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Langsam, langsam entrannen die Stunden, langsamer noch, als hinter den eisernen Gittern meines Gefängnisses. Ich hatte soviel auf dem Herzen, was ich meinem gütigen Vormunde mitzuteilen wünschte, daß ich mich wie von einer schweren Last bedrückt fühlte und sehnsuchtsvoll darauf harrte, ihn durch ein offenes Geständnis zum Mitträger der mir auferlegten Bürde zu machen und dafür in seiner herzlichen rauhen Weise getröstet zu werden.
Aus seinem Benehmen gegen Anton und seinem Schreiben an mich ging ja hervor, daß er mir nicht mehr zürne, es nicht mehr für ein Verbrechen an seinen König halte, mit einem armen, durch das Land gehetzten politischen Flüchtling zu verkehren.
Ich hoffte auf Trost von ihm; doch wo wäre Trost für meinen gebrochenen Seelenzustand zu finden gewesen?
Die Stunden verrannen langsam; und als draußen das Licht endlich erlosch und die in der Höhle herrschende Dämmerung sich in schwarze Finsternis verwandelt hatte, da erschienen mir die Minuten so lang, so endlos, wie kurz vorher noch die Stunden.
Doch ich durfte mein Versteck nicht vor der verabredeten Zeit verlassen; denn der Oberstleutnant hatte zu dringend und bestimmt vor jeder Übereilung gewarnt. –
Endlich war der Zeitpunkt da; mit Hilfe von Stahl und Stein überzeugte ich mich, daß meine Uhr halb zwölf zeigte, und behutsam krochen wir, Anton immer voran, ins Freie hinaus.
Ohne jemand zu begegnen, erreichten wir die Oberförsterei. Auf dem Hofe war alles still; das alte Haus lag wie in tiefem Schlummer da; auf der Vorderseite brannte nur noch in des Oberstleutnants Stube Licht, aber auch dieses brannte trübe, als wenn es, von seiner einförmigen Arbeit ermüdet, hätte einnicken mögen. Nach der Gartenseite des Hauses ging ich nicht herum, ich fürchtete mich vor einem Anblick, wie er mir am vorhergehenden Abend zuteil geworden war.
Als wir in den Hof eintraten, sprangen mir die Hunde, die kurz vorher unsere Annäherung durch scharf abgebrochenes Gebelle gemeldet hatten, freundlich winselnd entgegen und begleiteten uns bis zur Haustür. Das Geräusch mußte der Oberstleutnant vernommen haben, denn gerade, als Anton an die Fensterscheiben klopfen wollte, öffnete sich die Tür, und vor mir stand mein Vormund.
Er befand sich im Dunkeln, ich vermochte also seine Gestalt nicht zu unterscheiden, aber an der Art, in der seine Hand sich auf meine Schulter legte und mich mit festem Griff zu sich hereinzog, hätte ich ihn vor Tausenden sogleich erkannt.
Und schweigend begaben wir uns in das Gemach, Anton mit.
Nachdem wir eingetreten waren und der Oberstleutnant sich noch einmal von der Sicherheit der nächsten Umgebung überzeugt hatte, ergriff er schmerzlich bewegt meine Hand. Sein einziges Auge bohrte sich förmlich in meine Seele ein, der weiße Schnurrbart zuckte, als ob er plötzlich eigenes Leben erhalten hätte, und längere Zeit dauerte es, bis der alte, würdige Krieger Worte fand.
