Balduin Möllhausen
Die Mandanen-Waise
Balduin Möllhausen

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

16

Das Wiedersehen

Am zweiten Abend nach meiner Zusammenkunft mit dem Oberstleutnant brachte Anton mir die Nachricht, daß jener mich in kürzester Frist erwarte.

Die entscheidende Stunde war also da; ich sollte Johanna sehen und sprechen, um zugleich auf ewig Abschied von ihr zu nehmen.

Obgleich ich für meine Person auf das Wiedersehen vorbereitet war, obgleich eine schmerzliche Freude mich erfüllte, noch einmal Johannas süße Stimme zu hören, noch einmal für ihre unerschütterliche Liebe und Treue danken zu dürfen, schwebte ich doch in einer angstvollen Spannung, wie derjenige sie wohl empfinden mag, der auf seinem letzten Gange der nächsten Zukunft gedenkt.

Erst als ich mich wieder bei meinem Vormunde in der Stube befand und die ernste, feierliche Entschlossenheit in seinen Zügen gewahrte, gewann ich neue Fassung und die überlegene Ruhe, die zu dem gewagten Schritt notwendig war.

Keines Wortes mächtig, reichte ich dem Oberstleutnant die Hand.

»Es hat sich eher gemacht, als ich glaubte,« sagte er, mich umarmend. »Meine Lisette ist eben zur Abendmesse gefahren, das Hausgesinde habe ich ihr nachgeschickt, und außer mir befindet sich nur noch Johannas Wärterin im Hause. Niemand ahnt unser Vorhaben, die beiden Priester sind in gewohnter Weise hier gewesen und sogar von mir im Vorbeigehen begrüßt worden, und wenn ich nicht irre, gedenken sie nach der Messe noch einmal hier vorzusprechen. Sie sind nicht blind dafür, daß meiner armen guten Johanna Auflösung in jeder Stunde erfolgen kann. Nun, nun, fasse dich, mein Junge, sei ein Mann,« fügte er mit bebender Stimme hinzu, als er gewahrte, daß ich erbleichte, »du mußt dich ins Unvermeidliche fügen und auch bedenken, daß die Pfaffen, so Gott will, mein Haus zum letzten Mal betreten haben.«

Sobald er dann Anton angewiesen, wieder seinen alten Platz am Ofen einzunehmen, mir aber behilflich gewesen war, mein Aussehen durch einige von mir auf der Försterei zurückgelassene Kleidungsstücke meiner früheren Erscheinung möglichst ähnlich zu machen, begab er sich in Johannas Gemach, um die Wärterin zu entfernen. Nach einigen Minuten kehrte er zurück, und mich am Arm ergreifend, zog er mich schweigend mit sich fort.

Nachdem wir die beiden anstoßenden Gemächer durchschritten hatten, gelangten wir auf einen schmalen, nach der Küche führenden Gang, den eine kleine Lampe matt erhellte.

»Hier ist sie,« sagte der Oberstleutnant, auf eine geschlossene Tür weisend, »warte, bis ich dich rufe, und fasse allen Mut zusammen, du wirst ihn gebrauchen.«

Gleich darauf trat er ein, die Tür,nur anlehnend, so daß ich jedes in dem Gemach gewechselte Wort deutlich verstehen konnte. –

»Bringst du mir den versprochenen Trost?« fragte Johanna ihren näher tretenden Onkel mit matter Stimme.

»Er wartet vor der Tür auf dich,« ehtgegnete der Oberstleutnant, »ich wollte dich nur fragen, meine liebe Tochter, ob du sonst noch Wünsche hast, damit ich euch nachher nicht zu stören brauche.«

»Onkel, teuerster Onkel, wenn du doch den göttlichen Lehren dein Ohr nicht verschließen wolltest,« versetzte Johanna unbeschreiblich traurig, »hast du nur einmal mit mir vereinigt gebetet, so wird dein Herz sich erweichen, du wirst deine Irrtümer einsehen –«

»Schon gut, schon gut, mein Kind, ich will mit dir beten,« unterbrach sie der Oberstleutnant, »mit dir und mit dem, der vor der Tür auf die Erlaubnis zum Eintreten harrt, will ich gern beten.«

»O Gott, wie gut du bist,« rief Johanna inbrünstig aus, »du hast mir vergönnt, meinen teuren Onkel bekehren zu dürfen; o, lasse doch auch deine Güte und Gnade über meinen armen verlassenen Gustav walten!«

»Auch dein Gustav soll mit dir beten,« versetzte der Oberstleutnant tief ergriffen.

