzten Auszug der »Götterdämmerung«. Der vermochte den Kindern, die von dem Inhalt des Werkes keine klare Vorstellung hatten und vielleicht nicht einmal die altertümliche Sprache der Dichtung genau verstehen konnten, allerdings nur wenig zu sagen. Aber wir wissen, wie packend Wagner vorlas, wie hinreißend auch sonst seine Persönlichkeit wirkte, wenn er sich frei und herzlich geben konnte, und wir mögen im Zusammenhalte mit den späteren Ereignissen ahnungsvoll ermessen, wie dieses erste Zusammensein mit ihm in der Seele Cosimas nachwirkte.
Auf Wagner selbst machte namentlich Daniel »durch seine große Lebhaftigkeit und die Ähnlichkeit mit seinem Vater einen rührenden Eindruck«, während er von den Töchtern, auch bei den folgenden Zusammenkünften, »nur die anhaltende Schüchternheit zu bemerken hatte«. Diese war wohl eine Folge der strengen Erziehung durch Frau Patersi, verstärkt durch die natürliche Befangenheit der Mädchen, die mit der in jeder Hinsicht merkwürdigen Erscheinung Wagners und der Eigenart seiner Dichtung nicht leicht zurechtkamen. Aber der Ring war geschlossen. Die beiden Menschen, die zwölf Jahre später untrennbar zusammengehören sollten, hatten sich zum ersten Male ins Auge geblickt, zum ersten Male die Hände ineinandergelegt.
Bei diesem Besuche aus Weimar schlossen die Kinder auch Freundschaft mit der Prinzessin Marie Wittgenstein, die im engsten Kreise Manja, Magne, Magnolette genannt wurde. Die Briefe der drei Geschwister an Manja bilden eine wertvolle Ergänzung zu den Briefen Blandinens an den Vater. In diesen Schriftstücken finden wir von 1854 an immer häufiger den Namen Wagner. Im Sommer 1854 wurden die Mädchen von Liszt nach Brüssel und Antwerpen eingeladen, wo sie auch wieder die mannigfachsten Anregungen durch den Besuch von Museen und sonstigen Sehenswürdigkeiten empfingen. Daniel konnte der Schule halber diesen Ausflug nicht mitmachen und wurde zur Entschädigung in den Ferien nach Weimar gerufen. Dort lernte er den »Tannhäuser« und den »Lohengrin« kennen und wurde tief davon beeindruckt. Liszt benutzte diese Gelegenheit, um mit seinem Sohne zu »arbeiten«, und stellte ihm die Aufgabe, nach seiner Rückkehr in Paris den Inhalt des »Tannhäuser« erzählend niederzuschreiben. Die Dichtungen Wagners beschäftigten aber auch die Mädchen, ebenso die prachtvollen Aufsätze, die Liszt, der Herrufer der Wagnerschen Kunst, über »Holländer«, »Tannhäuser« und »Lohengrin« veröffentlicht hatte. An diesen Aufsätzen war die Fürstin mitbeteiligt, sie sind geradezu die Frucht gemeinsamer schriftstellerischer Tätigkeit. Daß die Mädchen auch ohne besondere Anleitung und Belehrung sozusagen wagnerisch eingestellt waren, erhellt aus einem köstlichen Briefe, den Blandine, die Heitere und Übermütige, nach einer Aufführung des damals neuen »Troubadour« von Verdi schrieb. Es heißt dort:
»Kaum waren wir in unserer Loge, so verkündigte uns ein Wirbel der großen Trommel, daß die Sache ihren Anfang nimmt: keine Ouvertüre, nach zwei oder drei Takten hebt sich der Vorhang. Ich werde es nicht versuchen, lieber Vater, Ihnen über meinen Eindruck Rechenschaft zu geben. Wir haben die Sache schrecklich gefunden und gerade gut genug, daß die Bären im Tiergarten danach tanzen. Das Gedicht ist abgeschmackt und beruht auf zwei schweren Mißgriffen: da ist zuerst eine Zigeunerin, die keinen geringeren Irrtum begeht (wie der Riese im ›Däumling‹), als daß sie ihr Kind tötet statt desjenigen, an dem sie Rache nehmen will; dann Leonore, die sich in die Arme des Grafen wirft, indem sie wähnt, es seien die des Troubadours, denn es ist Nacht. Wir haben daraus den Schluß gezogen, daß die Nutzanwendung des Stückes im allgemeinen und im besonderen die ist: man muß eine Laterne mitnehmen.« So ähnlich, wenn auch stilistisch feiner, hat Wagner in seiner ersten Pariser Zeit über französische Opernaufführungen nach Deutschland berichtet.
Die Dichtungen Wagners und die Lisztschen Aufsätze spielten aber auch in dem nun neu einsetzenden Verkehre der Mädchen mit ihrer Mutter eine erhebliche Rolle. Marie d'Agoult war namentlich vom »Tannhäuser« begeistert und suchte mit besonderem Scharfblick die Mitarbeit der Fürstin an den Abhandlungen Liszts zu ergründen und festzustellen. Sie war außerdem bestrebt, den Wissensstoff, dessen sich die Mädchen schon bemächtigt hatten, weitgehend zu vermehren und zu ergänzen. Sie nahm mit ihnen den Platon und den Sophokles durch, zog sie anderseits in ihr Haus und machte sie mit hervorragenden Persönlichkeiten bekannt. Sie hatte ihre Tochter Claire d'Agoult mit dem Grafen Charnacé verheiratet und konnte sich jetzt noch freier bewegen, fühlte aber auch von neuem den Drang, sich als mütterliche Freundin zu betätigen. Als Ersatz für die schon verheiratete Tochter sollten ihr nun ihre jüngeren heiratsfähigen Töchter dienen. Jahrelang hatte sie sich ferngehalten; seitdem die Kinder bei Frau Patersi waren, hatte sie sich anscheinend nicht um sie gekümmert. Jetzt trat sie auf einmal in den lebhaftesten Verkehr mit ihnen, und gewiß war hierzu der stärkste Antrieb, daß der Besuch der Fürstin in Paris ihre Eifersucht geweckt hatte und sie die Kinder diesem Einfluß entziehen wollte. Aber welches immer der tiefste Grund der Annäherung war, Mutter und Töchter übten aufeinander eine starke Anziehungskraft, und es entwickelte sich eine in diesem Falle höchst natürliche, beinahe schwärmerische Freundschaft.
