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Aber erst als die nächsten Hecken und Baumgruppen uns den Anblick Bernhards entzogen, schien sie freier aufzuatmen, und sich mir mit einem fast kindlichen, aber etwas erzwungenen holdseligen Lächeln zuwendend, ging sie auf eine Unterhaltung mit mir ein.
»Ich sollte es vielleicht nicht sagen«, begann sie, und ihre Wangen färbten sich vor Befangenheit etwas dunkler, »und doch darf ich auch wieder nicht ungerecht sein. Ich muß nämlich einräumen, daß Ihr Dazwischentreten keineswegs die Bezeichnung eines unzeitigen verdient. Es war mir willkommen, dem nähern Verkehr mit dem fremden Herrn ausweichen zu können; ich erkannte ihn zu spät, sonst würde ich, anstatt anzuhalten, geraden Weges nach dem Godesberg hinauf geritten sein und erst auf dem Heimwege die Quelle besucht haben.«
»So war dies wohl nicht die erste Begegnung?« fragte ich, weniger aus Neugierde, als um noch länger den Ton ihrer süßen melodischen Stimme zu hören.
»Die erste Begegnung nicht, denn ich bemerkte ihn schon heute Vormittag,« lautete die mit lieblicher Offenheit gegebene Antwort, »seine Blicke schienen mich förmlich durchbohren zu wollen, so fest hafteten sie auf mir. In meiner frühsten Jugend habe ich einmal ähnliche Augen gesehen, die mich im wachenden Zustande sowohl, als in meinen Träumen noch lange nachher ängstigten, und daher rührt auch wohl meine kindische Furcht vor dem fremden Herrn, der mir doch nichts zuleide getan hat.«
»Haben Sie denn oft Gelegenheit, jenem Herrn zu begegnen?«
»Oft nicht, denn er muß doch wohl in Bonn wohnen, aber mehrfach schon, im Siebengebirge wie auch hier, traf ich ihn, als ob ihm jedesmal die Richtung unserer Vergnügungsfahrten mitgeteilt worden wäre und er mich infolgedessen erwartet habe.«
»Dann wohnen Sie selbst also nicht in Bonn? Aber verzeihen Sie meine zudringlichen Fragen und legen Sie ihnen kein schwereres Gewicht bei, als daß ich die einmal begonnene Unterhaltung gern weiterspinnen möchte.«
»Bonn kenne ich noch nicht; ich habe die so reizend gelegene Stadt wohl von den Höhen des Siebengebirges aus gesehen, auch schon von hier aus, allein dort gewesen bin ich noch nicht. Ich befinde mich überhaupt erst seit sechs Wochen in dieser Gegend.«
»Aus Ihren Mitteilungen läßt sich entnehmen, daß Sie im Siebengebirge ihren Aufenthalt gewählt haben?«
»An einem der reizendsten Punkte des Siebengebirges. Ein Onkel von mir, der dort den Posten eines Oberförsters bekleidet, hat mich zu sich ins Haus genommen. O, es ist so schön auf dem stillen, einsam gelegenen Gehöft, und die guten alten Leute –«
»Meines Wissens lebt nur ein Oberförster im Siebengebirge,« unterbrach ich meine jetzt unbefangen plaudernde Gefährtin hastig, »ja, nur ein Oberförster,« wiederholte ich sinnend, indem ich den Plan faßte, mich vorläufig nicht zu erkennen zu geben, »und irre ich nicht, so ist es der Oberstleutnant Werker, der nach Beendigung des Krieges für seine treuen Dienste mit einem ihm zusagenden Ruheposten bedacht worden ist.«
»Der Oberstleutnant Werker ist ja mein Onkel!« rief das junge Mädchen vor Freude errötend aus, und ihr ganzes Wesen bekundete, daß durch meine Bekanntschaft mit ihrem Onkel ihr Vertrauen zu mir eine bedeutende Stütze erhalten habe.
»Wunderbar, und mir ist nichts davon mitgeteilt worden,« bemerkte ich unbedachtsam. Glücklicherweise hatte sie mich nur halb verstanden, und ihre blauen strahlenden Augen auf mich heftend, fragte sie, wem ich die Mitteilung machen wolle?