»Junge, entschuldige dich nicht,« begann er ernst, und seine rechte Hand drückte die meinige krampfhaft, »entschuldige dich nicht, ich habe dir unrecht getan; ich hätte wissen müssen, daß du dich lieber in tausend Millionen Granatstücke würdest zerreißen lassen, ehe du zu Johanna eine Silbe über ihre Eltern verloren hättest.«
»So wahr mir Gott helfe«, antwortete ich, indem ich seine Hand küßte, was er, ganz gegen seine Gewohnheit, ruhig geschehen ließ; »ich bin – nein, Johanna und ich sind die Opfer einer furchtbaren Täuschung, eines tief angelegten verbrecherischen Planes geworden –«
»Ich habe es geahnt,« unterbrach mich der Oberstleutnant, mich zum Sofa führend, »komm, setze dich, ruhe deine geschundenen Glieder, stärke dich durch ein Glas Wein, und dann laß uns plaudern. Hm, ich wollte dich nicht wiedersehen, aber es ist besser so, diese Nacht und die Erinnerung daran wird uns beiden ein Trost sein. Ja, ja, mein Sohn, so recht aufrichtig wollen wir miteinander sprechen – es ist das letzte Mal, denn hoffentlich bist du morgen um diese Zeit bereits weit fort von hier, und dann, wenn es überhaupt einen Himmel gibt, treffen wir auch wohl noch einmal wieder zusammen.«
»So Gott will, noch in diesem Leben,« versetzte ich aus überwallendem Herzen, »denn Sie erfreuen Sich noch immer einer jugendlichen Rüstigkeit, und Amerika liegt nicht außerhalb der Welt.«
»Scheinbar, ja scheinbar, mein lieber Junge, bin ich rüstig genug, aber glaube mir, alles Biwakieren in meinem Leben, zusammengenommen, und oft genug war der zum Bett bestimmte Erdboden verdammt naß und kalt, hat nicht halb so zerbröckelnd auf meine alten Knochen eingewirkt wie meiner armen Nichte hoffnungsloser Zustand.«
»Ist ihr Zustand denn wirklich hoffnungslos?« fragte ich tonlos, den Oberstleutnant starr anblickend.
»Hoffnungslos, mein Sohn, leider nur zu hoffnungslos; der Arzt sagt es, und ich sehe es; oder glaubst du etwa, ich würde das Pfaffengesindel auch nur einen Augenblick in meinem Hause dulden, wenn es nicht geschähe, um dem armen, überspannten Kinde die letzten paar Lebenstage nicht zu verbittern? Junge, es ist hart, so jung, so schön, so gut und so heiß geliebt zur großen Armee abmarschieren zu müssen. Du erinnerst dich wohl noch, als ich einst zu dir von den Sünden der Eltern sprach, die an den Kindern heimgesucht würden; damals dachte ich nur an eine erbliche Krankheit; jetzt aber sehe ich, daß jener Spruch wörtlich genommen werden muß.«
»Hätten nicht jene Menschen mit ihrem verderblichen Einfluß fern von Johanna gehalten werden können?«
»Halte sie fern!« rief der Oberstleutnant grimmig aus, und die emporweisende Klappe sank durch einen leichten Stoß, das leere Auge bedeckend, nieder; »halte sie fern, wenn ein so liebes, braves Mädchen, erfüllt von schändlicherweise hervorgerufenen fixen Ideen, Tag und Nacht jammert und nach dem geistlichen Troste des ersten besten Kaplans verlangt! Halte sie fern, wenn das arme Kind deine Knie umklammert, wenn deine Frau ihre Bitten und Tränen mit denen ihres Schützlings vereinigt und dich auf Schritt und Tritt mit ihren närrischen, aber gut gemeinten Ansichten verfolgt.«
»Ich sah den jungen Geistlichen, den Johanna sich zum Lehrer gewählt hat.«
»Sonst ein sehr verständiger, umgänglicher Mensch,« schaltete der Oberstleutnant ein.