Liszt war hiergegen zunächst machtlos. Er wußte von allem, er hatte den Verkehr selbst erlaubt, da er ihn ja kaum verhindern konnte und das Recht der Mutter anerkannte. Marie d'Agoult war vorsichtig und gewissenhaft genug gewesen, sich zuerst an ihn zu wenden. Dabei gab sie jedoch sofort dem Zweifel Ausdruck, ob die Patersi sich auch bewährt habe. Liszt, der eben mit den Mädchen in Brüssel zusammentraf, erklärte, daß sie sich »in diesen vier Jahren viel Mühe gegeben hat, und mit Erfolg: die Mädchen lernten gute Manieren, gutes Empfinden, gutes Denken durch Unterricht und Beispiel. Die Mädchen und Daniel sind ihr auch sehr anhänglich, es herrscht das herzlichste Einvernehmen der kleinen Familie in der Rue Casimir-Périer«. Er versicherte der Gräfin, daß die Patersi sich auch bei anderen Personen, die Marie kenne, sehr bewährt habe. Doch jetzt ging es nicht mehr um die Erziehung, sondern vielmehr um das Auftreten der Mädchen in der Gesellschaft, das gewissermaßen gleichbedeutend war mit ihrem Angebote auf dem Heiratsmarkte. Hier wollte Liszt nichts versäumen und alles verhüten, was seinen Ansichten und Absichten widersprach. Er bestimmte vor allem für jedes der beiden Mädchen ein Heiratsgut von 60 000 Francs oder die Sicherheit des entsprechenden Einkommens – je nach den Umständen, die ihm das eine oder das andere nahelegen würden. Außerdem hatte jedes noch 40 000 Francs, demnach im ganzen 100 000 zu erwarten. Bei der Heirat sollte Gütertrennung stattfinden.
»Bis jetzt«, schrieb er, »haben sich zwei oder drei Partien für Blandine gezeigt! Die erste wurde zurückgewiesen, die anderen blieben in Schwebe. Ohne meinen Töchtern bei der Wahl eines Gatten irgendeinen Zwang antun zu wollen und indem ich ihnen, in letzter Instanz, die nötige Freiheit für eine solche Entscheidung lasse, verpflichtet mich doch meine Neigung zu ihnen, sie durch meinen Rat und durch meine Erfahrung zu stützen. Was ich für sie vor allem wünsche, das ist ein gescheiter, tätiger und ehrenhafter Mann, der imstande ist, seiner Frau ein Gefühl einzuflößen, das nicht schon in den ersten Jahren zu verschimmeln droht. Es ist nicht gut, wenn die Frau sich zu früh in die Mutterschaft flüchten muß, und um diese Lage zu vermeiden, bedarf es eines Mannes, der genügend Vernunft und Charakter besitzt. Die Frage der Familie, der Stellung und des Vermögens sind für mich untergeordnet … Das Wichtigste ist, daß der Herr weder ein Nichtstuer noch ein Dummkopf sei und daß er auch so gesund sei, um eine gute Nachkommenschaft zu verbürgen. Was die Stellung betrifft, so habe ich eine gewisse Abneigung gegen die Musiker und die Ärzte, natürlich mit Ausnahmen. Die Nationalität und der Wohnort, in Frankreich oder im Auslande, sind mir gleichgültig.«
In diesem Briefe, der sichtlich von dem Wunsche eingegeben ist, jede Bevormundung oder Beeinflussung der Mädchen durch die Gräfin zu verhindern, wird auch nochmals betont, daß Frau Patersi den Kindern, die ihr so vieles schulden, wahrhaft ergeben sei und daß er die Mädchen daher in keinem Falle vor der Verheiratung von ihr trennen wolle. Die Gräfin blieb aber gegen Frau Patersi eingenommen und erklärte es für unbedingt nötig, sie zu überwachen und womöglich auszuschalten. Sie redete sich dabei in eine tragische Stimmung hinein: sie werde, wenn es nicht anders gehe, wieder ihre frühere Zurückhaltung beobachten und traurig, aber geduldig warten, bis eine nahe Zeit den Kindern das gesetzliche Recht verleihen würde, ihre Liebe zur Mutter kundzugeben. Die Entgegnung wurde Liszt nicht schwer. »Ich gestatte mir, Sie daran zu erinnern, daß Ihnen Ihre bisherige Zurückhaltung nicht durch mich, sondern durch Ihren freien Willen auferlegt war. Und warum das Gespenst des Gesetzes heraufbeschwören? Ich habe stets gedacht, daß wohlgeratene Menschen zu ihm nur in außerordentlichen Fällen ihre Zuflucht nehmen sollen, wenn es notwendig ist, sich gegen Unredlichkeit zu schützen.«
Um den Zweifeln und Bedenken, den Vorschlägen und Einwürfen der Gräfin ein für allemal zu begegnen und seinen Töchtern die Würde junger Damen, die ihm vielleicht durch einen völlig zwanglosen Verkehr mit der Mutter gefährdet schien, zu sichern, schrieb er ihr am 4. September 1854 folgendes (die freie Übersetzung gibt nur das Wesentliche): »Gebe der Himmel, daß die wechselseitige Aufrichtigkeit der Gefühle, die wir für unsere Kinder hegen, die Dinge bald in einer etwas natürlicheren, nicht so sehr von unnützen und eingebildeten Schwierigkeiten durchsetzten Art zurechtrücke … Frau Patersi trägt nach wie vor die volle Verantwortung für die Mädchen bis zur Verheiratung. Aber da es niemals in meiner Absicht liegen kann, Ihnen ein Verhalten aufzunötigen, dessen Beobachtung Ihnen sicherlich keine moralische Genugtuung bereiten würde, da ich vielmehr beharrlich alles getan habe, was in meinen Kräften stand, um normale Beziehungen zwischen den Kindern und uns herzustellen, so besteht kein Hindernis und wird nie eines bestehen, daß Sie die Kinder, sei es morgens oder abends oder mittags, sehen, wie es Ihnen am besten paßt, und