»Einem Studiengenossen,« antwortete ich, nunmehr vollständig bereit, meine Rolle ohne Fehler zu Ende zu spielen, »einem gewissen Gustav Wandel, der die Ehre hat, den Herrn Oberstleutnant Werker seinen Vormund zu nennen.«
»Auch den Herrn Gustav Wandel kennen Sie?« fragte das liebe Mädchen mit einer so herzlichen Teilnahme, daß ich ihr dafür auf jedes ihrer beiden seelenvollen Augen einen Kuß hätte drücken mögen.
»Den Gustav Wandel?« fragte ich lachend zurück, »o, den Schlingel kenne ich so genau wie mich selbst, und genau muß ich ihn wohl kennen, indem wir seit unserer frühsten Kindheit auf derselben Bank gesessen haben. Übrigens ist er ein arger Windbeutel; man nimmt allgemein an, daß sein Vormund ihm die Zügel etwas zu schlaff gehalten habe. Er schwärmt für den Fechtboden, beteiligt sich an jedem Kommers und betrachtet die Kollegien mehr als Nebensache.«
»Das begreife ich nicht,« entgegnete die junge Dame ernst, »Sie sind sein Freund und Gefährte und fällen ein so hartes Urteil über ihn? Mein Onkel spricht sich ganz anders über ihn aus. Er nennt ihn stets einen braven, pflichttreuen Menschen, einen wahren Musterstudenten.«
»Also eine so gute Meinung hat der alte Herr von dem Gustav? Nun, Freund Gustav wird sich freuen, dies von mir zu hören. Aber merkwürdig bleibt es doch, daß der Schlingel mir, seinem ältesten und besten Freunde nicht mitteilte, daß sich Besuch im Hause seines Vormundes befände; und ich sollte denken, die Ankunft einer jungen liebenswürdigen Verwandten wäre doch ein wichtiges Ereignis.«
»Herr Gustav Wandel ist kein Verwandter von mir,« sagte die Fremde, nachdem sie das erste Mißvergnügen über meine ihr unpassend erscheinende Bemerkung niedergekämpft hatte. »Er weiß nichts von mir und wird auch nicht früher etwas über mich erfahren, als bis er sich einmal wieder zum Besuch auf der Oberförsterei einstellt. Er hat nämlich seinen Vormund in letzter Zeit sehr vernachlässigt und sich seit zwei Monaten nicht sehen lassen. Mein guter Onkel hat infolgedessen beschlossen, ihn dadurch zu strafen, daß er ihm nicht ein Sterbenswörtchen über mich oder meine Aufnahme in seine Familie mitteilt.«
»Ah, mein Fräulein, ich kenne den Herrn Gustav Wandel genügend, um Ihnen versichern zu dürfen, daß sein Vormund keine härtere Strafe für die unverzeihliche Vernachlässigung hätte ersinnen können. Gedulden Sie sich nur, er selbst wird bald genug diese meine Worte vor Ihnen wiederholen und bekräftigen.«
»Befindet sich der Herr Oberstleutnant ebenfalls hier?« fragte ich dann, nachdem ich mich eine Weile an der bezaubernden Verlegenheit des lieblichen Kindes geweidet hatte.
»Mein Onkel und meine Tante sind beide hier; wir sind in Fuchs' Hotel abgestiegen. Ich bat sie, mich nach dem Godesberg hinauf zu begleiten, allein meine Bitten waren vergeblich.«
»Seine Kräfte reichen wohl nicht mehr zu einem so weiten Spaziergange aus?«
»Leider nicht, der liebe alte Herr will es aber nicht zugestehen und schiebt alles auf die gute Tante, die nicht mehr Berge ersteigen könne. Jetzt wollen mir beide bis zum Mineralbrunnen entgegengehen, und wenn Sie –«
»Und wenn Sie mir gestatten wollen, solange Ihr Begleiter zu sein,« fuhr ich fort, als sie verlegen stockte, »so könnte ich vielleicht die Ehre haben, durch Sie Ihrem Herrn Onkel vorgestellt zu werden?«
»Nun – ja – und ich bezweifle nicht, daß Sie ihm sehr willkommen sein werden, zumal Sie ihm die neuesten Nachrichten über seinen lieben Gustav Wandel bringen.«
»Die allerneusten Nachrichten über das Wohlbefinden des leichtsinnigen Patrons,« pflichtete ich bei.
