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»Tausend Donnerwetter, Junge, das nenne ich pünktlich!« rief mir mein Vormund zu, als ich vor der Oberförsterei angelangt war. »Johanna wollte schon vor einer Stunde hinaus, um zu sehen, ob du noch nicht zu sehen seist, nicht wahr, Schätzchen?«
Johanna reichte mir mit einem holden Lächeln die Hand; »wenn auch nicht ganz vor einer Stunde, so kann doch beinah' eine halbe Stunde seitdem verflossen sein,« sagte sie, schalkhaft zu dem alten Herrn emporblickend, »und da Gustav selbst die Zeit bestimmt hatte, so dachte ich –
»So dachtest du, er müsse unbedingt eine Stunde vor der verabredeten Zeit eintreffen,« fiel ihr der Oberstleutnant lachend in die Rede; »oh, ich kenne meinen vortrefflichen Gustav,« fuhr er fort; »er bricht allerdings früh genug auf, muß aber unterwegs oft anhalten, hier um einen Schoppen zu trinken, dort um ein niedliches Bauernmädchen etwas genauer zu betrachten –«
»Wofür er gewiß zu entschuldigen ist, lieber Onkel, denn ich kann mir kaum etwas Niedlicheres denken, als ein sonntäglich geputztes Bauernmädchen mit dem zierlichen Spitzenhäubchen und der dieses steif haltenden silbernen Spange,« versetzte Johanna in naiv überzeugender Weise.
»Bravo, Johanna!« rief der Oberstleutnant, mir einen verschmitzten Seitenblick zuwerfend, aus, »das nenne ich verständig geurteilt; 's gab eine Zeit, in der ich selbst – doch das ist schon zu lange her –«
»Es war damals, als eine gewisse Lisette, das schönste Mädchen im weiten Umkreise, erklärte, nicht ohne einen gewissen Rittmeister Werker leben zu können –«
»Richtig, Junge, richtig, sie war das schönste Mädchen weit und breit.«
»Damals, als der unvorsichtige Granatsplitter« –
»Mir das Auge ausgeschlagen hatte« –
»Und ein gewisser Rittmeister Werker von sich behaupten durfte, daß die schöne Lisette lieber in sein einziges Auge, als in die zwei Augen anderer Offiziere schaute.«
»Ganz richtig, Junge, der aber mit seinem einen Auge heute noch mehr sieht, als du, naseweiser Patron, mit deinen beiden. Schade, daß du Anno 14 noch keine Hosen trugst, hätte dich gerade noch in meiner Schwadron gebrauchen können.«
»Müssen doch schöne Zeiten gewesen sein!«
»Zeiten, wie sie noch nie dagewesen sind und auch nie wiederkehren werden. Ha, Kinder, das war ein Drang nach Freiheit, ein Geist, der alle Schichten der Bevölkerung wie mit Zaubergewalt durchfuhr! Donnerwetter! ich war damals ältester Rittmeister; hatte schlechtes Avancement gehabt; mußte meine Schwadron vollzählig machen oder vielmehr eine neue bilden; wie sie herbeigerannt kamen, Leute mit grauen Haaren und Jungens, die eben erst das ABC hinter sich hatten! Schade, schade, Gustav, daß du damals nicht so alt warst wie heute, hätte wirklich aus dir etwas werden können.«
»Und die in Ihrer jungen Schwadron schlugen sich wie lauter alte, gediente Leute?« fragte ich.
»Wie lauter Veteranen,« wiederholte der Oberstleutnant stolz, »die beim alten Fritz selber in der Schule gewesen waren. « Und nun begann der alte Herr zu erzählen von Kanonendonner und Attacken, daß es eine wahre Freude war. Sein Auge leuchtete dabei wie das eines Jünglings, der Schnurrbart sträubte sich wie die Rückenhaare einer boshaften Katze, und die Augenklappe stand mehr nach oben, als nach unten.
Ich aber, nachdem ich den alten Herrn auf sein Lieblingsthema gebracht, schritt schweigend an seiner Seite dahin. Johanna hatte mit bezaubernder Zutraulichkeit ihren Arm in den meinigen gelegt; ihre schönen Augen hafteten bald auf der zwischen hohen Bäumen auftauchenden Oberförsterei, bald mit gespanntem Ausdruck auf dem leidenschaftlich erregten Antlitz ihres Onkels.