so, wie eine Mutter ihre Kinder zu sehen wünscht, ohne andere Zeugen als solche, die sie gern zu diesen Unterredungen beizieht. Die einzige Schwierigkeit, die sich da ergeben könnte, wäre von einer ganz äußerlichen und nüchternen Art. Es würde sich nur um den Fiaker oder um das vornehmere Vehikel handeln, das meine Töchter von der Rue Casimir-Périer in die Rue Sainte-Marie zu bringen hätte. Da es nun die Wohlanständigkeit verlangt und ich daran festhalte, daß meine Töchter nie in anderer Gesellschaft ausgehen als mit Frau Patersi oder mit Ihnen, so muß ich Sie bitten, sie an den Tagen, an denen Sie mit den Mädchen allein sein wollen, sie auch selbst abzuholen und zurückzubringen und diese Obsorge sonst niemandem, wer es auch sei, anzuvertrauen. An den Tagen, an denen sie Frau Patersi zu Ihnen bringt, versteht es sich von selbst, daß diese nicht als Gouvernante aus einem minderen Stockwerk zu behandeln ist, die man im Nebenzimmer warten läßt, daß Sie ihr vielmehr alle Rücksichten zu erweisen haben, die einer Frau gebühren, die durch ihre Stellung, ihr Alter und durch ihre Eigenschaften achtungswert ist und auch einen Anspruch auf Ihre Dankbarkeit hat. Das ist der ganze Inhalt meiner Instruktionen, der also, wie Sie sehen, auf eine Fiakerfrage hinausläuft.«
Die Gräfin fand trotzdem auch diese »Vorschriften« lästig und fragte, was sie denn noch alles zu befolgen habe. Frau Patersi hatte ihr bereits im Auftrage Liszts einen Besuch gemacht. Liszt schärfte nun der Gräfin ein, den Gegenbesuch zu machen. Bei dieser Gelegenheit werde sie die Kinder zuerst bei Frau Patersi wiedersehen und das sei eben in der rechten Ordnung. »Denn meine Töchter sind ihr seit vier Jahren anvertraut und bleiben unter ihrer verantwortlichen Aufsicht. Infolgedessen wäre es eine Verletzung der Rücksichten, die Frau Patersi verdient, wenn sie bei der Wiederaufnahme Ihrer Beziehungen zu den Kindern beiseitegeschoben würde. Ich erwarte daher Ihren Besuch bei Frau Patersi und setze voraus, daß Sie sie dann mit den Kindern zu sich einladen werden, sei es vormittags, zum Dinner oder abends, wie es sich am besten einteilen läßt, und daß der damit begonnene Verkehr den natürlichen Lauf nehmen wird, der zugleich Ihrem gesellschaftlichen Ansehen und Ihrer mütterlichen Neigung entspricht. Das einzige, worauf ich neuerdings bestehe, ist nur, daß Sie an den Tagen, an denen Sie meine Töchter ausnahmsweise allein bei sich haben wollen, sich auch die Mühe nehmen, sie selbst abzuholen und zurückzubringen, denn ich werde es niemals zulassen, daß andere Personen, außer Frau Patersi und Ihnen, die Kinder, sei es zu Fuß oder im Wagen, begleiten. Ich wiederhole, in der Lage, die einmal gegeben ist, müssen Ihre Beziehungen zu den Kindern stets in Übereinstimmung mit einem freundschaftlichen Gefühle für Frau Patersi bleiben. Ich müßte sonst Ihre Rückkehr zu den Kindern als eine Theaterszene oder als ein Kapitel aus einem Roman auffassen.« Liszt bezog sich dann auf einen Brief der Frau Patersi, die ihm mitgeteilt hatte, daß die Gräfin einige Partien für die Töchter in Aussicht habe und ihnen eine Mitgift von 100 000 Francs zuwenden wolle. Liszt hatte das Gefühl, daß seine Zugeständnisse an die Gräfin und so manches warme und herzliche Wort, das er dabei gefunden, von ihr mit diesen Vorteilen in Verbindung gebracht werde. Demgegenüber betonte er, daß auch er ihr für manche Freundlichkeit zu danken habe, daß aber seine Genugtuung darüber nicht im geringsten etwas mit dem Hintergedanken an einen persönlichen Vorteil zu tun habe, das widerspreche seinem Wesen und allen mit ihm gemachten Erfahrungen. »Ich bin Ihrem Wunsche, die Kinder wiederzusehen, großherzig entgegengekommen und habe Ihnen sofort die Art angegeben, die mir als die einfachste, zweckmäßigste und günstigste für Sie und für die Kinder erschien. Dabei hatte ich nur das Herz der Kinder und das ihrer Mutter im Auge, ohne im mindesten an äußere Vorteile zu denken, welche immer damit verbunden sein sollten … Meine Kinder, so hoffe ich, werden das Bekenntnis meines Lebens teilen und niemals für einen möglichen materiellen Vorteil auch nur das geringste von meiner moralischen Erbschaft preisgeben, die für sie wertvoller ist als alle Güter der Erde … Ich habe Ihnen in klaren Ziffern eröffnet, was ich für die Versorgung meiner Kinder tun kann. Mit den Zinsen des Kapitales, das ich für sie bestimme, habe ich bisher ihren Unterhalt und ihre Erziehung bestritten … wenn Sie die Mitgift Blandinens und Cosimas erhöhen wollen, so ist es mir unmöglich, Ihnen irgend etwas vorzuschreiben oder zu verwehren, und es ist selbstverständlich, daß auch meine Töchter mit der Freude, Sie wiederzusehen, niemals den Gedanken an einen persönlichen Vorteil verbinden werden, sei es auch die Aussicht auf einen Mann. Ein wohlgeratenes und gut erzogenes junges Mädchen (und ich habe Briefe von Blandinen, die mir beweisen, daß sie das ist) darf weder als ein Geldsack betrachtet werden, noch hat sie einem Manne nachzujagen … Das Wort Geschäft, das Sie in Ihrem letzten Briefe gebrauchen, ist hier nicht am Platze, denn ich vermöchte weder Ihre Rückkehr zu den Kindern noch deren Heirat jemals als ein Geschäft zu betrachten.«