»Gustav Wandel? mein armer verlassener Gustav?« fragte Johanna, und ihr Atem schien zu stocken.

Der Oberstleutnant antwortete nicht mehr, er war bereits aus der Tür getreten, und im nächsten Augenblick kniete ich vor Johanna, von meinen Gefühlen überwältigt, mein Gesicht auf ihren Knien bergend. –

Totenstille umgab uns; ich wagte nicht, aufzuschauen, weil ich das Schrecklichste befürchtete. Da fiel etwas neben mir auf die Erde, es war das Kruzifix, und gleichzeitig fühlte ich, daß zwei zarte Hände schmeichelnd, wie sie so oft getan, sich auf mein Haupt legten.

»Armer, armer Gustav, sogar deine schönen Locken haben sie dir geraubt,« hauchte sie über mich hin, indem sie sich mühsam zu mir niederneigte und einen Kuß auf meine Stime drückte.

O, es war ein Augenblick, so unendlich süß und doch wieder so namenlos bitter, daß ich glaubte, vor Schmerz und Wehmut vergehen zu müssen.

Zögernd schaute ich endlich empor; Johanna blickte mir in die Augen, worauf sie die Hände zurückzog und damit, wie um eine Vision zu verscheuchen, nach beiden Seiten über ihre fast durchsichtigen, blaugeäderten Schläfen strich.

»Gustav, bist du es wirklich?« rief sie dann laut aus, »bist du es wirklich, du mein einziger, mein eigener Gustav?«

»Johanna, ich bin gekommen, um mit dir zu leben und zu sterben!« sagte ich leise, noch immer kniend und meine Arme um ihre hinfällige Gestalt schlingend.

Da entstürzten Tränen ihren milden blauen Augen, ihre Arme legten sich um meine Schultern, und ihr Haupt sanft auf das meinige stützend, schluchzte sie heftig.

»Gustav, du heiß und ewig Geliebter,« flüsterte sie mit tiefinnigem Ausdruck, »ach, wie habe ich gelitten; nun aber ist alles gut; ich bin krank gewesen, ich bin es noch, aber tröste dich, mein guter Gustav, ich werde genesen, und du wirst nicht wieder von mir gehen, oder ich begleite dich bis an der Welt Ende. O, welch schreckliche Dinge haben sie mir erzählt, oder habe ich es geträumt – so gräßlich, daß es alle Beschreibung übersteigt. Ich sah Männer mit schwarzen Augen und entsetzlichen Blicken, du weißt ja, den Herrn Bernhard am Gesundbrunnen; und sie hatten eine eiserne Kette um meine Brust gelegt, und wenn sie sprachen, dann zog sich die Kette, mir namenlose Schmerzen bereitend, immer enger zusammen. Auch von dir habe ich geträumt, von dir, meinem Gustav; ich wußte, wo du warst, wußte, daß du deine arme Johanna noch immer treu und aufrichtig liebtest, aber ich fürchtete mich, von dir zu sprechen, mir war, als ob bei der Erwähnung deines Namens die sengenden Augen mich ins Herz getroffen hätten. Doch ich bin kindisch, ich vergesse, daß alles nur ein Traum, ein krankhafter Zustand gewesen ist,« fügte sie unter Tränen lächelnd hinzu.

»Johanna, meine arme Johanna, schone dich,« stotterte ich, ohne eigentlich zu wissen, was ich sagte, der Tod hatte den holden bleichen Zügen und den eingefallenen zarten Wangen sein Zeichen so deutlich aufgedrückt, daß mich bei ihrem Anblick eine wilde Verzweiflung ergriff.