»Mag wohl sein,« entgegnete ich, »aber ich kenne ihn schon lange, und er gerade ist der Verräter, der mich in die politischen Wirren hineinzog, dann aber, als mir jede Umkehr abgeschnitten war, die Rolle eines Spions übernahm, um selber keinen Verdacht auf sich zu lenken.«
»Der Herr Bernhard?« fragte mein Vormund heftig emporschreckend. »O, dafür verschaffe mir Beweise, und so wahr ein Gott lebt, für seine Teilnahme an der Verschwörung will ich ihn dahin bringen, wohin er dich zu bringen gedachte!«
»Er war zu listig, zu vorsichtig, ich glaube kaum, daß sich Beweise gegen ihn beschaffen lassen würden, und gelänge dies auch wirklich, so würden wir sie trotzdem nicht gegen ihn benutzen dürfen. Durch mein Ehrenwort bin ich verpflichtet, nie als Zeuge gegen ihn aufzutreten. Ich würde mich desselben Verbrechens schuldig machen, das wir ihm zur Last legen.«
»Du hast recht, Junge, es geht nicht, es geht nicht,« versetzte der Oberstleutnant, indem er, wie entkräftet, auf seinen Platz zurücksank, »und dann Johanna, bedenke Johanna, die in ihrer unglücklichen religiösen Überspanntheit ihr ganzes Heil von seinen verdammten Lehren erwartet. Welche Folge könnte es für sie haben, erführe sie, daß er – daß er –«
»Sprechen Sie es aus, Herr Oberstleutnant,« fügte ich zähneknirschend hinzu, »sprechen Sie es ohne Rückhalt aus: erführe Johanna, daß der Herr Bernhard ein Schurke, ein Gotteslästerer sei, der nur nach einem tief angelegten, verbrecherischen Plan handelte. Mein Lebensglück hat der Verräter zerstört, indem er Johanna an den Rand des Grabes brachte, und ich habe nichts mehr zu verlieren. Aber eine Aufgabe bleibt mir noch, eine heilige Aufgabe, nämlich meine Hand in das Blut des Schurken und seines Mitschuldigen zu tauchen, in ihren letzten Lebensaugenblicken ihre Verbrechen aufzuzählen und ihnen in die ersterbenden Ohren zu schreien.«
»Du wirst das nicht tun, mein Sohn,« sagte der Oberstleutnant entschieden, »du wirst das nicht tun, wenn dir die letzten Wünsche deines greisen Vormundes noch etwas gelten. Ziehe hin in Frieden, gründe dir in fernen Landen eine neue Heimat und gönne mir den Trost, deiner als eines braven, von keiner unedlen Handlung besudelten Mannes gedenken zu dürfen.«
Ich schwieg, aber mein Entschluß, blutige Vergeltung zu üben, war noch nicht erschüttert, und um einen klaren Blick in Bernhards verderbliches Gewebe zu gewinnen, bat ich den Oberstleutnant, mir zu erzählen, wie Johannas trauriger Seelenzustand seinen Anfang genommen, und welchen Ursachen es vorzugsweise zuzuschreiben sei, daß die verheerende Krankheit mit so rasender Schnelligkeit um sich gegriffen und ihre Gesundheit unheilbar zerstört habe.
Der Oberstleutnant, als ob es ihm lieb gewesen sei, sich ausschließlich mit der Vergangenheit beschäftigen zu können und dadurch andern auf ihn einstürmenden, peinigenden Gedanken zu entgehen, begann ohne zu zögern:
»Welch harter Schlag für uns alle die Nachricht war, daß du als Hochverräter verhaftet worden seist, brauche ich dir nicht zu schildern. Ich sah die schönsten Hoffnungen, die ich noch am späten Abend meines Lebens hegen durfte, durch deinen unverantwortlichen Leichtsinn zerstört und betrachtete daher, wie es für einen Mann von loyalen Gesinnungen nicht anders möglich ist, jede fernere Verbindung zwischen uns auf ewig abgebrochen. Meine gute Lisette dachte ähnlich, doch hob sie deine guten Eigenschaften hervor und behauptete, daß es nie so weit gekommen wäre, wenn du über Religionssachen nicht so leichtfertig geurteilt und dir einen richtigen Begriff über das ewige Leben angeeignet hättest.
»Anders als wir beide aber dachte Johanna.
»Das liebe Kind, obwohl in tausend Ängsten, tadelte dich nicht nur nicht, sondern pries dich sogar als edlen Charakter. Händeringend beschwor sie mich, dir zur Flucht behilflich zu sein, und nicht eher beruhigte sie sich, als bis ich, von ihrem Jammer überwältigt, heilig versprach, ihre paar tausend Taler zu Bestechungen und wer weiß was sonst noch zu verwenden und dir auf den Weg nach Amerika zu helfen.