»Einen Rat muß ich Ihnen aber doch erteilen,« fügte sie nach kurzem Sinnen zögernd hinzu, »alte Leute verdienen stets die größte Rücksicht, namentlich aber ein so tapferer Krieger und liebevoller Onkel; ich bitte Sie daher, wenn Sie mit ihm über Herrn Wandel sprechen, nicht – ich meine –«
»Ihn nicht Schlingel und leichtsinnigen Patron zu nennen?«
»Ja, das meinte ich; ich bin überzeugt, Sie denken sich nichts Böses dabei, denn Sie nennen ihn ja Ihren Freund, allein mein Onkel kann nicht leiden, wenn man auch nur im Scherz schlecht von seinem Schützling spricht.«
»Bauen Sie darauf, mein Fräulein, ich werde mich ganz in dem von Ihnen gewünschten Sinne benehmen, wenn auch nur, um Ihnen gefällig zu sein –«
»O, meinetwegen nicht,« fiel das reizende Kind mir in die Rede, »nur meines Onkels und Ihrer selbst wegen; ich kenne den Herrn Wandel ja nicht einmal.«
»Sind Sie denn nicht neugierig, den leichtsinnigen Menschen kennenzulernen?« fragte ich darauf mit einem heimlichen Seitenblick auf die junge Reiterin, die mit bezaubernder Schüchternheit zu mir herüberschaute.
»Meines Onkels wegen bin ich allerdings sehr neugierig, aber auch für mich bin ich auf sein erstes Erscheinen gespannt, und muß es wohl sein, indem kein Tag vergeht, an dem der Onkel oder die Tante nicht von dem Herrn Gustav sprechen. Er ist wohl sehr groß und sieht gut aus?« fragte sie dann naiv, mich mit ihren großen blauen Augen so recht offen und redlich anblickend.
Wiederum stand ich auf dem Punkt, ihre Hand zu ergreifen, mich als den Mündel Ihres Onkels vorzustellen und ihr mit innigen Worten für ihre freundliche Gesinnung zu danken, und wiederum siegte meine jugendliche Eitelkeit und der Wunsch, meine seltsame Rolle mit Glanz bis zu Ende durchzuführen. Doch tat ich, als habe ich ihre Äußerung nicht gehört, sondern forderte den Führer auf zu halten. Dann lenkte ich ihre Aufmerksamkeit auf das sich vor uns ausdehnende prachtvolle Panorama.
»Das ist Bonn,« begann ich, auf die ferne Stadt hinweisend, »und die fünf zusammenstehenden Türme bezeichnen, weithin erkennbar, die stattliche Münsterkirche. Die Sage geht, daß sie auf Wasser gebaut sei; man soll in ihrem untersten Geschoß das Wasser sogar rauschen hören, wovon ich mich indessen noch nicht überzeugt habe.« Dann lenkte ich ihre Blicke dem Berge mit dem Hochkreuz zu.
Der Berg war noch vereinsamt; die gewöhnlichen Sonntagsnachmittagsgäste hatten sich noch nicht eingestellt. Ein warmer, fast drückender Sonnenschein lagerte auf der weiten, reich gesegneten Landschaft; kein Lüftchen rührte sich, und während nahe dem Erdboden zwischen Brombeerranken und Mauertrümmern der Zaunkönig lustig zirpend umherschlüpfte, beschrieben hoch oben die Schwalben ihre tausendfältig verschlungenen Linien und jubelten die Lerchen ihre süßen, heiteren Triller in die stille, gleichsam feiernde Atmosphäre hinaus.
Ich hatte meine Blicke der äußersten Zinne des mächtigen Wartturmes zugewendet, als der Führer das Reittier anhielt.
»Wenn es den Herrschaften beliebt, können sie auf dem Fußpfade nach der Ruine hinaufsteigen, es sind nur wenige Schritte bis dahin, ich werde mit dem Esel etwas später dort oben eintreffen,« sagte er, auf einen schmalen Seitenpfad deutend, der, wie ich bemerkte, steil, aber gerade nach dem alten Schloßhof hinaufführte.
Wir befanden uns vor der äußersten Ringmauer der Burg, deren vereinzelte Türmchen malerisch zu der in einem Winkel errichteten kleinen Kapelle kontrastierten. Träumerisch ließ meine Gefährtin ihre Blicke über die mit wildwachsenden Bäumen anmutig geschmückten Ruinen hinschweifen. Eine feierliche Stille ruhte auf dem ganzen Bilde; Gäste hatten sich noch nicht eingefunden; der verwitternde, ehemalige Sitz stolzer, privilegierter Wegelagerer erhielt durch den Mangel jeglichen an die Jetztzeit erinnernden Geräusches den Charakter einer überaus melancholischen, dabei aber verlockenden Einsamkeit.