Diesen Brief vom 20. November 1854 übersandte Liszt durch Frau Patersi und wünschte ausdrücklich, daß die Mädchen ihn lesen und abschreiben sollten, damit sie genau wüßten, wie sie mit ihrem Vater daran seien, und der Mutter gegenüber in diesem Wissen einen Rückhalt fänden. »Seid überzeugt, daß es nie in meiner Absicht gelegen sein konnte, Euch zum Vorwande eines Streites mit Eurer Mutter zu machen, und wenn ich Eure Trennung von ihr bisher als etwas Unvermeidbares hingenommen und aufrechterhalten habe, so geschah dies nur in dem höheren Gefühle meiner Pflicht. Ich würde es ohne Zweifel vorgezogen haben, wenn diese mir weniger Unangenehmes auferlegt hätte. – Einstweilen habt Ihr nur eines zu tun: zu warten, bis Frau d'Agoult ihren Gegenbesuch bei Frau Patersi macht. Ihr dürft in keinem Falle vor diesem Besuche zu ihr hingehen.« Blandine dankte »auf den Knien« für dieses Schreiben und besonders dafür, daß ihr Vater gut genug von seinen Töchtern denke, um zu glauben, daß sie nichts Eigennütziges im Sinne tragen. Sie selbst sei gar nicht ungeduldig, zu heiraten, die Jagd nach dem Manne sei auch für sie etwas Lächerliches, ihr Name und ihr geistiges Erbe sei für sie von größerem Gewicht als einige Francs mehr oder weniger. »Ja, wir werden das Bekenntnis Ihres Lebens teilen.« Zum Schlusse dankte sie auch der Fürstin für ihre weisen Ratschläge.
Die Auseinandersetzungen waren damit noch nicht beendet. Marie d'Agoult fügte sich zwar den »Vorschriften« und machte im übrigen, wie wir bereits gesehen haben, von den ihr eingeräumten Rechten weitgehenden Gebrauch. Trotzdem schien sie innerlich nicht zur Ruhe zu kommen, trotzdem litt sie an der Fürstin, deren Bedeutung sie einst unterschätzt hatte. Sie war überzeugt gewesen, daß auch dieses Verhältnis Liszts nur von begrenzter Dauer sein werde, und sah sich nun zu ihrem größten Erstaunen nicht nur einem unzerreißbaren Seelenbunde, sondern auch einer Frau gegenüber, die eine solche Macht auf Liszt ausübte, daß die Festigkeit und der Stolz, die er vom Anfang an gegenüber der Gräfin bewahrt hatte, von dieser beinahe als Erniedrigung empfunden wurde. Wir haben den Eindruck, daß ihr Kampf um die Kinder auch ein Ringen um die Seele Liszts war. Im Juni 1855 bat sie ihn der Kinder wegen um eine Unterredung in Paris. Er erwiderte, Briefe täten es auch, und wenn eine Unterredung unvermeidlich wäre, so solle sie für achtundvierzig Stunden nach Weimar kommen. Er sei nicht so frei wie sie, die Umstände seien für niemanden lästig, die Jahreszeit sei schön usw. Je näher Marie an Liszt heranzukommen suchte, um so deutlicher zog er sich zurück, um so mehr Lehrte er die Stacheln hervor, die er für lästige Zumutungen stets bereit hatte. Dies alles bewirkte aber doch nichts anderes als eine beinahe leidenschaftliche Hingabe der Mutter an die Mädchen, die sich auch mit ihren Herzen immer enger an die Gräfin anschlossen. Der Vater ermahnte sie stets, der Mutter nur mit Liebe und Achtung zu begegnen. Sie aber bedurften solcher Mahnung nicht: die Briefe Blandinens geben Zeugnis von dem ungetrübten Einvernehmen, das den lang ersehnten, nun wahrhaft beglückenden Verkehr mit Marie d'Agoult auszeichnete.
Der Verkehr der Geschwister untereinander wird in den Briefen an die Prinzessin Wittgenstein lebendig. Aus ihnen erfahren wir auch die Spitznamen, die sich die jungen Leute gegenseitig beilegten. Daniel, der, soweit es nur der Unterricht und die räumliche Trennung zuließ, in engster Fühlung mit seinen Schwestern blieb, hieß » le bouleau« (die Birke), Cosima » la petite cigogne« (der kleine Storch). Wir sehen den schlanken, weichen, schmiegsamen Knaben, der ins Jünglingsalter trat, und die hochgewachsene, langbeinige, etwas eckige Jungfrau leibhaftig vor uns. Blandine sah mehr der Mutter, Cosima mehr dem Vater ähnlich. Blandine war die Aufgeschlossene, Mitteilsame, Cosima herber und unzugänglicher, dabei voll innerer Leidenschaft. Diese Züge sind in den Jugendbriefen ausgeglichen durch den Humor, der beiden den Ton angibt, wenn sie sich nicht allzu ernsthaft mit ihrem Vater auseinandersetzen müssen. Alles, was sie sehen und beobachten, entlockt ihnen irgendeine launige oder drollige Bemerkung. Frau Patersi, besonders aber die zahlreichen Besucher und so manche Berühmtheit und mancher Sonderling, der bei ihnen aus- und eingeht, sind immer wieder der Gegenstand harmlos anzüglicher, oft sehr anschaulicher und lustiger Bemerkungen. Den 22. Oktober, den Geburtstag Liszts, pflegten die Mädchen in »ihrem« Hause festlich zu begehen. 1854 gab es da einen glänzenden Abend mit Gelehrten, Künstlern, Staatsbeamten, Offizieren des Heeres und der Marine, Finanzgrößen und Leuten von Welt, an dem auch getanzt, Musik gemacht und der anwesende Berlioz gefeiert wurde. Blandine berichtete darüber an die Prinzessin. Wir spüren das Behagen, das die Mädchen darin fanden, Haus zu machen und sich im Mittelpunkte eines solchen Kreises zu sehen.