»Ich mich schonen, Geliebter?« fragte sie lächelnd, »jetzt brauche ich mich nicht mehr zu schonen. Bis vor wenigen Minuten noch wurde mir das Atmen schwer, aber jetzt, höre doch, wie laut und kräftig ich spreche, meine Brust ist frei, der Bann, der meine Brust so schmerzhaft einzwängte, ist gebrochen und ich werde mich bald, sehr bald wieder erholen. – Lieber, lieber Gustav, du bist mein Arzt gewesen, ich fühle es, denn seit deinem Eintritt befinde ich mich so wohl, ach so wohl. O, mein Gott, niemals hätte ich geglaubt, daß mir des Lebens Freuden noch einmal lächeln würden!« rief sie entzückt aus, und dann mich zu sich emporziehend und krampfhaft umarmend, weinte sie lange an meiner Brust.

Auch ich weinte so bitterlich, wie ich es seit meiner Kindheit nicht getan, doch während mir ein tiefer Seelenschmerz die Brust zusammenschnürte, waren es Freudentränen, die unaufhaltsam über Johannas zarte Wangen rannen.

Nach einer Weile richtete sie sich wieder empor, und sich zurücklehnend, betrachtete sie mich lange sinnend.

»Bist du es denn wirklich, mein Gustav?« fragte sie, »ja das sind deine lieben treuen Augen, deine liebe kluge Stirn; aber nicht so traurig darfst du blicken, denn die Spuren, die die schwere Kerkerhaft dir aufgedrückt hat, werden unter meiner Pflege bald, sehr bald schwinden, und vor allem der schmerzliche Zug um deinen Mund. O, laß mich nur etwas gekräftigt sein, denn vorläufig bedarf ich ja selbst noch einiger Pflege,« fügte sie mit einem holden Lächeln hinzu, mit einem Lächeln, so rührend und hoffnungsvoll, daß es mir in die Seele schnitt und mir vor unbeschreiblichem Weh auf's neue unbewußt Tränen in die Augen drangen.

»Arme, schwer geprüfte Johanna!« sagte ich halblaut, ihre schmalen Hände mit heißen Küssen bedeckend.

In demselben Augenblick bemerkte sie den Oberstleutnant, der leise in die Stube getreten war und mit schlaff niederhängenden Armen und gefalteten Händen, ein Bild des Grames, zu uns herüberschaute.

»Schone dich, mein Herzchen, schone dich und strenge dich nicht zu sehr an,« sprach er, mir heimlich einen bezeichnenden Blick zusendend.

»Laß mich doch sprechen; seit meine Brust freier ist, fühle ich die Neigung, immerwährend zu erzählen – nur müde bin ich noch; eine halbe Stunde möchte ich so recht ruhig und ungestört schlafen – an deiner Brust ruhen, Gustav, setze dich zu mir – und Onkel, gib du mir deine Hand,« sagte sie plötzlich leise, fast flüsternd, und zugleich wich die letzte Spur von Röte aus ihren Wangen.

Schnell holte ich einen Stuhl herbei, und als ich mich neben sie niederließ, lehnte sie mit einem glückseligen Lächeln ihr teures Haupt an meine Brust.

Ich schloß sie in meine Arme, der Oberstleutnant, der vor ihr auf einem Schemel saß, hielt ihre Hand, und angstvoll hafteten unsere Blicke an den lieben treuen Augen, die sich geschlossen hatten.

Nach einigen Minuten hoben sich ihre Lider mit den langen seidenen Wimpern noch einmal zur Hälfte empor; »nur eine halbe Stunde,« flüsterte sie, ihr schönes Lockenhaupt fester an meine Brust lehnend, »weckt mich nicht, ich bin so müde, und Gustav – an deinem Herzen ruht es sich so schön – so schön – so süß, daß ich ewig so schlafen möchte.«

Ihre Augen schlossen sich wieder; eine heiße Träne rollte mir über die Wange und fiel ihr gerade auf die Stirn.

Johanna lächelte, wie im Schlaf; ihr Atem wurde leiser und leiser, bis ich ihn zuletzt nicht mehr hörte; das süße Lächeln thronte aber noch immer auf dem engelschönen, bleichen Antlitz.

