Balduin Möllhausen
Die Mandanen-Waise
Balduin Möllhausen

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10

Die Entscheidung

Der Sommer entschwand, der Herbst trat an seine Stelle. Weißer Reif stahl sich auf die abgeernteten Felder und die grünen Herbstsaaten; in den Scheunen klapperten im lustigsten Takt die Dreschflegel, in den dunklen Kellern, eng eingeschlossen in schwere Fässer, gährte ungeduldig der Feuer bergende Most; die Lieder der Lerchen wurden kürzer, und statt des melancholischen Gesanges der Nachtigallen ertönte das Zirpen, Schnarren und Zwitschern der Stare und Weinvögel durch die Wälder und über die Fluren. Der Rauch der zahllosen mit dürrem Kartoffelkraut genährten Feuer der Feldarbeiter stieg träge in den stillen Äther empor, träge, wie die weißen Spinnegewebe, die, zu formlosen Flocken und Bändern zusammengeballt, sich unbekümmert um das Wohin den sanften Luftströmungen zur Eintagsreise anvertraut hatten.

Kürzer wurden die Tage, schärfer die tötenden Nachtfröste, rauher die oftmals von Regen begleiteten Stürme, und in dichteren Massen schüttelten die Bäume ihre abgestorbenen Blätter auf den feuchten Boden nieder, während die Vögel in langen Reihen hoch oben, den Wolken nahe, jauchzend über sie hinzogen.

Alles erinnerte an den erstarrenden Winter, an die Vergänglichkeit des Irdischen. In meiner Brust dagegen herrschte der schönste Frühlingssonnenschein, ein Sonnenschein, den ich für so unvergänglich hielt wie den ewigen Kreislauf der Gestirne, so unvergänglich wie die treue Liebe, die in meinem Herzen wohnte.

War es doch zur Zeit der rauhen Herbststürme, als der schöne Traum der letzten Monate sich verwirklichte, als Johanna mir mit einem unbeschreiblich holden Erröten gestand, daß meine Liebe sie beglücke, daß sie mir für das ganze Leben angehören, fortan Leid und Freude mit mir teilen wolle. Ich aber küßte ihr liebes gutes Antlitz, die rosigen Lippen, die treuen Augen und schwur, sie zu lieben, solange mir der Atem vergönnt sei, sie zu lieben in alle Ewigkeit. Ich schwur, daß meine Liebe zu ihr mich zu übermenschlichen Anstrengungen antreiben und die Erfolge meines redlichen Strebens nur ihr eigenstes Verdienst sein würden.

Was ich dabei dachte und wie hoch meine ehrgeizigen Pläne hinausliefen, das ahnte sie nicht. Sie mochte sich aber wohl einzelner Neckereien ihres Onkels erinnern, der zeitweise wenigstens einen Regierungspräsidenten in mir zu entdecken vorgab, denn sie lächelte mir harmlos zu, und sich fester an mich schmiegend, bat sie mich, keine zu vornehme Dame aus ihr machen zu wollen, woran sie die eifrige Versicherung schloß, daß das bescheidenste Los an meiner Seite sie hinreichend beglücke, so sehr beglücke, daß Glanz und Reichtum sie nie glücklicher machen könnten.

Rings um uns her fielen die gestorbenen und dürren Blätter geheimnisvoll lispelnd zur Erde, gleichsam warnend vor allzu zuversichtlichem Hoffen; in unseren Herzen dagegen wohnte der Frühling, der ewige, frische Frühling mit seiner unvergänglichen Lebenswärme und den berauschenden Hoffnungen, ein Frühling, dessen mögliche Unterbrechung oder Abkürzung weit, weit außerhalb der Grenzen unseres Denkens lag.

Daß es unsern jugendlich vermessenen Hoffnungen so ergehen könne wie den Blättern, daß eine nach der andern erbleichen, absterben und demnächst unwiederbringlich dahinsinken könne, das kam uns kein einziges Mal in den Sinn.

Wie der Frühling in unsern Herzen wohnte, so schien dessen belebende Wärme auch auf diejenigen überzugehen, mit denen wir im nächsten Verkehr standen.