»Himmelsapperment, Junge, das sage ich dir!« wendete dieser sich plötzlich in der Hitze des Gefechts mit kühn blitzendem Auge zu mir, »das sage ich dir, ich bin jetzt ein Mann des Friedens, aber dir zu Gefallen wünsche ich von ganzem Herzen, daß morgen der Krieg wieder ausbräche – und in Frankreich spukt es ja schon wieder – wenn auch nur, um dir den Genuß zu gönnen, mit geschwungenem Säbel als der erste in ein feindliches Karree einzubrechen, und sollte dich im nächsten Augenblick der Teufel holen!«
»Onkel!« rief Johanna mit so unbeschreiblich holdem Erschrecken aus, daß ich sie dafür an meine Brust hätte drücken und ihre lieben, schwärmerischen Augen mit tausend Küssen bedecken mögen.
»Was ist da zu onkeln?« fragte der in kriegerisches Feuer geratene alte Krieger zurück, »du mußt nur nicht alles gleich wörtlich nehmen, Schätzchen, denn auch ich mag den Jungen leiden; und wenn ich vom Teufelholen spreche, so handelt es sich nicht gleich um Pferdefuß und Schwanz. Eigentlich wollte ich damit nur sagen: und wenn er im nächsten Augenblick in tausend Millionen Granatstücke zerhackt würde.«
»Dann wäre er ja tot,« versetzte Johanna, zuerst mir und demnächst dem Oberstleutnant schelmisch zulächelnd.
»Das verstehst du nicht, Schätzchen,« entgegnete letzterer ernst, wiederum erhielt der Schnurrbart eine heftige, spiralförmige Drehung und wiederum erweiterte sich die mit dem Kreuz geschmückte Brust um einige Zoll nach vorn, »nein, mein Kind, das verstehst du nicht. Der Tod auf dem Schlachtfelde ist ein Heldentod, und ein Heldentod ist das Schönste, was es auf der Welt gibt, und wer als Held stirbt, dem wird ein Denkmal gesetzt, um kommenden Geschlechtern von den Taten ihrer Vorfahren zu erzählen. Ja, mein lieber Johann, lieber zehnmal hintereinander auf dem Felde der Ehre durch alle nur denkbaren Geschosse ins Jenseits befördert, als einmal im Bette gestorben!«
Johanna lächelte, als ob sie das Sterben, in welcher Form es auch immer sei, überhaupt nicht für etwas so sehr Schönes und Wünschenswertes halte. Eine solchen Ansichten entsprechende schalkhafte Antwort schwebte unstreitig auf ihren Lippen, doch wurde diese dadurch zurückgehalten, daß ein wüst darein schauender Mann sich uns näherte und mit einem sehr höflichen: »Guten Morgen, Herr Oberstleutnant« vorüberschritt.
Mein Vormund berührte mit dem Zeigefinger der rechten Hand militärisch grüßend den breiten Schirm seiner Jagdmütze, während Diana dem Fremden einige Schritte mit gesträubten Rückenhaaren folgte.
»Diana, hier heran!« kommandierte der Oberstleutnant; »der Hund kennt den Patron,« wendete er sich darauf uns zu, »er ist einer der verwegensten Forstfrevler, sonst aber nicht ohne Bildung, denn er hat in Köln bei den Achtundzwanzigern gestanden.«
Auf diese Bemerkung schaute ich zurück, um den Bezeichneten, der mich durch einzelne Züge seines Gesichts an Anton erinnerte, genauer ins Auge zu fassen, als ich ihn auch schon, die Mütze in der Hand, auf mich zuschreiten sah.
»Der junge Herr haben etwas verloren«, sagte er, mir einen unregelmäßig gefalteten Zettel darreichend.
»Ich glaube nicht,« gab ich zur Antwort, indem ich meine Taschen flüchtig betastete.
»Entschuldigen der Herr Student, aber ich sah es aus Ihrer Tasche fallen,« entgegnete der Fremde, der dem Arbeiterstande anzugehören schien und mit einem eigentümlichen, halb verschmitzten, halb untertänigen Lächeln unter seinen weißen Wimpern und Brauen hervorblinzelte.