Minuten verrannen; die Lampe brannte trüber, ihr matter Schein spiegelte sich in einem Tropfen, der an der äußersten Spitze von meines Vormundes Schnurrbart zitterte; ich sah es, als ich, nach Fassung ringend, ihn fragend und Trost von ihm erhoffend anschaute.

Ein kaum bemerkbares Beben erschütterte die zarte Gestalt in meinen Armen; ihr Haupt sank noch schwerer und tiefer auf meine Brust hinab, ihre Arme erschlafften, und die zarten Finger, die in meiner und meines Vormundes Händen ruhten, verloren die Spannkraft.

»Um Gotteswillen, sie stirbt,« flüsterte ich, von grenzenloser Verzweiflung ergriffen, dem Oberstleutnant zu.

»Mein Sohn«, antwortete dieser hohl und dabei doch mit eigentümlicher Entschiedenheit, »ich kenne solche Zeichen, ermanne dich und gedenke deiner armen Johanna hinfort als eines dieser Welt entrückten Engels.«

Ich wollte, ich konnte die schreckliche Kunde nicht glauben. Trotzdem ich auf das Schlimmste vorbereitet war, hielt ich es doch nicht für möglich, daß die guten, aufrichtigen Augen sich nicht mehr öffnen sollten, ihr treues Herz zu schlagen aufgehört habe. Schmückte doch noch immer das selige Lächeln ihr marmorbleiches Antlitz, das Lächeln, das ihr meine Träne entlockt und der Tod dann festgebannt hatte.

Sogar als ich, der Aufforderung des Oberstleutnants taumelnd Folge leistend, mit ihm die teure Tote nach ihrem seit Wochen nicht mehr berührten Lager hintrug, bezweifelte ich noch immer, daß sie wirklich ihrem letzten Schlummer in die Arme gesunken sei.

Wie ich sie dann aber vor mir sah, so still, so bleich und dabei doch so himmlisch-schön, wie der lächelnde Zug sich gar nicht mehr verändern wollte und ihre lieben Hände regungslos so liegen blieben, wie wir sie hinlegten, da erst brach sich mein verhaltener Jammer über den entsetzlichen Verlust, den ich erlitten hatte, Bahn.

»Johanna!« rief ich, von namenloser Verzweiflung ergriffen aus; »Johanna!« rief ich noch lauter, und mit unwiderstehlicher Gewalt zog es mich auf die Knie nieder, und mein Kopf sank auf die erkaltende Hand der geliebten Toten.

Doch Johanna hörte nicht mehr, sie fühlte nicht die Tränen, die sie benetzten.

Düsterer brannte die Lampe, der Oberstleutnant durchmaß das Gemach mit so festen Schritten, daß sie unheimlich widerhallten, ich aber betete inbrünstig zu Gott, daß er mich angesichts meines vernichteten irdischen Glücks, ebenfalls zu sich nehmen möge. –

Längere Zeit verstrich; schwach kämpfte die Lampe um ihr Leben und laut dröhnten die festen Schritte auf dem Fußboden.

Plötzlich verstummte das Geräusch dicht hinter mir, und des Oberstleutnants Hand legte sich auf meine Schulter. Der alte Krieger mit seiner eisernen Natur war wieder vollständig Herr seiner selbst geworden.

»Mein Sohn, ich habe dir Zeit gelassen, sie zu beweinen, jetzt aber ist es Zeit, auch an dich selber zu denken,« sagte er mit seiner gewöhnlichen, rauhen, nur etwas heiserer klingenden Stimme.

Ich gab keine Antwort, ich war mir nicht einmal bewußt, daß er nur zu mir gesprochen haben könne.

Was galt mir jetzt noch meine Sicherheit? Was kümmerte es mich, daß die Häscher vielleicht auf meiner Spur waren? Ich hatte mit allem abgeschlossen, denn meine Johanna war ja tot.

Der Oberstleutnant, das Vergebliche seiner Bemühungen einsehend, setzte seinen Gang wieder fort. Er öffnete das Fenster und lauschte in die Nacht hinaus; er begab sich an die Haustür und kehrte zurück; ich dagegen kniete noch immer vor meiner armen Johanna.

Abermals hatte er sich an die Haustür begeben, als er nach längerem Lauschen plötzlich mit hastigen Bewegungen in das Sterbegemach stürzte.