Mein Vormund äußerte unverhohlen seine Zufriedenheit über unsern Entschluß und brauchte uns nur anzuschauen, um sogleich in seine etwas derbe, geräuschvolle Fröhlichkeit zu verfallen, in die einzustimmen er sogar seine gute fromme Lisette zwang.

Auch Trostesworte hatte der alte gütige Herr für mich, wenn er mich zuweilen in tiefernstes Nachdenken versunken sah und meine Stimmung für Ungeduld hielt, die ich über die lange Zeit empfände, die mich noch von meinem holden Ziel trennte, während ich doch nur über die geheimen demagogischen Umtriebe nachdachte, in die ich mich immer tiefer und tiefer verwickelt hatte.

Die Herbststürme hatten die letzten Blätter von den Bäumen gestreift und der Winter deckte die Millionen von kleinen Leichen mit seinen kalten Flocken zu.

Über Bäche und Quellen bildeten sich kristallene Überbrückungen und unermüdlich trug der Rhein seine schweren Eislasten dem Meere zu.

Alles hatte sich in der freien Natur verändert; in meiner Lebensweise dagegen war keine Veränderung eingetreten. Bald in Bonn, bald auf der Oberförsterei brachte ich meine Tage hin; bald beschäftigt mit Studien, bald im Kreise von Mitverschworenen, bald an der Seite meiner holden Braut.

Bernhard begegnete ich nur äußerst selten; selbst wenn er sich in Bonn befand, beobachtete er die Vorsicht, sich nie an unsern heimlichen Zusammenkünften zu beteiligen. Dagegen sah ich ihn mehrfach des Abends in meiner Wohnung, und dann verfehlte er nie, den in meiner Brust glühenden Funken durch seine chrakteristischen Vergleiche und begeisternden Ermutigungen zur hellen Flamme anzufachen.

Auch zwischen Anton, seinem Raben und mir hatte sich eine Art freundschaftliches Verhältnis gebildet, der arme unglückliche Mensch, der sich jedesmal, wenn ich auf der Oberförsterei weilte, einstellte, um »den feinen jungen Herrn, der mit ihm an einem und demselben Tisch gegessen und seinen Jakob gerettet habe«, zu begrüßen und Johanna durch den Raben zum Kaffeekochen auffordern zu lassen.

Der arme Bursche entfernte sich dann nie, ohne daß er gesättigt und auch noch auf andere Weise beschenkt worden wäre, und wir alle ergötzten uns an dem sprechenden Ausdruck rührender Dankbarkeit, der aus seinen trüben Augen hervorleuchtete.

Seine Mutter, eine böse Frau mit hinterlistigem Blick, sah ich nur einige Male aus der Ferne; dagegen begegnete ich seinem hartherzigen Bruder mehrfach, in der Tat so oft, daß es den Anschein gewann, als ob er mir absichtlich in den Weg trete. Er begrüßte mich jedesmal sehr höflich und keine Miene seines brutalen Gesichts verriet, daß er sich erinnere, einst mit einer geheimen Botschaft an mich betraut gewesen zu sein.

Ich betrachtete den Menschen stets mit einem unüberwindlichen Mißtrauen, das darin neue Nahrung fand, daß Bernhard, von dem damals die Botschaft ausgegangen war, ihn nicht kennen wollte und mit allen Zeichen ernster Besorgnis behauptete, das Papier einem andern, ihm als zuverlässig empfohlenen Manne zur Besorgung übergeben zu haben.

Schimmernd in Schnee und Eis, schimmernd im Lichterglanz der in der Silvesternacht zum letztenmal angezündeten Weihnachtsbäume ging das Jahr 1832 zu Ende.

Mit dem Rufe der Freiheit auf den Lippen war ich aus dem alten Jahr in das neue hinübergetreten; mit dem Rufe der Freiheit im Herzen begann ich im neuen Jahre meine Tage, und wenn ich wirklich auf Stunden die Sorgen, die ein nach meiner Überzeugung welterschütterndes Unternehmen im Gefolge hatte, von mir abzustreifen suchte, dann trafen gewiß geheime Nachrichten bei mir ein, die mir schnell wieder den ganzen Ernst meiner Lage vor Augen führten.