War die Berichterstattung an den Vater durch kindliche Rücksicht beengt, so konnten sie sich Manja gegenüber einigermaßen gehen lassen. Frau Patersi hielt aber aus genaue Zeiteinteilung und gestattete den Mädchen nur, alle vierzehn Tage zu schreiben. Diese strenge Ordnung wurde vom Eigenwillen Cosimas durchbrochen. Wozu hatte sie denn von Manja in einem überschwenglichen Briefe den Namen einer »Kaiserin des himmlischen Reiches« empfangen? Das mußte sie doch gleich beantworten, und da sie auch, erfüllt von neuen Erlebnissen, vor allem über einen Ball zu berichten hatte, auf dem sie von neun Uhr abends bis vier Uhr morgens getanzt hatte, so nahm sie den Kampf mit Frau Patersi auf und erfocht den Sieg. auf welche Art? Ihr Brief beginnt mit den Worten: »Die Vorrechte der gekrönten Häupter sind wenig zahlreich. Gleichwohl habe ich mir durch Schreien und Lärmen das Recht erkämpft, den reizenden Brief meiner königlichen Schwester zu beantworten.« Schreien und Lärmen? Das war später nie die Sache Cosimas. Aus solchen jugendlichen Äußerungen entnehmen wir, wie stürmisch es manchmal in ihr zuging.
Die Eintracht in der Rue Casimir-Périer und mit der Rue Sainte-Marie wurde dadurch nicht gestört. Die Kinder ahnten auch keine Gefahr, sie waren nur freudigst bewegt, als Liszt mit einem kurzen Schreiben vom 13. August 1855 alle drei zu sich einlud. Hans von Bülows Mutter werde zu ihnen kommen und sie dann nach Weimar bringen. Das war die Krönung ihres Jugendglücks.
Hans von Bülow war jetzt in Berlin tätig. Seine Mutter war zu ihm gezogen. Für die sogenannte Zukunftsmusik hatte sie wenig Verständnis, und die Freundschaft ihres Sohnes mit dem Umsturzmanne Richard Wagner erschien ihr eher bedenklich. Liszt aber, dem die Herzen selten widerstanden, hatte auch das ihre gewonnen, und mit der Fürstin stimmte sie in vielem überein, wenn Liszts Töchter dem Bannkreis ihrer Mutter entzogen werden sollten, dann ergab es sich beinahe von selbst, daß sie der Frau Franziska von Bülow in Berlin anvertraut wurden. Weimar kam nicht in Betracht, wegen der ungeklärten und anfechtbaren gesellschaftlichen Stellung der Fürstin. Aber Berlin war nicht weit, dreimal so nahe wie Paris. Dort freilich war ein starker Widerstand zu befürchten: bei den Töchtern, der Mutter und der Großmutter. So reifte ein Plan, der beinahe einer Entführung glich.
Der Mutter schrieb Liszt am 13. August, am selben Tage, an dem er die Kinder eingeladen hatte: »Da Sie sich nicht entschließen können, Paris zu verlassen, und ich es nicht einrichten kann, hinzukommen, möchte ich wenigstens meine Kinder wiedersehen … Frau von Bülow hat die Güte, sie in Paris abzuholen und nach Weimar zu begleiten, wo ich ihnen einen Empfang bereiten will, der ihnen eine angenehme Erinnerung zurücklassen wird. Vielleicht ist es Ihnen nicht sonderlich angenehm, Frau von Bülow zu beherbergen; gleichwohl bitte ich Sie, liebste Mutter, sie während der drei bis vier Tage des Aufenthaltes in Paris, bis alle Reisevorbereitungen getroffen sind, möglichst behaglich einzuquartieren. Sie wissen, wie sehr ich Frau von Bülow achte und wie lieb mir ihr Sohn ist, den ich unter meinen Schülern als den berufensten erachte, mein Wirken in der Kunstwelt fortzusetzen und eine redlich von ihm verdiente glänzende Stellung einzunehmen. Nehmen Sie also Frau von Bülow freundlich auf und lassen Sie es ihr nicht merken, wenn ihre Gegenwart Ihrem kleinen Haushalt einigermaßen lästig fallen sollte. Das ist die einfachste Art, Gastfreundschaft zu üben.«
Die Kinder, die am 19. August in Weimar eintrafen, waren zunächst nur für eine Woche eingeladen. Doch es wurden mehr als zwei daraus. Der Vater konnte sich nicht so rasch von den Seinen trennen. Frau von Bülow war nach Berlin zurückgekehrt, auch die Fürstin war mit ihrer Tochter verreist. Sie wollte die Unbefangenheit der jungen Menschen, die das Zusammensein mit ihrem Vater recht genießen sollten, in keiner Weise hemmen und auch nicht den Anschein wecken, als sei ihr dieser Besuch ein willkommener Anlaß zu erzieherischer Bevormundung. So war die Familie ungestört vereint, und Liszt, der sich an seine Vaterschaft eigentlich immer wieder neu gewöhnen mußte, wurde durch die Lebhaftigkeit seiner Kinder selbst verjüngt und in einen Trubel hineingerissen, bei dem es nicht an Getöse (an » tapage«) fehlte. Der rastlos Arbeitende behielt mit Mühe den Vormittag für sich. Vom zweiten Frühstück an nahm er teil an der » tapageocratie«, die diese Zeit kennzeichnete. Daß er dabei im Geiste ganz der Fürstin verbunden blieb, das konnte er nicht verbergen: im Zwielicht des sinkenden Abends sprach er einmal Cosima als Magnolette an. Während der Anwesenheit der Kinder war auch der Oheim Liszts aus Wien, Eduard Liszt, zu Besuch in Weimar. Endlich geschah das Unerwartete. Am 4. September führte Liszt seine Töchter nach Merseburg, wo sie Frau von Bülow, aus Berlin kommend, in Empfang nahm. Blandine sträubte sich, ihr sogleich zu folgen. Sie setzte es beim Vater durch, daß die Mädchen noch einmal, mit Frau von Bülow, nach Weimar führen, und erst am 8. September reisten sie nach Berlin – nicht mehr nach Paris, das sie für »eine Woche« verlassen hatten. Daniel blieb noch bis in den Oktober beim Vater und setzte dann seine Studien in Paris fort. Die Mädchen aber hatten nun endgültig ihr Heim in Berlin. Sie klagten und weinten, aber sie fügten sich den »tyrannischen Forderungen« des Vaters. Dabei mochte ihnen die Trennung von ihm noch schwerer in die Seele fallen als der Gedanke an Paris.