.»So nimm ihm doch den Zettel ab,« bemerkte mein Vormund unfreundlich, und im nächsten Augenblick befand sich das Papier in seinen Händen. »Wahrhaftig, du mußt es verloren haben,« fügte er gleich darauf hinzu, »hier steht es groß und breit: Herr Gustav Wandel, für die Fahrt mit der Schnellpost von Bonn nach Köln entrichtet, und so weiter; er kann gehen, mein Freund, der alte Postschein ist kein Trinkgeld wert, und laß er sich nicht wieder beim Holzdiebstahl erwischen.«
»Zu Befehl, Herr Oberstleutnant,« entgegnete der Fremde, die Hacken seiner plumpen Stiefel mit lautem Schall zusammenschlagend.
Mein Vormund berührte leicht seinen Mützenschirm; der Fremde machte geräuschvoll kehrt, bedeckte sein Haupt und schritt davon, und wir bewegten uns wieder langsam der nur noch einige hundert Schritte entfernten Oberförsterei zu.
Den Zettel hielt mein Vormund noch immer in der Hand. Er wollte ihn eben, weil ich an wichtigere Dinge als an einen alten Postschein dachte, wegwerfen, als er ihn plötzlich aufmerksamer betrachtete.
»Das ist wohl ein Register deiner Schulden oder ein gelehrtes Rechenexempel?« fragte er, mir den Schein hinhaltend.
Mechanisch nahm ich das Papier; kaum aber sah ich einige auf der Rückseite mit Bleistift geschriebene Zahlenreihen, so fühlte ich, daß ich erbleichte. Ich erkannte nämlich eine in Chiffreschrift an mich gerichtete Botschaft, deren einzelne Zeichen vor meinen Augen durcheinanderwirbelten.
»In der Tat ein wichtiges Exempel«, antwortete ich, scheinbar sorglos das Papier zusammenknitternd und in die Tasche schiebend, »es zu verlieren, wäre mir wirklich unlieb gewesen.«
Hätte der Oberstleutnant, anstatt noch immer in der Erinnerung an seine Kriegsjahre zu schwelgen, mich schärfer beobachtet oder wäre Johannas Aufmerksamkeit weniger der romantisch gelegenen Oberförsterei zugewendet gewesen, so hätte ihnen unmöglich die Verwirrung entgehen können, die sich ohne Zweifel auf meinen Zügen ausprägte.
»Der Mensch, der uns eben begrüßte, hat sehr wenig Empfehlenswertes in seinem Äußeren,« bemerkte ich endlich, um überhaupt etwas zu sagen, fast wie zu mir selbst sprechend.
»Nicht viel,« antwortete der Oberstleutnant, einen Doppelhieb nach einem dicht am Wege hoch emporgeschossenen Distelkopf führend, »ich würde mich blitzwenig darüber grämen, wenn er mein Revier auf Nimmerwiedersehen verließe, trotzden er drei Jahre bei den Achtundzwanzigern gestanden hat.«
»Dann wohnt er wohl im Bereich Ihrer Forstverwaltung?«
»Allerdings tut er das; er, seine Mutter und sein Bruder, der unglückliche Anton – wenn du dich des armen lahmen Krüppels erinnerst – leben eine Viertelstunde von hier auf einer kleinen Lichtung. Eine saubere Gesellschaft; sie besitzen etwas Gartenland, gerade genug, um nicht zu verhungern, doch habe ich noch nie gesehen, daß sie auf Arbeit gegangen wären; muß daher nicht recht geheuer bei ihnen sein. Habe ihn im Verdacht, daß er weiß, wer die Hasenschlingen stellt, die zuweilen im Walde gefunden werden.«
»Trifft den Anton denn ebenfalls Ihr Vorwurf?« fragte ich gleich darauf zerstreut.
»Nein, wenigstens nicht, daß ich es wüßte,« entgegnete der Oberstleutnant, »der arme Teufel ist überhaupt unzurechnungsfähig und bei seiner Mutter gerade nicht am besten aufgehoben. Jedenfalls ist er der erträglichste in dem Kleeblatt.«
»Von Plittersdorf aus war er mein Reisegefährte.«
»Gewiß ein interessanter Gesellschafter?« lachte mein Vormund. »Aber hast Recht, Junge, man muß Mitleid mit derartigen Leuten haben; wäre er im Kriege krumm und lahm geschossen worden, würde er allerdings nicht zu betteln brauchen.«
»Es war ein glücklicher Zufall, der mich mit Anton zusammenführte,« warf ich jetzt wieder ein, »denn nicht genug, daß er mich auf einem nähern Wege durch den Wald führte, fand ich auch Gelegenheit, seinen gezähmten Raben zu retten, der sonst ganz gewiß von Diana zerrissen worden wäre.«
»Was? an einem Raben hast du dich vergriffen?« rief der Oberstleutnant barsch, indem er sich nach dem Hunde umkehrte, der, als hätte er die Frage verstanden, demütig wedelnd herbeischlich, »und noch dazu an des armen Antons Raben? Pfui, schäme dich! Die Bestie hat doch wohl keinen Schaden genommen?« fragte er mich darauf teilnehmend.