Ich glaubte in den Augen des jungen Mädchens zu lesen, daß ihr Gemüt zur Schwärmerei hinneige. Sie bekundete dies auch, indem sie, wie aus einem Traume, plötzlich leicht emporschreckte und mich fragend ansah.
»Der Mann hat recht,« antwortete ich auf die stumme Frage, »es ist eine kurze Strecke bis dort hinauf, und wenn Sie sich meiner Führung anvertrauen wollten, würden nicht nur Sie einen besonders schönen Anblick der Burg gewinnen, sondern auch ich dürfte hoffen, von Ihrem Herrn Onkel für meine Dienste als Führer belobt zu werden.«
Die wohlberechnete Erwähnung des Oberstleutnants verfehlte ihre Wirkung nicht; der Ausdruck von Schüchternheit wich aus ihren freundlichen Zügen, und sich mit der einen Hand auf des neben sie hintretenden Mannes Schulter stützend, die andere dagegen mir reichend, sprang sie gewandt aus dem stuhlartigen Sattel zur Erde.
»Furchtlos vertraue ich mich dem besten und ältesten Freunde des Herrn Gustav an,« sagte sie lächelnd, »und ich hoffe, daß er mich mit seinem Leben gegen die uns etwa den Weg vertretenden ruhelosen Burggeister verteidigen und wohlbehalten zu meinem Onkel zurückbringen wird.«
»Mit meinem Leben, und wenn ich deren tausend besäße,« antwortete ich begeistert. »Übrigens sollen die Burggeister doch auch mit der Zeit fortgeschritten sein und sich den Sterblichen nicht mehr so feindlich gesinnt zeigen wie ehemals.«
»Wenn die Burggeister auch verschwunden sind, so leben sie doch in den Sagen fort,« entgegnete meine Begleiterin, »und unwillkürlich rufe ich mir ins Gedächtnis, daß zwischen den zerfallenden Mauern frohe Menschen sich einst heimisch und behaglich fühlten und nicht daran dachten, wie nach einigen Jahrhunderten ihr Leben und Wirken in das Gewand der Sage gekleidet werden würde.«
»Es läßt sich nicht leugnen,« versetzte ich, »daß die alten Sagen die zerfallenden Bauwerke des Mittelalters mit einem geheimnisvollen Schimmer umgeben, die Phantasie des Wanderers und Beschauers dagegen zu den bizarrsten Zusammenstellungen anregen. Und darin liegt ihr hoher Reiz; ja, ich bilde mir ein, daß die schönsten Balladen eben nur zwischen solchen Trümmerhaufen oder doch unmittelbar nach einem Besuch derselben entstanden sein können.
»Und dennoch sind die Sagen nur ein geringer Ersatz für das heimliche Grauen, das man früher beim Betreten einer, nach damaligen Begriffen von Gespenstern heimgesuchten Stelle empfand. Wie wäre es zum Beispiel, träte uns aus diesem Gemäuer ein steinerner Gast entgegen, mit der Frage: ›Wer wagt es, mein stilles Reich zu entweihen und mich in meiner Ruhe, zu stören?‹« rief ich heiter aus, indem ich meiner Begleiterin den Vortritt in die erste, nur noch an den Mauerüberresten kenntliche Halle ließ.
Eine Antwort schwebte ihr auf den Lippen; plötzlich aber prallte sie erschreckt zurück, ihr Antlitz erbleichte, auf ihren Wangen erschienen zwei rote Male, und ihre Blicke starr auf einen mir noch nicht sichtbaren Punkt geheftet, flüsterte sie kaum vernehmbar: »Mein Gott, was ist das?«
Gleich darauf befand ich mich an ihrer Seite und gewahrte eine Persönlichkeit, die wohl geeignet war, ein leicht erregbares jugendliches Gemüt, namentlich nach der vorhergegangenen Unterhaltung, mit Schrecken zu erfüllen.
Im Schatten der Mauer und unter einer laubenartig niederhängenden Epheuverzweigung stand nämlich, als wenn sie sich eben erhoben hätte, eine weibliche Gestalt, die für mich, der ich sie bereits seit vielen Jahren kannte, zwar nichts Befremdendes hatte, durch ihren unerwarteten Anblick mich aber dennoch in nicht geringem Grade überraschte.