Die starren Fesseln des Winters waren gebrochen, der Schnee schmolz auf den Bergen und rieselte in Bächen dem Rheinstrom zu. In der feuchten, jetzt wieder geöffneten Erde regte sich nach langem Scheintod wieder organisches Leben, und ungeduldig harrten die noch verborgenen Keime darauf, durch einige warme Tage ans Licht gerufen zu werden, als ich eines Morgens ernster, als wie ich gewöhnlich zu tun pflegte, auf der Oberförsterei Abschied nahm.

Meine Stimmung blieb nicht unbemerkt, doch schrieb Johanna sie dem Umstande zu, daß ich dringender Studien halber in den nächsten drei Wochen Bonn nicht verlassen könne.

»Komme bald, recht bald zu deiner Johanna,« sagte sie, als wir uns endlich von einander trennten; »komme bald!« rief sie mir in süßem Schmeichelton nach, als ich mich bei der nächsten Biegung der Straße, bevor mich der Wald ihren Blicken entzog, zum letztenmal nach ihr umwendete.

»Segne dich Gott, du gute, treue Seele, du meine einzige Herzensfreude!« rief ich zurück, meine Mütze in der Luft schwenkend. »Auf baldiges Wiedersehen!« fügte ich noch hinzu, indem ich endlich um die Ecke herumbog und rüstig auf Königswinter zuschritt.

Mein Herz war plötzlich so fröhlich, so leicht; noch brannten ja die heißen Küsse Johannas auf meinen Lippen, noch glaubte ich ihre innige Umarmung zu fühlen, und wie im Bewußtsein, daß ihre reine, treue Liebe mich als schützender Engel umschwebe, um mich vor drohendem Unheil zu bewahren, richtete ich mich stolz und mit hochwallender Brust empor.

»Doch die mir vor allen
Am besten gefallen,
Ist Hannchen, mein Hannchen, schön Hannchen vor allen,
Ist Hannchen allein!
«

jubelte ich die alte liebe Weise in den Wald hinein.

»Hannchen allein!« antwortete das ferne Echo leise, als habe es andeuten wollen, daß Johanna nun wirklich vereinsamt sei.

Anstatt nach Bonn zu gehen, ließ ich mich bei Königswinter über den Rhein setzen, und nach halbstündiger Wanderung stromaufwärts erreichte ich das Dorf Rolandseck, wo ich von einem Mitverschworenen, der zugleich mein notdürftigstes Gepäck mitgebracht hatte, erwartet wurde.

Unser Ziel war Frankfurt, die alte Kaiserstadt. Andere Kameraden waren uns bereits vorausgeeilt, noch andere folgten uns auf Umwegen; doch in keiner größeren Zahl als zu Dreien begaben sich die verschiedenen Mitglieder unserer Verbindung nach dem verabredeten Ort unserer Bestimmung, wo der erste Schlag gegen die Unterdrückung geführt, der erste Ruf der Freiheit ertönen und, weithin schallend durch die deutschen Gaue, das Volk zum Bewußtsein seiner Erniedrigung, aber auch seiner Kraft erwecken sollte. Wir trafen in Frankfurt ein, alle bereit, unser Leben im Kampfe für die Freiheit auf den Altar unseres gemeinsamen großen Vaterlandes niederzulegen.

Am Abend des 20. März erschreckte plötzlich das Läuten der Sturmglocken die friedlichen Bewohner Frankfurts. In den Straßen rotteten sich Menschen zusammen, Schwerter rasselten, Schüsse donnerten und wie durch Zauber erschienen schwarz-rot-goldene Fahnen und Abzeichen.

Ach, sie erschienen, um fast ebenso schnell wieder vor den Augen der Menschen zu verschwinden.

Nur während einer halben Stunde lächelte uns und unsern riesenhaften Anstrengungen ein leiser Schimmer von Hoffnung; dann aber bezweifelte niemand mehr, daß einer, wenn auch nur mittelmäßig organisierten militärischen Macht gegenüber, unser Unternehmen ein vollständig verfehltes sei. Wir hatten ja nicht einmal die Genugtuung, es eine Revolution, eine Volksbewegung nennen zu hören, sondern als Aufstand und Krawall bezeichnete man das, für was wir, erfüllt von erhabenen, edlen Zwecken, jede Aussicht auf eine Stellung in der menschlichen Gesellschaft hingegeben hatten.