Ernste Vorstellungen aber machte Anna Liszt ihrem Sohne. War sie doch durch die Tatsache, daß die Mädchen nicht zu ihr zurückkehrten, grenzenlos überrascht. Die Fürstin selbst hatte sie besucht und ihr diese Tatsache mitgeteilt. Liszt suchte ihr nun begreiflich zu machen, daß er im Hinblick auf Marie d'Agoult und deren aufdringliche Heiratspläne nicht anders handeln konnte. Er schrieb seiner Mutter nach der Abreise der Mädchen (in deutscher Sprache):
»Ich sage Ihnen vor allem meinen innigst gefühlten Dank für Ihren lieben Brief, der mir ein neuer Beweis Ihrer Herzensgüte ist. Wem könnten Sie sie besser zuwenden, als eben den Kindern, die auch die Ihrigen sind und denen Sie Ihre Liebe und Pflege so lange Jahre angedeihen ließen? Wie aufrichtig dankbar ich diese von Ihnen empfangene Guttat anerkenne, habe ich nicht versäumt, Ihnen mehrmals auszusprechen; doch viel tiefer als Worte auszudrücken vermögen, empfinde ich Ihre Güte. Gleichwohl bin ich durch mancherlei Verhältnisse – die Sie nicht so deutlich übersehen können als ich – gezwungen, bloß meiner Ansicht betreffs des jetzigen, hoffentlich nicht zu lange dauernden Etablissements meiner Töchter zu folgen. Die Verheiratung der einen oder anderen – so gern ich sie sehen würde – kann nicht vom Zaun gebrochen werden. Sie denken noch nicht daran, wären auch für solchen Entschluß nicht genügend vorbereitet … Wahrscheinlich wird ihnen Berlin mehr als bisher Paris dazu verhelfen. Ich selbst werde nicht vernachlässigen, meinesteils das Gehörige beizutragen, was mir jetzt leichter ist, nachdem ich sie einige Wochen bei mir hatte. Wenn ich nicht irre, hat sie dieses Zusammensein in ihrer Liebe und Anhänglichkeit für mich bestärkt, und ich erhoffe damit vertrauensvoll die besten Folgen. Frau von Bülow erachte ich bei ihrer Liebenswürdigkeit und der vorzüglichen Bildung ihres Verstandes für ganz geeignet, den Mädchen einen festen moralischen Halt zu geben, und da sie mir sehr freundschaftlich ergeben ist, wird sie die Mühe nicht scheuen, ihnen mit gutem Rat und liebevoller Fürsorge beizustehen … Auch werden sie in der deutschen Atmosphäre und in dem Umgangskreis der Frau von Bülow mehr auf das sittliche Element im Innern wie im gesellschaftlichen Leben hingewiesen. Genug, ich hoffe, liebste Mutter, daß wenn Sie mich im Laufe des nächsten Jahres in Weimar besuchen und die Mädchen wiedersehen, Sie Freude an ihnen erleben werden. Was ihre musikalischen Studien anbetrifft, so werden diese unter der Leitung Hans von Bülows – den ich wie einen zweiten Sohn liebe und als ein ganz eminentes Talent schätze – besser gefördert als irgendwo … Sie ersehen daraus, daß mein Entschluß, die Kinder nach Berlin übersiedeln zu lassen, nicht ohne reifliche Überlegung gefaßt wurde und mir nicht als Übereilung angerechnet werden kann.«
Damit war der Gegenstand zwischen Liszt und seiner Mutter ins reine gebracht. In ihrem Verkehr gab es nie herbe Worte und schroffen Tadel, auch wenn sie nicht einer Meinung waren. Größeren Aufruhr verursachte die Entfernung der Töchter bei Marie d'Agoult.