Sie war hoch und kräftig gewachsen, sogar zur Korpulenz hinneigend; ihre breiten Gesichtszüge trugen den Ausdruck leichtfertiger Gutmütigkeit und schienen aus einem freundlichen Lächeln gar nicht herauskommen zu können. Wer indessen tiefer in ihre graublauen Augen schaute, entdeckte leicht ein unstetes Leuchten, das auf eine Gestörtheit des Geistes hindeutete und zugleich ihren seltsamen Aufzug rechtfertigte.
Ihren von wirren, nur notdürftig aufgesteckten Haaren umgebenen Kopf bedeckte ein großes grünes Barett, wie man solche häufig auf Bildern den Knappen und Rittern beigegeben findet. Ein grellfarbiges Tuch schlang sich um ihren Hals, ein dunkles Kleid von leichtem Stoff verhüllte, ziemlich unordentlich angelegt, ihren Körper, doch hatte sie den Rock so aufgenommen, daß ein dunkelblaues Unterkleid sichtbar blieb, auf dessen unterem Rande mit weißen Fäden ein breiter Besatz höchst kunstvoll eingestickt war. Die Stickerei bestand aus einer fortlaufenden Reihe großer Figuren und Gruppen, und man brauchte nur einen Blick darauf zu werfen, um zu erkennen, daß sie, aus einer krankhaften Phantasie hervorgegangen, von der Eigentümerin selbst ausgenäht worden waren. An ihrer Seite hing eine große Tasche, in der sie die ihr unentbehrlich erscheinenden Gegenstände mit sich führen mochte, während sie einen kleinen Arbeitsbeutel an ihren Gürtel befestigt hatte.
Ein gutmütiges Lächeln schwebte auf ihren alternden Zügen, und weder in Miene noch Haltung äußerte sie Mißmut über unsere Störung. Gestört aber hatten wir sie, das bewiesen die noch mit Tinte befeuchtete Feder und ein zur Hälfte beschriebenes Blatt Papier in der einen Hand, und ein Tintenfläschchen in der andern, das sie im Begriff stand, zuzukorken.
»Ah, Fräulein Brüsselbach,« rief ich mit zutraulicher Freundlichkeit aus, denn ich glaubte dadurch am schnellsten den beängstigenden Eindruck zu verscheuchen, den der unvermutete Anblick der Geisteskranken auf meine Gefährtin ausübte, »wie geht es Ihnen, und was verschafft mir die Ehre, mit Ihnen zwischen den Ruinen des Godesberg zusammenzutreffen?«
Die Angeredete, zuerst mich und demnächst das junge Mädchen flüchtig betrachtend, schritt uns langsam entgegen.
»Exzellenz belieben zu scherzen, indem Sie sich nach dem Befinden Ihrer gehorsamen Dienerin erkundigen,« begann sie mit ihrem tiefen, aber nicht unangenehm klingenden Organ, »ich erlaubte mir, wie Sie, die Gräber Ihrer Vorfahren zu besuchen und der Zeiten zu gedenken, in denen in diesen Hallen die edlen Ritter die edlen Fräulein zum Tanze führten.«
»Entfernen wir uns, ich fürchte mich,« flüsterte meine bebende Gefährtin, dichter zu mir herantretend.
»Fürchten Sie sich nicht, gnädigste Komtesse,«, vesetzte Fräulein Brüsselbach, eh' ich irgendetwas zur Beruhigung des jungen Mädchens erwidern konnte; »die Mauern stehen noch fest, und die Verstorbenen verlassen ihre Gräber nicht wieder. Wenn Sie aber die Liebe fürchten und ihr auszuweichen wünschen, so hilft alle Vorsicht Ihnen nicht. Sie kommt, wo und wann es ihr gefällt, gleichviel, ob im Palast, in der Hütte des Armen oder zwischen den Ruinen von Godesberg.«
»An wen haben Sie geschrieben?« fragte ich, um der Unterhaltung eine andere Wendung zu geben.
»An wen ich schrieb, Ihro Gnaden?« fragte Fräulein Brüsselbach, die Augen verschämt niederschlagend, zurück, »der Herr Graf und auch die gnädigste Komtesse sollten doch wohl zu wissen geruhen, daß meine Briefe an denjenigen gerichtet sind, dem das Geschick in die Hände spielt.«
»So lassen Sie mich durch Zufall den Empfänger Ihres Schreibens werden,« versetzte ich, die Hand nach dem Papier ausstreckend.