»Eh' ich über das Wie und Wann der Erfüllung meines an Johanna gegebenen Versprechens mit mir im reinen war, trat ein Umstand ein, der alle unsere Pläne wieder umstieß.
»Zu diesen Plänen gehörte, daß Johanna mit dir in irgendeiner Hafenstadt zusammentreffen und als deine dir angetraute Frau dich ins Ausland begleiten wollte. – Armes, armes Kind, nie hätte ich dir soviel Mut zugetraut!
»Eines Tages also, es mochte ungefähr acht Wochen nach deiner Verhaftung sein, trat Johanna hastig in meine Stube. Ihre Augen waren verweint, ihre Locken zerrauft, ihr Gesicht glühte, und dabei zitterte sie dergestalt, daß sie sich kaum aufrecht zu halten vermochte.
»Onkel!« rief sie laut aus und ihre Augen waren starr auf mich gerichtet, »wie sind meine Eltern gestorben?!«
»Deine Eltern?« fragte ich verwirrt zurück, denn gerade diese Frage hätte ich am allerwenigsten erwartet; »deiner Mutter mußt du dich noch erinnern können«, fügte ich dann hinzu, »und dein Vater starb, als du noch ein ganz kleines Kind warst. Aber was soll das, wie kommst du darauf?«
»Onkel, du verschweigst mir etwas, wohlan, so will ich es dir sagen!« fuhr sie heftig fort. »Meine Mutter hat sich an meinem Vater versündigt, und mein Vater hat Hand an sich selbst gelegt! Ich bin die Tochter einer Sünderin und eines Selbstmörders, und meine Eltern schmachten in der ewigen Verdammnis, während ich, anstatt ihre Schuld durch ein Gott wohlgefälliges Leben und aufrichtige Buße zu sühnen, fröhlich in den Tag hineinlebe!«
»Wer hat dir das Geheimnis verraten?« rief ich entsetzt aus, und dabei dachte ich an dich.
»Gott hat es mir durch einen himmlischen Sendboten kundtun lassen und ich – ich will meine armen Eltern aus der ewigen Verdammnis retten!« kreischte sie auf und dann sank sie besinnungslos zu Boden.
»Als sie endlich auf ihrem Lager aus einer tiefen Ohnmacht erwachte, redete sie irre. Eine schwere Krankheit hatte sie befallen, und während einer Woche glaubten wir täglich, daß es mit ihr zu Ende ginge.
In meiner Angst und in der festen Überzeugung, daß nur du allein ihr die furchtbaren Mitteilungen gemacht haben könntest, schrieb ich an dich. Es waren harte Worte, die ich dir sagte, die aber durch den schweren Verdacht, der auf dir lastete, vollkommen gerechtfertigt waren. Erst nach langer, ruhiger Überlegung begann der Zweifel, ob du den Frevel an Johanna begangen habest, und ich wurde darin bestärkt durch die im Delirium wiederholte Erwähnung eines von einem himmlischen Boten an sie gerichteten Briefes.
»Johannas vielfache Fragen, ob du dich bereits auf freiem Fuße befändest, und meine aufs neue erwachende Zuneigung zu dir, den ich schließlich nur für einen leichtsinnigen, verführten Patron hielt, veranlaßten mich nunmehr, mit aller Macht für deine Befreiung zu wirken. Dabei war ich glücklich genug, die Teilnahme einer höchst achtbaren Familie, in deren Hause Johanna ihre erste Jugend verlebt hatte, für dich zu erwecken. Jenen treuen Freunden verdankst du hauptsächlich, daß die Mauern des Kerkers dich nicht mehr umschließen.
»Ich war von allem unterrichtet, was dort in Frankfurt geschah, und unsere Freunde erhielten wieder durch mich regelmäßige Berichte über meine arme Johanna. Wir alle hofften, du würdest dich durch die Besorgnis vor deiner Wiederverhaftung und durch die ernsten Ratschläge wohlmeinender Leute bestimmen lassen, so schnell als möglich dem französischen Hafen zuzueilen. Du hast in dieser Beziehung unseren Erwartungen nicht entsprochen und wirst infolgedessen eine um so trübere Erinnerung von hier mit fortnehmen. Ich glaube wenigstens, daß du, wie ich dich kenne, nicht von hier scheiden willst, ohne Johanna wenigstens heimlich gesehen zu haben.«
»Ich habe sie gesehen –«
»Du hast sie gesehen?« fragte der Oberstleutnant erstaunt.