Sie weilte in Holland, als sie durch Blandine die Nachricht erhielt, daß die Kinder nach Weimar eingeladen seien. Sie konnte noch nicht ahnen, daß Weimar nur ein Halt auf der Reise nach Berlin sein sollte. Aber schon die Einladung in das Haus der Fürstin brachte sie außer sich, Carolyne Wittgenstein bewohnte mit ihrer Tochter ein Stockwerk der sogenannten Altenburg, eines ansehnlichen Gebäudes ober der Ilm, jenseits des Schloßparkes von Weimar. Liszt wohnte zuerst im »Erbprinzen«, und auch nachdem er selbst eine Wohnung auf der Altenburg bezogen hatte, behielt er doch sein früheres Zimmer, und alle Einladungen des Weimarer Hofes, die an ihn ergingen, wurden dort abgegeben. Marie d'Agoult aber dachte an einen Ärgernis erregenden gemeinsamen Haushalt und wußte ja auch nicht, daß ihre Kinder in der Abwesenheit der Fürstin auf der Altenburg untergebracht wurden. Marie d'Agoult dachte vor allem an die Gegnerin, die jetzt zum entscheidenden Schlage auszuholen schien. Was waren das doch für harmlose Neckereien gewesen, wenn die Fürstin den Mädchen Hüte und Kleider aus Weimar sandte, die die Gräfin in Paris scheußlich und unmöglich fand! Jetzt galt es bewaffneten Kampf. Und die tauglichste Waffe sollten die Mädchen sein. Diese selbst sollten nein sagen. Aber sie vermochten das nicht zu begreifen. Umsonst bestürmte sie die Mutter in drei Briefen, die einander in wenigen Tagen folgten. Der dritte sollte ihnen besonders mächtig ans Herz greifen. Voll Empörung schrieb Marie am 15. August an Blandine:
»Ich erhielt Deinen Brief! Ich bin über ihn so bestürzt, daß ich nicht weiß was anfangen. Man hat gewartet, bis ich nicht mehr da bin, um Euch etwas tun zu lassen, was gegen Eure Ehre ist. Ich berufe mich nicht auf Eure Anhänglichkeit, die kenne ich, an der habe ich niemals gezweifelt. Aber Eure Jugend, Eure Unerfahrenheit, Eure Blindheit erschrecken mich. Man wird Euch Schimpfliches begehen lassen, ohne daß Ihr es ahnt. Ihr esset das Brot einer Fremden« – so pflegte Maris d'Agoult die Fürstin zu nennen – »einer Fremden, die nicht die Frau Eures Vaters ist und es niemals sein wird. Ich würde Euch lieber arbeiten sehen, um zu leben, oder betteln, als diese letzte Beschimpfung. Blandine, Du mußt mit Deinem Vater sprechen, Du mußt ihm alles sagen, was ein gerechter Stolz Dir eingibt. Vermenge Deine Worte nicht mit Deiner Anhänglichkeit für mich. Mache nur Dein Alter geltend und Deine bevorstehende Großjährigkeit. Sag, daß Du es vorziehen würdest, Stunden zu geben und zur Großmutter nach Paris zurückzukehren, als – nicht bei ihm, sondern bei einer Fremden zu bleiben. Sage, daß Du nicht im Luxus leben willst, wenn Du kein Vermögen hast. Sage, daß Du Dich dagegen aufzulehnen beginnst und nicht mehr nachlassen wirst. Trachtet Euch so zu benehmen, daß die Person, die Euch betrügt, unterdrückt und entehrt, selber wünschen muß, Euch entfernt zu sehen. Das übrige geht mich an. Im Himmel oder in der Hölle, ich gehöre zu Euch, und Ihr gehört zu mir. Oh, meine stolzen Kinder, bleibt immer stolz!«
Auch in einem der vorigen Briefe – von der Nordsee – hatte sich die Gräfin in einen pathetischen Zorn hineingeredet, für den sie aber nicht den glücklichsten Ausdruck fand. »Ich trage Euch auf meinen Armen … bis zu den strengen Küsten dieses Ozeans, der, wie Tacitus sagt, mit seinen Geheimnissen auch die des Herkules behütet. Ich schrecke nicht vor der Unendlichkeit noch vor der Ewigkeit zurück, denn ich fühle Euch überall mit mir vereint.«
Diese Briefe verfehlten ihren Zweck. Die Liebe der Töchter zum Vater war größer und ihr Gefühlsleben zu jugendfrisch und gesund, als daß solche Großsprecherei auf sie wirken konnte. Sie fuhren ab und vergaßen sogar die Briefe der Mutter. Frau Patersi fand sie und sandte sie an Liszt. Dieser erhielt sie in Gegenwart seines Sohnes, und obwohl er nicht die Gepflogenheit hatte, Daniel zu Familienberatungen beizuziehen, hielt er es doch für nützlich, ihn mit dem Inhalt bekannt zu machen. Der Junge – wir können dies verstehen – war außer sich über die »Spionage« und das »Polizeiverfahren« der Frau Patersi. Er nannte das »abscheulich«, und – Liszt verzieh ihm, weil ja meistens die Leute so sprechen und urteilen, die über eine Sache noch nicht nachgedacht haben. Liszt schrieb nun aber seinen Töchtern, die bereits in Berlin waren.