»Nichts in der Welt ist Zufall, Herr Graf«, anwortete Fräulein Brüsselbach mit derselben Verschämtheit, während sie das Papier in Briefform zusammenfaltete, »oder wollen Ew. Exzellenz es etwa dem Zufall verdanken, daß Sie sich augenblicklich in der Gesellschaft des edlen Fräuleins an dieser geweihten Stätte befinden? Indem ich diesen Brief schrieb, folgte ich einer Bestimmung des Schicksals; eine ähnliche Bestimmung führte Ihro Gnaden hierher, und derselben Bestimmung folgend, habe ich die Ehre, Ihnen, Herr Graf, mein untertänigstes Schreiben zu Füßen zu legen.«
Mit diesen Worten und einer etwas linkischen Verbeugung überreichte sie mir den Brief, und wiederum flogen ihre gutmütig verschmitzten Blicke prüfend zwischen meiner Begleiterin und mir hin und her.
Die vertrauliche Weise, in der ich zu der Geisteskranken sprach, war in der Tat nicht ohne die beabsichtigte Wirkung auf meine Gefährtin geblieben. Die Furcht war von ihr gewichen; dagegen betrachtete sie die ihr fremde und geheimnisvolle Erscheinung mit einem Gemisch von Scheu und Teilnahme, doch bemerkte ich, daß ihre Blicke, sobald ich mit einem schwülstigen Titel angeredet wurde, mich jedesmal mit dem Ausdruck neugieriger Verlegenheit flüchtig streiften.
»Muß ich den Brief in gleicher Weise beantworten?« fragte ich lachend, das Papier entfaltend.
»Handeln der gnädige Herr, wie das Geschick es Ihnen befehlen wird; aber lesen Ihro Gnaden meine Worte nicht hier,« entgegnete Fräulein Brüsselbach.mit einer abwehrenden Bewegung, »schreiben Sie und lassen Sie Ihre Antwort demjenigen zugehen, den das Geschick Ihro Gnaden im entscheidenden Augenblick zuführen wird, und irre ich nicht, so wird der Empfänger Ihre Frau Gemahlin sein.« So sprechend, deutete sie freundlich auf meine Begleiterin.
Ich erschrak, doch beruhigte ich mich schnell wieder, als ich bemerkte, daß das junge Mädchen, weit entfernt davon, in Verlegenheit zu geraten, lächelnd die mädchenhafte Scheu überwand und sich anschickte, selbst zu antworten.
»Sie irren,« sagte sie unbefangen, obwohl ihre Wangen sich etwas höher färbten, »der Zufall hat uns vor einer Stunde erst zusammengeführt –«
»In den Augen liegt das Herz,« unterbrach Fräulein Brüsselbach sie schnell, sie wohlgefällig und sogar teilnahmsvoll betrachtend, »und glauben Sie mir, mein gnädigstes Fräulein, wenn das Geschick es ernstlich bestimmt hat, dann wird selbst das Unmögliche zur Wahrheit. Sie nennen es Zufall, was Sie mit dem Herrn Grafen zusammenführte, ich erkenne darin eine höhere Fügung; es leuchtet aus Ihren Augen, ich lese es in seinen Blicken:
Die Tochter ihres Vaters,
Sie ahnte, wer er war,
Beseligt und beglückend
Folgt sie ihm zum Altar.«
Diese Verse, die sie mit theatralischem Pathos hersagte, begleitete sie mit so bezeichnenden Bewegungen, daß kein Zweifel darüber obwalten konnte, wen sie eigentlich meine.
Ich wagte kaum zu meiner Gefährtin aufzublicken, aber das kindlich unschuldige Gemüt blieb harmlos, und zeugte auch die scharf begrenzte, tiefe, schwindende Röte auf ihren zarten Wangen von innerer Erregung, so war diese doch nur eine Folge der Befremdung über das seltsame Benehmen der Wahnsinnigen.
»Fräulein Brüsselbach, Sie dichten ja ausnehmend schön,« brach ich endlich wieder das Schweigen.
»Nehmen der Herr Graf dies nicht so leicht,« erhielt ich zur Antwort; »ich spreche und schreibe nur, was ich empfinde. Ich habe bittere Erfahrungen gemacht; die Liebe ist wie eine glatte Eisfläche, und wenn Sie meine Verse verachten, so will ich Ihnen noch einmal mit klaren Worten wiederholen: das Bild der Tochter Ihres Vaters, mein gnädiges Fräulein, wird sich dem Herzen des Herrn Grafen mit unauslöschlichen Zügen einprägen und viel Kummer und Schmerz, aber auch endlose Seligkeit für Sie beide daraus hervorgehen.«
»Wenn doch der Führer erschiene,« flüsterte meine Begleiterin mir jetzt wieder mit doch wachsender Besorgnis zu.