Ich erzählte darauf meine Erlebnisse vom vorhergehenden Abend bis in die kleinsten Einzelheiten und fand einen gewissen schmerzlichen Genuß darin, nicht nur jedes Wort zu wiederholen, das Johanna selbst gesprochen hatte, sondern auch der schmachvollen Reden der beiden Geistlichen Erwähnung zu tun. Dabei fiel mir auf, daß mein Vormund nur um die Besuche Bernhards wußte, der andere Priester ihm dagegen vollständig fremd war.
»Du hast Johanna gesehen,« nahm der Oberstleutnant wieder das Wort, sobald ich geendigt hatte, »und damit den Zweck, der dich hierherführte, erreicht; du kannst daher schon morgen deine Weiterreise antreten.«
Der Oberstleutnant, mein Schweigen für Zustimmung nehmend, fuhr darauf fort:
»Wie du Johanna gestern gesehen hast, sitzt sie, mit kurzen Unterbrechungen, bereits seit Monaten, nur daß ihre Kräfte sie mit erschreckender Schnelligkeit verlassen und sie, nach dem Ausspruch des Arztes, ihrer baldigen Auflösung entgegengeht. Das zarte Wesen war noch zu jung, zu schwach, um das schreckliche Geheimnis ertragen zu können, überhaupt erfahren zu dürfen. Doch wer auch immer die Schuld trägt, nicht zufrieden damit, ihr ganzes Erdendasein vergiftet zu haben, benutzte er auch noch ihre krankhafte Aufregung dazu, sie zu überzeugen, daß es ihr obliege, die Sünden ihrer Eltern abzubüßen. Den verhängnisvollen Brief hatte sie in ihrer ersten Verzweiflung vernichtet, doch ließ sich sein Inhalt aus ihrem späteren Benehmen leicht erraten.
»In ihrer Krankheit verlangte sie fortwährend nach einem katholischen Geistlichen. Meine Lisette glaubte darin einen Fingerzeig Gottes zu entdecken und riet mir dringend, ihren Bitten zu willfahren. Lange weigerte ich mich hartnäckig; aber das arme Kind flehte, daß es einen Stein hätte erbarmen mögen; »was hilft mir meine Religion« rief sie unter Tränen aus, »die mir nur gestattet, für mein eigenes Seelenheil Sorge zu tragen? Verschafft mir einen rechtgläubigen katholischen Geistlichen, der mich lehrt, die Schuld meiner Eltern zu sühnen, oder ich sterbe in meinen Sünden, die doppelt schwer auf mir lasten, weil ich versäumte, eine mir auferlegte heilige Pflicht zu erfüllen.« O, mein Sohn, so manches liebe Mal habe ich dem Tode in die Augen geschaut, wenn die feindlichen Feuerschlünde Verderben in unsere Reihen schleuderten, ich habe nicht gezittert, allein die Veränderung zu beobachten, die innerhalb kurzer Zeit mit Johanna vor sich ging, das war mehr, als ein ganzes Regiment zu ertragen vermocht hätte.
»Wo Herr Bernhard, der bewußte Kaplan, so schnell herkam, nachdem ich meine Zustimmung gegeben hatte, weiß ich nicht zu erklären; jedenfalls aber hielt ich ihn dann für einen verständigen Menschen, der seiner schwierigen Aufgabe wohl gewachsen sei. Er besuchte von da ab Johanna fast täglich; meine Lisette war stets zugegen und entzückt von der kindlichen Frömmigkeit und christlichen Geduld, mit der er Johanna tröstete.
»Von nun an aber beschäftigte sich ihr Geist ausschließlich mit dem vermeintlich trostlosen Zustande ihrer verstorbenen Eltern.