Es ist der schärfste Brief, den wir von ihm kennen. Nachdem er sie zuerst ganz freundlich damit aufgezogen, daß sie nach ihrer Gewohnheit eine Uhr und einige Taschentücher usw. in Weimar vergessen hatten, hält er ihnen vor, daß sie leichtsinnig genug gewesen seien, die Briefe ihrer Mutter in der Rue Casimir-Périer liegenzulassen. Mit Genugtuung verzeichnet er die Tatsache, daß diese Briefe dadurch zu seiner Kenntnis gekommen seien, wofür er Frau Patersi aufrichtigen Dank wisse. Die Briefe seien ja doch eigentlich an ihn gerichtet, denn er habe stets gewünscht, das Verhältnis seiner Kinder zur Fürstin einfach und natürlich zu gestalten, er habe sie nach Weimar gerufen, er sei verantwortlich für all das, wovon Frau d'Agoult behauptet, daß es gegen die Ehre oder eine Beschimpfung sei. »Wie gehässig auch die Rolle ist, die mir Frau d'Agoult zuteilen möchte, so kann ich doch, wenn ich nicht meine väterliche Pflicht vernachlässigen und in Euren Herzen keine unnatürlichen Gefühle aufkommen lassen will, mich der harten Notwendigkeit nicht entziehen, sozusagen vor dem Richterstuhle meiner eigenen Kinder zu erscheinen und mich vor ihnen zu verteidigen, indem ich ihnen beweise, daß ich niemals etwas getan oder sie zu etwas veranlaßt habe, was gegen die Ehre ist.«
Er nimmt die einzelnen Stellen des besonders gegen ihn gerichteten letzten Briefes vor. Niemals, sagte er, hat irgend jemand darauf gewartet, daß Frau d'Agoult nicht mehr in Paris sei, um die Mädchen nach Weimar zu bringen. »Diese Reise war, wenn ich mich nicht irre, schon seit langem Euer Wunsch wie der meine, und ich habe nur die Ferien Daniels abgewartet, ohne mich irgendwie darum zu kümmern, wo Frau d'Agoult sei oder nicht sei, um Euch alle drei unter dem Dache des Hauses, das ich bewohne, zu vereinigen. Dieses Haus ist, wie Ihr wißt, sehr geräumig, hat mehrere Stockwerke und etwa dreißig Zimmer. Frau Fürstin Wittgenstein wohnt mit ihrer Tochter im ersten Stock, und bis jetzt haben sich die angesehensten Personen immer eine Ehre daraus gemacht, dort zugelassen zu werden, weit davon entfernt, zu glauben, es könne für irgend jemanden auf der Welt gegen die Ehre sein, dort zu erscheinen … Seit Eurer Geburt bis zum heutigen Tage hat Eure Mutter niemals für das Brot, das Ihr eßt, für den Ort, wo Ihr wohnt usw. die geringste Sorge getragen. Obwohl sie sich immer eines beträchtlichen Einkommens erfreute, hat sie es doch für richtig gehalten, dieses nur für ihre persönliche Annehmlichkeit auszugeben und mir seit neunzehn Jahren die alleinige und ausschließliche Aufgabe zu überlassen, für alle Eure Bedürfnisse zu sorgen und die Kosten Eurer Erziehung zu tragen. Wenn nun eine Fremde käme und sich um Euer Brot kümmern wollte (was nicht der Fall ist), so meine ich, daß sie Euch weniger fremd bliebe, als Euch Eure Mutter bisher geblieben ist … Die gewaltsamen Ausdrücke der Frau d'Agoult beweisen nur, daß sie große Worte macht, wenn sie, um ihr schlechtes Gewissen zu beruhigen, sich bemüht, das Unrecht, das sie selbst begangen, in irreführender Weise auf einen anderen abzuwälzen. Dieses Verfahren ist zwar sehr gebräuchlich, wird aber dadurch nicht besser. Ich bemerke noch im Vorbeigehen, daß der Ausdruck ›arbeiten, um zu leben‹ das Höchste an aristokratischer Demokratie ist … Ich habe mir sagen lassen, daß der Luxus in dem Hotel der Rue Sainte-Marie in den Champs Elysées dem auf der Altenburg weit überlegen sei, und es ist gewiß, daß man sich dort leichter als auf der Altenburg damit abfinden würde, wenn Ihr betteln geht oder zur Großmutter zurückkehrt, ohne daß man dabei etwas von dem eleganten Komfort und dem künstlerischen Geschmack des Hauses aufzugeben braucht, das ein Gegenstand der Bewunderung für die freundlichen Besucher Nélidas ist … Ich wäre Euch sehr verbunden, wenn Ihr mir erklären wolltet, mit Hilfe der Erleuchtung Eurer Mutter, inwiefern diese ›Person‹ Euch jemals betrogen hat, wann sie es je versucht hat, Euch zu unterdrücken, und in welcher Art sie Euch entehrt.«
Für die übertriebenen Bilder und Gleichnisse der Gräfin hat er natürlich nur Spott und Hohn. Auch die Tausende von Badenden, meint er, die sich alljährlich in Scheweningen oder in Ostende zusammenfinden, schrecken nicht vor der Unendlichkeit noch vor der Ewigkeit dieser Ufer zurück, und die schwülstige Redeweise Nélidas kann freilich ahnungslos von den Geheimnissen des Herkules schwätzen. Den Anruf des Stolzes aber, mit dem die Gräfin ihren letzten Brief ausklingen läßt, hält Liszt für sehr unklug. »Wenn Ihr nur stolz wäret, so hättet Ihr für Eure Mutter zu erröten wegen ihres Zornes und ihrer Gehässigkeit … Wie schön das auch klingt: Bleibt immer stolz, meine stolzen Kinder! – ich werde Euch diesen Zuruf nicht wiederholen, aus Rücksicht auf Eure Mutter. Wohl aber sage ich Euch und beschwöre ich Euch, unter Bitten und Tränen, seid sanft und demütig im Herzen, wie es uns der Heiland befohlen hat, damit immer Sanftheit in Eurem Leben sei und Ihr auf dem rechten Wege verharret, auf dem Euch der Segen Eures Vaters und die wahre Ehre folgen werden.« Zum Schluß ermächtigt er seine Töchter, eine Abschrift dieses Briefes ihrer Mutter zukommen zu lassen, falls sie es für gut halten, und jedenfalls vor Frau von Bülow kein Geheimnis daraus zu machen.
Wir gewahren erschüttert, wie weit die Liebenden von einst sich voneineinander entfernt hatten. Aber der Stärkere und Größere war auch diesmal Liszt, unerreichbar in seiner seelischen Hoheit. Blandine, die zuerst auch empört gewesen war über Frau Patersi, schrieb dem Vater, daß sie ihm dankbar sei für die Hilfe, die er ihr geleistet habe, um sich von Selbstvorwürfen zu befreien, und daß sie ihn bitte, den Kummer, den sie ihm verursacht habe, zu vergeben und seine Töchter zu segnen, die nichts anderes wünschen, als ihn glücklich zu machen. Liszt nahm diese Erklärung in aller Form zur Kenntnis, und damit war Paris für ihn erledigt.