»Er muß gleich eintreffen,« erwiderte ich beruhigend, »und dann haben wir ja auch die Räumlichkeiten der Ruine noch nicht in Augenschein genommen.«
»Die arme Frau, wollen Sie ihr nicht etwas schenken? ich habe kein Geld bei mir,« sagte sie gleich darauf mit bezaubernder Verlegenheit.
Ich zog die Börse und reichte Fräulein Brüsselbach ein Geldstück. »Im Auftrage der jungen Dame,« sagte ich.
Sie dankte nicht, betrachtete meine Gefährtin aber noch einmal freundlich und wohlwollend, und dann ein zerknittertes Sträußchen aus ihrer Tasche hervorsuchend, bot sie ihr die welken Blumen dar. »Es sind Vergißmeinnicht, mein edles Fräulein,« sagte sie ausdrucksvoll; »vergessen Sie nicht den Godesberg, und möge die Tochter Ihres Vaters glücklich mit ihm sein.«
Darauf wendete sie sich ohne weitern Gruß ab, und eine melancholische Melodie vor sich hinsummend, schritt sie durch die Maueröffnung davon.
Meine Begleiterin seufzte tief auf. »Die arme Frau«, begann sie, indem sie die in ihrer Hand befindlichen Blumen sinnend betrachtete, »ich fürchtete mich vor ihr, und doch scheint das bemitleidenswerte Geschöpf viel Gutmütigkeit zu besitzen.«
»Sehr viel Gutmütigkeit,« entgegnete ich, die Richtung nach dem innern Schloßhofe einschlagend, wo ich den bereits eingetroffenen Führer zu seinem Tier sprechen hörte; »ich kenne sie schon seit Jahren, und es scheint mir, als ob sie sich in dem langen Zeitraum auch nicht im geringsten verändert habe.«
»Besitzt sie denn gar keine Heimat?«
»Sie will keine haben; sie ist am glücklichsten, wenn sie frei umherstreifen und ungestört ihren verworrenen Träumen nachhängen kann. Am liebsten denkt sie sich in die Rolle eines Ritterfräuleins oder einer Hofdame hinein und gefällt sich darin, je nach ihrer augenblicklichen Neigung, den einen oder den andern als eine hochgestellte Persönlichkeit zu begrüßen.«
»Dann sind auch Sie wohl kein Graf und keine Exzellenz: fragte sie mit lieblichem Lächeln.
»Weder Graf, noch Exzellenz,« antwortete ich heiter, durch die Frage daran erinnert, daß ich vorläufig noch der Freund des Herrn Gustav sei, »Fräulein Brüsselbach hat mich zu solchen Würden erhoben, gerade wie außer mir noch viele andere, und da sie so eigensinnig bei diesen Bezeichnungen beharrt, würde es vergebliche Mühe sein, sie über ihren Irrtum aufklären zu wollen.«
Unter solchen Gesprächen waren wir über den alten Burghof und um die ganze Ruine herumgegangen. Das verwitterte Gestein erregte wohl unsere Aufmerksamkeit, und wir sprachen auch in warmen Worten unsere Bewunderung über die Lage der Ruine und die festen Mauerwerke aus, aber immer wieder kam meine Gefährtin auf die Irrsinnige zurück, worin sie natürlich meinen Gedanken, die sich unablässig mit der mir soviel Glück verheißenden Prophezeiung beschäftigten, stets begegnete.
»Ein eigentümlicher Vers war es, den sie hersagte,« begann sie wieder, als wir uns nach Besichtigung der Burg dem Schloßhofe, wo der Führer unser harrte, wieder zuwendeten, »ob sie ihn selbst gedichtet haben mag?«
»Ohne Zweifel, denn schon früher hatte ich Gelegenheit, Gedichte von ihr zu hören und zu lesen. Diese bestehen gewöhnlich aus einer verwirrten Anhäufung von Gedanken, die alten Ritter-, Räuber- und Geistergeschichten entnommen sind. Überhaupt scheint eine übel gewählte Lektüre nicht wenig zu ihrer Überspanntheit beigetragen zu haben.«
»Ob sie wohl mit Vorbedacht die Prophezeiung in den Vers verwebt hat, um uns gegenüber als Wahrsagerin zu erscheinen?«
»Es sollte mich nicht wundern, wäre es der letzte Vers, den sie heute gedichtet und hier niedergeschrieben hat,« antwortete ich, den Brief, den ich beinahe vergessen hatte, entfaltend, »nein, ich täusche mich nicht,« fuhr ich fort, als ich, einen Blick auf das Papier werfend, wirklich den Schlußvers wiedererkannte.