»Ja, zuletzt betrachtete sie jeden irdischen Gedanken, sogar die Erinnerung an dich als eine schwere Sünde.
»So stehen also die Sachen; du kannst daraus entnehmen, welch schwere Zeit ich hier verlebte. Dich noch einmal wiedergesehen zu haben, gereicht mir zum Trost und zur Beruhigung. Deinen leichtsinnigen Streich vergebe ich dir, um des Kummers willen, den auch du zu tragen bestimmt bist; ich verzeihe dir doppelt gern, weil ich aus deinem Munde vernommen habe, daß du in üble Hände geraten und gewissermaßen wider deinen Willen in den Strudel mit hineingerissen worden bist. Ich beklage dich innig und tief, ich beklage dich, nächst Johanna, am meisten; aber du bist ein Mann und wirst dein Los männlich tragen. Wohin nun das Geschick dich verschlagen mag und welche Wechselfälle des Lebens dich treffen, erinnere dich zuweilen deines alten Vormundes, der noch in seiner letzten Stunde dir seinen Segen, über Länder und Meere fort, zusenden wird.
»So, mein Sohn, ich bin zu Ende; was ich dir zu sagen wünschte, das habe ich dir mitgeteilt; nun erzähle auch du mir offen und ehrlich deine Erlebnisse, und dann wollen wir voneinander scheiden, – aber trinke, – trinke einmal, du siehst so bleich aus, du dauerst mich, trinke ein halbes Gläschen, mein Kind.«
Dem alten Mann zu Liebe führte ich das Glas an die Lippen, aber zu trinken vermochte ich nicht. Ich vergegenwärtigte mir Johanna, die, nur wenig Schritte von mir entfernt, vielleicht vergeblich den Schlummer herbeisehnte.
Nachdem ich sodann einen Blick auf Anton geworfen, der sich in der Nähe des mäßig geheizten Ofens niedergekauert hatte und eingeschlafen war, begann ich meinen Bericht. Ich schilderte nicht nur meinen Aufenthalt in Frankfurt, meine Flucht und meine Reise von dorther bis zur Oberförsterei, sondern auch alles, was nur im entferntesten in Beziehung zu Johanna oder mir gebracht werden konnte. Ich erwähnte unseres Zusammentreffens mit Bernhard bei dem Gesundbrunnen und der daselbst gewechselten Worte; dann Bernhards ersten Besuchs bei mir und seiner Beredsamkeit, die damals mein ganzes Innerstes in wilde enthusiastische Flammen setzte. Ebenso gedachte ich Fräulein Brüsselbachs und ihrer Warnung, die sie auf dem Wege bei Rolandseck an mich ergehen ließ, woraus ich den Schluß zog, daß kurz vor mir Bernhard mit dem vorgeblichen Onkel an derselben Stelle gewesen und vielleicht von der Irrsinnigen belauscht worden sei. Auch von der verdächtigen Freundschaft zwischen Bernhard und Antons Bruder und der Unterredung, die ich am vorhergehenden Abend erlauscht hatte, erzählte ich.
Und als ich dann geendigt, da richtete mein Vormund sein unter der buschigen Braue fast verschwindendes Auge auf mich, als ob er mich damit habe durchbohren wollen.
»Junge, merkst du, was aus der ganzen Geschichte hervorgeht?« fragte er und zugleich legte er seine zitternde Hand auf meinen Arm, »wenn du's nicht merkst, so will ich dir's sagen: die Sünden der Eltern sind an meiner armen Johanna heimgesucht worden, und zwar auf Anstiften desjenigen, der einst von meinem seligen Bruder die wohlverdiente körperliche Züchtigung erhielt. Ja, mein Sohn, der Gefährte Bernhards ist niemand anders, als jener verfluchte Pfaffe, der einst das Familienglück meines Bruders grausam zerstörte! Nur er, der jene unglücklichen Verhältnisse nächst mir, am genauesten kannte, war imstande, vor Johanna die traurige Vergangenheit zu enthüllen oder durch den Herrn Bernhard enthüllen zu lassen und ihr Gemüt durch die frevelhafte Vorspiegelung: daß nur die katholische Religion ihr Gelegenheit biete, ihre Eltern aus dem Fegefeuer zu retten, unheilbar zu zerrütten! Hahaha! ein schöner Sendbote Gottes! O, Fluch, tausendfacher Fluch über diejenigen schwarzröckigen Schurken, gleichviel, welcher Konfession sie angehören, die sich mit scheinheiliger Miene in das Familienleben anschleichen und sich anmaßen, nach Willkür über das Wohl und Wehe, den Glauben und die ganze Zukunft der einzelnen Mitglieder ihre Bestimmungen treffen zu dürfen!«
Bei diesen Worten sprang der erbitterte alte Krieger so geräuschvoll empor, daß Anton erwachte.