»Wenn auch nicht deinetwegen, so mußt du dich wenigstens um meinetwillen ermannen!« rief er mit gepreßter Stimme aus, indem er mich mit kräftigem Griff emporzog. »Ich höre den Wagen, der mir meine Lisette bringt, fort also, keine Minute ist zu verlieren, oder dein alter Vormund hat auch noch den Kummer, sich deiner nur als eines in Fesseln schmachtenden Verbrechers erinnern zu dürfen.«

Mechanisch und schwankend folgte ich ihm bis in die Mitte des Gemaches; dann aber riß ich mich wieder los, und noch einmal vor Johanna hintretend, legte ich, von unsäglicher Qual gefoltert, meine Hand auf ihre weiße Stirn.

»Schlafe wohl, mein guter Engel, meine Johanna,« seufzte ich aus gebrochenem Herzen, »schlafe wohl und verzeihe mir den Kummer, den du um meinetwillen erduldet hast.«

Einen innigen Kuß drückte ich auf ihre bleichen, erkaltenden Lippen, ein letzter Blick traf das stille, selbst im Tode noch freundliche Antlitz, und dann trat ich an die Seite meines Vormundes.

»Ich bin bereit,« sagte ich ruhig, indem wir uns schnell auf den Hof begaben, wo Anton meiner harrte, »ich habe jetzt nur noch Ihre letzten Anordnungen und Ratschläge entgegenzunehmen.«

»Mein Segen begleite dich auf allen deinen Wegen,« sagte der Oberstleutnant, mich umarmend, »mein Rat und meine Wünsche sind, daß du so schnell als möglich diese Gegend verlassest. Schreibe mir, sobald du in Sicherheit bist, und vergiß nicht, mir die Adresse anzugeben, unter der ich dir antworten kann. Fort, Junge, fort, sie kommen, Gott segne dich und erhalte dich auf den Pfaden der Ehre. Johanna ist in deinen Armen gestorben, die größte Gnade, die dir unter den obwaltenden Verhältnissen zuteil werden könnte, vergiß das nie und nun fort!«

Ich küßte meinem alten, väterlichen Freunde inbrünstig die Hand, und fast in demselben Augenblick, in dem der Wagen nach dem Hofe hinaufbog, verschwand ich auf der entgegengesetzten Seite der Landstraße mit Anton im Walde. Der treue Bursche hatte sich auf den Rat des Oberstleutnants mit meinen zurückgelassenen Kleidungsstücken beladen, um dadurch jeglicher Möglichkeit einer Entdeckung vorzubeugen.

Wie wir an jenem Abend in unser Versteck zurückgelangten, weiß ich nicht. Ich erinnere mich nur, daß ich auf meinem dürftigen Lager zu dem Bewußtsein einer grenzenlosen Vereinsammung und Verlassenheit erwachte. –

Die Nacht wich dem Tage, die niedrig stehende Sonne beschrieb ihren weiten Bogen von Osten nach Westen, und noch immer dachte ich nicht an meinen Aufbruch.

Wohl bat mich Anton mit tränenfeuchten Augen, dem Rate meines Vormundes zu folgen; wohl sprach er von der Verräterei und der List seines Bruders, wohl wies er darauf hin, daß er sich endlich einmal nach seinem Jakob umsehen müsse.

Daß seine lange Abwesenheit bei den Seinigen Mißtrauen erwecken müsse, begriff ich sehr wohl, ebenso, daß mit jedem Tage die Sehnsucht nach seinem Raben wuchs, und so riet ich ihm denn, sich noch an demselben Abend nach der Hütte seiner Mutter zu begeben, dort einige Erkundigungen einzuziehen und dann bei der ersten günstigen Gelegenheit zu mir zurückzukehren.

Er tat, wie ich ihm riet, doch bereits in der Mitte des folgenden Tages traf er wieder bei mir ein. Die Gelegenheit, das elterliche Obdach ohne Aufsehen zu verlassen, hatte sich nur zu schnell geboten. Trotzdem er seinem Bruder eine Anzahl vorgeblich auf der Landstraße erbettelter kleiner Münzen einhändigte, war er von diesem ungewöhnlich hart mißhandelt worden. Die Mißhandlungen hätte er wohl ertragen, als derselbe aber drohte, seinem Jakob den Hals umzudrehen, hatte er den Raben an sich genommen, und den günstigen Augenblick erspähend, war er davongelaufen.