»Noch nicht, kam ich aber eine Minute später, so war es um das arme Tier geschehen.«
»Das ist mir lieb, das ist mir lieb; Johanna, wenn Anton sich wieder sehen läßt, dann sorge dafür, daß er satt gemacht wird. Gib dem armen Teufel auch noch etwas mit auf den Weg, um ihn für seine Angst zu entschädigen.«
»Mit Freuden, lieber Onkel,« antwortete Johanna schnell, und dann ihren Arm aus dem meinigen ziehend, eilte sie uns über den Hof voraus der Haustüre zu, in der wir von der Frau Oberförsterin erwartet wurden.
Die würdige Dame prangte in ihrem schönsten sonntäglichen Kleide; sie war schon im nächsten Dorfe, wohin ihr »Alter« sie hatte fahren lassen, zur Messe gewesen, und auf ihren freundlichen Zügen stand geschrieben, daß das Bewußtsein, für sich, für den Oberstleutnant und für uns alle gebetet zu haben, sie in die zufriedenste Stimmung versetzte.
Wie eine Mutter warf sie mir vor, daß ich die Oberförsterei seit undenklichen Zeiten nicht besucht habe, und nahm meine Entschuldigungen entgegen, und ein gewisser dankbarer Stolz leuchtete aus ihren Augen, als sie gewahrte, daß ich, gleich nach meinem Eintritt, einen kleinen grünen Zweig, den ich besonders zu diesem Zweck im Walde gebrochen und auf meine Mütze gesteckt hatte, zu Häupten ihres Lieblingsmuttergottesbildchens befestigte.
Johanna hatte unterdessen die gelbgesiegelten Flaschen heraufgeholt, und eine glücklichere und heiterere Gesellschaft hat die Sonne wohl selten beschienen, als wir bildeten, nachdem wir uns um den wohlbesetzten Frühstückstisch gereiht hatten.
Aber am Nachmittag, als die beiden alten Leute sich auf ein Stündchen zur Ruhe begeben hatten und Johanna ihren häuslichen Beschäftigungen nachgegangen war, nahm ich die Gelegenheit wahr, mir unbemerkt Kenntnis von dem Inhalte des gefährlichen Schreibens zu verschaffen.
Es enthielt nur wenige Worte; diese waren indessen wohl dazu geeignet, meine leicht erregbare Phantasie zu berauschen und mich in einen hohen Grad von Spannung zu versetzen.
»Dem Bruder Gustav Wandel«, lautete die Überschrift. »Ein feierliches, geheimnisvolles Rauschen durchzieht die von Giftpflanzen umwucherten deutschen Eichen; das alternde Mark der heiligen Bäume fühlt sich durchdrungen von neuen frischen Lebenssäften, fühlt sich wieder stark genug, den Kampf gegen den unvermeidlichen Orkan zu bestehen. Auf der ersten Höhe hinter der Ruine Rolandseck tagt die Freiheit in den Strahlen der untergehenden Sonne. Starke Arme und mutige Herzen huldigen ihr am Montage.«
Nicht ohne Mühe entzifferte ich die seltsame Weisung. Ich las sie mehrere Male aufmerksam durch, bis ich enträtselte, daß man mich aufforderte, am folgenden Tage, also am Montage, gegen Abend mich auf der bezeichneten Höhe einzustellen.
Ursprünglich beabsichtigte ich, schon am Montag morgen nach Bonn zurückzukehren. Infolge des Schreibens änderte ich indessen meinen Plan, und fester denn je war ich entschlossen, auf dem einmal eingeschlagenen Wege fortzuschreiten, dem Geschick mutig und ohne zu zittern die Stirn zu bieten, um mich dereinst mit Stolz einen Befreier des Vaterlandes nennen zu dürfen.