So hatte ich ihn noch nie gesehen; sein Auge glühte unheimlich, seine Brust hob und senkte sich unter den übereinandergeschlagenen Armen, während sein sonst farbloses Gesicht sich hoch rötete.
Nachdem er das Gemach einige Male durchmessen, blieb er plötzlich vor mir stehen. »Den Andres erschieße ich, sowie er sich in dem Forst betreffen läßt,« sagte er mit einer Ruhe, die nichts Gutes zu verkünden schien, und dann setzte er seinen Gang wieder fort, ohne zu beachten, daß Anton, von Todesangst ergriffen, zuerst ihm und dann mir einen flehenden Blick zusandte.
»Und die Pfaffen hetze ich bei ihrem nächsten Besuch mit den Hunden vom Hofe,« fuhr er fort, abermals vor mir stehen bleibend.
»Aber Johanna, die sich so sehr an Bernhards Besuche gewöhnt hat, würde sein plötzliches Fortbleiben keine nachteiligen Folgen für sie haben können?« fragte ich besorgt.
»Das ist alles wahr genug,« entgegnete der Oberstleutnant, »aber wie soll ich es machen, um das Gesindel los zu werden?«
»Wenn man Johanna vielleicht Ersatz böte? Man hat doch vielfach erlebt, daß ein Gemüt, das durch eine heftige Aufregung verwirrt wurde, durch eine ähnliche, aber aus entgegengesetzten Ursachen entspringende Bewegung Heilung fand; was meinen Sie, wenn ich urplötzlich vor Johanna hinträte? Vergessen hat sie mich nicht, dafür sind mir gestern abend die schlagendsten Beweise geworden, und es ist fast mit Sicherheit vorauszusehen, daß mein Erscheinen nicht ohne entscheidenden Einfluß auf ihren Geist bleiben wird.«
Wiederum durchmaß mein Vormund das Gemach mit festen Schritten, worauf er sich nach einer Weile mir wieder zuwendete.
»Gustav, du kannst recht haben,« hob er an, »für dich, für mich, für uns alle wäre es eine Wohltat, für Johanna selbst aber am meisten, erfreute sie sich vor ihrem Ende noch einiger lichter Tage. Sie soll dich sehen, aber ich muß mir die Sache überlegen; es muß so geschehen, daß nicht, während du dich bei dem armen Kinde befindest, die Pfaffen hingehen und dich verraten. Laß mich daher allein; kehre in dein Versteck zurück, wo du am sichersten aufgehoben bist, und sende jeden Abend, sobald es dunkel geworden, den Anton zum Rapport. Gehe, mein Kind, hoffe das Beste und sei vorsichtig. Deine Gefangennahme wäre ein Nagel mehr zu meinem Sarge, also auf Wiedersehen!«
So sprechend, begleitete er mich bis an die Haustür; zu antworten vermochte ich nicht, nur die Hand drückte ich meinem alten teuern Wohltäter, er aber wußte, was ich damit sagen wollte.
Wir waren schon längst vom Hofe herunter und dicht vor der ersten Biegung der Landstraße angekommen, da erkannte ich, rückwärts schauend, in der geöffneten Tür vor dem schwachen Lichtschimmer, der aus der Stube auf die Hausflur fiel, noch immer die hohe regungslose Gestalt meines Vormundes.