Der Vogel, der seine Zunge nicht zu zügeln verstand, war allerdings ein gefährlicher Gast für mich; um alles in der Welt aber hätte ich es nicht vermocht, des braven, treuherzigen Burschen einzige Freude aus meiner Nähe zu bannen, um so mehr, da während meines Aufenthaltes in der Höhle kein fremder Mensch die abgelegene Schlucht betreten hatte und Anton, die mir drohende Gefahr nicht unterschätzend, bereitwilligst seinen vorwitzigen Jakob mittelst einer an seinem Fuße befestigten Schnur im Hintergrunde der Höhle gefangen hielt.

Entdeckungen, die vielleicht in Beziehung zu meiner Lage zu bringen gewesen wären, hatte er nicht gemacht. Nur einmal war er von seinem Bruder gefragt worden, ob er mich gesehen habe, und als er dies verneinte, hatte jener die Bemerkung hingeworfen, daß der Oberstleutnant schwerlich ohne fremde Hilfe das tote Fräulein von dem Stuhl auf das Bett getragen haben könne.

Anton fand in dieser Äußerung nichts Verdächtiges, ich dagegen erriet sogleich, daß jener Umstand jedenfalls zwischen Bernhard und dem wilden Andres zur Sprache gekommen war.

Auch die Stunde, in der die Beerdigung in dem nächsten Kirchdorf stattfinden sollte, hatte Anton sich gemerkt, und von ganzem Herzen billigte ich seinen Entschluß, ihr beiwohnen und mir demnächst einen Bericht über die Feierlichkeit abstatten zu wollen.

Ich gab ihm ein Sträußchen Blumen und grüne Farne mit, das einzige, was in dem Bereich meines Verstecks zwischen dem Gestein aufzufinden war, und erteilte ihm den Auftrag, das Sträußchen auf den Sarg zu legen und die liebe, teure Tote von mir zu grüßen, aber leise, ganz leise, so daß seine Worte nicht von den Umstehenden vernommen werden könnten.

Als er dann gegangen war, drangen mir Tränen der Wut in die Augen, und mit krampfhaftem Griff schälten meine Finger das graue Moos von den vor mir liegenden Felstrümmern.

»O, meine Rache wird euch erreichen,« stöhnte ich in mich hinein, und verzweiflungsvoll griff ich in die dornenreiehen Brombeerranken, daß das Blut an mehreren Stellen aus der aufgerissenen Haut meiner Hände hervorquoll, »ja, sie wird, sie muß euch erreichen,« wiederholte ich in Gedanken, das Blut mit wilder Gier betrachtend und an meine Lippen führend.

Ein ferner gedämpfter Ton drang zu mir in mein Versteck.

Ich lauschte; derselbe Ton wiederholte sich wieder und immer wieder.

Die Stunde war gekommen; sie trugen meine Johanna zu Grabe und feierlich läuteten dazu die Glocken in der abwärts gelegenen Kirche.

Sie läuteten meine Johanna zu Grabe und mit ihr auch meine Jugend. In tiefster Traurer, unter unsäglichen Schmerzen und Tränen überschritt ich die in meinem Leben scharfgezeichnete Grenze zwischen dem leicht erregbaren und an frohen Hoffnungen so reichen Jünglinge und dem ernsten, überlegenden Manne.

Die Glocken läuteten feierlich und friedlich, gerade wie damals, als ich, noch ein Kind, mit dankbarem Herzen ihren Tönen lauschte, mit dankbarem Herzen, weil ich glaubte, die freundlichen Glocken wären von dem lieben Gott beauftragt, die schönen Sonntage und Festtage und vor allen Dingen das liebe, liebe Christfest zu machen.

Meine Tränen waren versiegt, versiegt auf lange, lange Zeit, versiegt vielleicht auf ewig.

 


 << zurück weiter >>