»O, lesen Sie,« versetzte meine Gefährtin hastig, und aus ihren schönen Augen sprach ein unvergleichliches Gemisch von kindlicher Neugierde und jungfräulicher Befangenheit.
Wir setzten uns daher im Schatten eines uralten Holunders, unter dem eine einfache Bank angebracht worden war, nieder, und nachdem ich die nicht allzudeutliche Schrift vorher mit den Blicken durchflogen, las ich diese laut vor:
»Sie sah den stolzen Ritter,
Im stählernen Gewand,
Er grüßte sie so freundlich
Und reichte ihr die Hand.
Und als er ritt von dannen,
Da sehnte sie ihn zurück,
Ihr Herz, es war gebrochen,
Gebrochen ihr Lebensglück.
Drauf weinte sie heiße Tränen,
Der Tränen weinte sie viel,
Die wurden endlich zum Bächlein,
Das von den Bergen fiel.
Zum Bache kam der Ritter,
Er sah sein Spiegelbild,
Sein Spiegelbild in Tränen
Mit Lanze, Schwert und Schild.
Schnell zäumt er auf den Renner,
Er reitet Tag und Nacht,
Und als er kam zu dem Hüttlein,
Da rief er: aufgemacht!
Ihr Vater hört das Klopfen,
Und greift zu seinem Speer
Und macht zum Kampf sich fertig,
Sich und die treue Wehr,
Die Tochter ihres Vaters,
Sie ahnte, wer es war.
Beseligt und beglückend
Folgt sie ihm zum Altar.«
»Welch' wilde Phantasien,« sagte meine Gefährtin, als ich geendigt, »aber in der Tat, die letzten Strophen sind dieselben, mit denen die Unglückliche uns begrüßte. Nur klingen Sie aus Ihrem Munde natürlicher, während ich vorhin eine Wahrsagerin zu hören glaubte.«
Ich sprach mich in ähnlicher Weise aus, doch vermochte ich nicht, mich gänzlich von dem mir bereits liebgewordenen Gedanken, daß das Geschick mir durch die Irrsinnige seinen Beschluß habe kundtun wollen, loszusagen. Mit ganz anderen Augen und Gefühlen betrachtete ich daher jetzt die Nichte meines Vormundes, und nichts kommt der Sorgfalt gleich, mit der ich ihr wieder in den Sattel half und das Tier auf den besten Pfaden den Berg hinunterführte, dem Treiber es anheimstellend, nach Willkür seinen eigenen Weg zu wählen.
So verfolgten wir unsern Weg in das Tal hinab; die Blicke schweiften mechanisch in die Ferne, und nur gelegentlich, wie um den Schein eines drückenden Schweigens abzuwälzen, fielen kurze Bemerkungen über die schöne Naturumgebung und die größeren und kleineren heiteren Gesellschaften, die uns nunmehr bald beritten, bald zu Fuße begegneten. Unsere Stimmung war seit einer Stunde vollständig umgewandelt worden; der Sonnenschein dagegen war, wenn die Schatten sich auch etwas verlängert hatten, derselbe geblieben; ebenso sangen und jubelten die Lerchen in ihrer alten Weise, und dazu erklang aus dem Dickicht hin und wieder der glockenreine Schlag einer Nachtigall.
Erst als wir in das Tal hinabgelangten, schien der Bann, der auf uns lastete, wieder zu weichen. Ihre erregte Phantasie beruhigte sich, während die Aussicht, nun bald meinem Vormunde gegenüberzutreten, meine buntschillernden Luftschlösser weit in den Hintergrund drängte und mich fast nur des allseitigen Erstaunens bei dem unerwarteten Zusammentreffen gedenken ließ.
Auf meiner Gefährtin Züge kehrte das sinnige Lächeln zurück; ich dagegen wählte den tollen Gustav Wandel samt seinem ehrwürdigen Vormunde aufs neue zum Gegenstand scherzhafter Bemerkungen. Und so vertieften wir uns denn allmählich wieder so sehr in eine heitere Unterhaltung, daß es uns überraschte, die Mineralquelle plötzlich vor uns zu sehen.