Als lorbeergekrönte Freiheitshelden hofften wir aus dem schweren und erbitterten Kampfe hervorzugehen, und zu einer Rotte Hochverräter und Störer der öffentlichen Ordnung waren wir herabgesunken.

In dem dichten Gewühl von Leuten, die teils mit in unsern Ruf einstimmten, teils nur von Neugierde auf die Straßen hinausgetrieben worden waren, wurden wir bald voneinander getrennt.

Viele begaben, sich an demselben Abend noch auf die Flucht; andere fanden in bekannten Häusern ein vorläufiges Unterkommen, und wieder andere fielen den Behörden in die Hände und sahen einer lebenslänglichen Haft und, als mit den Waffen in der Hand ergriffene Hochverräter, vielleicht einer noch schwereren Strafe entgegen.

Zu den letzteren gehörte auch ich.

In der Nähe der Hauptwache, die in unsere Gewalt zu bringen unsere erste Aufgabe sein sollte, hatte mich ein schwerer Schlag, ob mit einem Knüttel, oder mit einer Muskete, ich entsinne mich dessen nicht, betäubt niedergeworfen. Als ich wieder einigermaßen zur Besinnung gelangte, befand ich mich in einem verschlossenen Wagen, der in schnellem Trabe eine lange Straße hinunterfuhr. Neben mir saßen ein Polizist und ein Soldat. Ich nahm mir nicht die Mühe, zu fragen, was man mit mir beabsichtige, ich erriet es leicht, und außerdem würde man mir schwerlich eine Antwort erteilt haben.

Die Folgen des Schlages hinderten mich anfangs, klar zu denken. Erst als der Wagen hielt und ich unter militärischer Bedeckung in ein großes, düsteres Gebäude geführt und demnächst in ein enges dunkles Gemach, dessen einziges kleines Fenster mit eisernen Stäben vergittert war, eingesperrt wurde, erwachte ich zum vollen Bewußtsein meiner Lage.

»Gefangen, auf lange Jahre, auf Lebenszeit im engen Kerker eingeschlossen,« stöhnte ich verzweiflungsvoll, indem ich in die Knie sank. »Gefangen, der Freiheit beraubt, Mörder meines Glücks! Mörder meiner Johanna!« rief ich zerknirscht aus, und Tränen ohnmächtiger Wut über mich selbst und mein unüberlegtes Handeln entstürzten meinen Augen.

»Johanna! arme, unglückliche, meinen ehrgeizigen Plänen geopferte Johanna! Johanna, vergib mir, daß ich noch lebe, nicht von einer mitleidigen Kugel tödlich getroffen wurde, eh' man mich zu meiner und deiner Schmach als Verbrecher brandmarkte und einem furchtbaren Lose entgegenführte!«

Alle meine kühnen Hoffnungen, alle meine phantastischen Pläne waren vergessen und vernichtet. Mit dem Fehlschlagen des tollen Unternehmens war auch mein Lebensglück zertrümmert worden; ich fühlte es, hatte ich doch die Folgen des Mißlingens vorherberechnet, jedoch in meiner Vermessenheit nicht an die schreckliche Möglichkeit eines solchen geglaubt.

Verzweiflungsvoll und gemartert von den entsetzlichsten Gewissensbissen wälzte ich mich auf dem Boden meiner Zelle. Nicht an mich dachte ich mehr; nur an Johanna, deren Leben ich vergiftet hatte; an Johanna, deren Liebe zu mir ihre Lebensfrage war; an Johanna, deren Hoffnungen ich so schmählich getäuscht hatte.

»Johanna, vergib mir!« stöhnte ich dem Wahnsinn nahe.

Um mich her war es dunkel, aber indem ich den teuern Namen aussprach, glaubte ich die arme, um ihr irdisches Glück betrogene Braut vor mir zu sehen. Eine himmlische Glorie umgab ihre zarte Gestalt; ihre milden, blauen Augen hatte sie mit dem Ausdruck sanften Vorwurfs auf mich gerichtet und auf ihren Wangen brannte feuriger denn je die unheimliche Röte – dann verließen mich die Sinne.

 


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