Balduin Möllhausen
Die Mandanen-Waise
Balduin Möllhausen

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8

Aus vergangenen Tagen

Die liebe, freundliche Oberförsterei! Wie sie so romantisch zwischen den alten Bäumen hervorlugte.

Von jeher war sie mir als eine liebliche Idylle erschienen, jetzt aber, seit ich Johanna dort wußte, erhielt sie in meinen Augen einen erhöhten Zauber. Ich fühlte dies so recht an jenem unvergeßlichen Sonntagabend, als wir uns in einer Laube hinter dem Wohnhause wieder zusammengefunden hatten und bei heiterem, harmlosem Geplauder die Zeit unmerklich verrann.

Ich war weich, sogar wehmütig gestimmt, ohne zu wissen warum, und jetzt noch, nach langen Jahren, wenn ich jenes Abends gedenke, vermag ich mich kaum der Tränen zu erwehren.

War es das Schicksal, das mich vor der Zukunft warnte, oder nahm meine glückliche, sorglose Jugendzeit Abschied von mir? Ich weiß es nicht; nur das ist mir klar, daß seit jener Zeit ein tieferer Ernst in meine Brust einzog, ein festerer und endlich ein unumstößlicher Wille mich in allen meinen Handlungen leitete, daß ich begann – vielleicht zu frühzeitig begann – mich als Mann, als Lenker meines eigenen Geschickes zu fühlen und infolgedessen, wie ich jetzt erkenne, meine Kraft und meine Einsicht weit zu überschätzen. –

Die Nacht war weit vorgerückt; tiefe Stille ruhte auf der im Licht des abnehmenden Mondes bläulich schimmernden Landschaft. Die Lieder der lustwandelnden Dorfbewohner waren längst verstummt, und lauter tönten dafür die süßen Melodien der Nachtigallen aus dem nahen Walde zu uns herüber.

Die ruhige, friedliche Stimmung der Natur hatte sich uns allen unbewußt mitgeteilt, weshalb auch wohl unsere Unterhaltung einsilbiger wurde. Mein Vormund nahm dies endlich für ein Zeichen von Müdigkeit, und nachdem er seiner guten Lisette und Johanna eine herzliche Gutenacht gewünscht, forderte er mich auf, ihn noch auf einem Spaziergange durch den angrenzenden Forst zu begleiten.

»Ich habe mit dir über wichtige Dinge zu reden,« hatte er hinzugefügt.

Im Ton seiner Stimme lag ein an ihm sonst nicht gewöhnlicher Ernst, und ein Gemisch von Trotz und Besorgnis beschlich mich, als ich der Möglichkeit gedachte, daß ihm vielleicht von irgendeiner Seite meine beabsichtigte Beteiligung an den demagogischen Umtrieben verraten worden sei.

Meine Befürchtungen erwiesen sich jedoch als grundlos; denn nachdem wir eine kurze Strecke schweigend nebeneinander zurückgelegt hatten, begann er: »Wie gefällt dir meine Nichte Johanna? Aufrichtig, mein Junge.«

»Ich dächte, es wäre gerade nicht schwer zu entdecken, daß Johanna mir besser als irgendein anderes Mädchen meiner Bekanntschaft gefällt,« antwortete ich möglichst ruhig.

»Brav und offen gesprochen; aber nicht mehr, als ich von dir erwartet habe.«

»Gewiß, Herr Oberstleutnant, ich sage nicht zuviel, wenn ich behaupte, daß ich Ihre schöne und brave Nichte außerordentlich liebgewonnen habe. Aber wie geht es zu, daß ich plötzlich eine Nichte von Ihnen in Ihrem Hause finde, während ich früher glaubte, daß Sie ohne nähere Angehörige wären?«

»Sapperment, das ist es ja gerade, worüber ich mit dir sprechen will. Erstens wünsche ich nämlich vorzubeugen, daß du vielleicht einmal unbedachtsamerweise dich mit Johanna in ein Gespräch über ihr Herkommen und ihre Eltern einlassest und Fragen stellst, die zu beantworten außer dem Bereich der Macht des armen Kindes liegt, dann aber auch will ich dich überhaupt mit ihrer Geschichte bekannt machen, eh' du dich in sie verliebt hast. Wäre dies geschehen, und du wolltest dich dann, infolge meiner inhaltschweren Mitteilungen, zurückziehen, so könnte das sehr, sehr traurige Folgen für Johanna haben. Ich bin zwar ein alter Soldat, ein Herz habe ich deswegen aber doch, und ich sage dir, Junge, es wäre ein harter Schlag für mich, würde das Kind meines Bruders, sie, die letzte unseres Stammes, durch dich unglücklich. Kennst du aber Johannas Lebensgeschichte, oder vielmehr die Geschichte ihrer Eltern, so darf ich von dir als einem Ehrenmanne erwarten, daß du, im Falle die kalte Vernunft dir riete, zurückzustehen, bei ihr keine Hoffnungen zu erwecken suchst, die zu verwirklichen deinen Begriffen von Würde, Ehre und Stolz widerspräche.«

Seine Worte weckten einen tiefen Eindruck in meiner Seele, und aufs äußerste gespannt harrte ich dem entgegen, was er mir über Johannas Vergangenheit zu eröffnen im Begriffe stand.

»Herr Oberstleutnant,« sagte ich daher, sobald er schwieg, und ich drückte seine Hand aus aufrichtigem, überströmendem Herzen, »Sie sprechen von Ihrer lieblichen Nichte als von einem Wesen, an dessen Name ein Makel hafte; ich vermeide es, Ihnen jetzt schon die Hoffnungen und Wünsche zu schildern, die Johannas Erscheinung bereits am Tage unserer ersten Bekanntschaft in mir wachgerufen hat. Johanna soll mein Stolz, mein ganzes Lebensglück sein, und je trüber die Umstände sind, die sich an ihr Dasein knüpfen, um so höher will ich sie achten. Ja, ich werde mich von Stufe zu Stufe emporschwingen, so hoch, ja, so hoch, daß sogar mein verehrter Herr Vormund meinen Namen mit Stolz nennt.«

»Gratuliere zum Minister,« versetzte mein Vormund lachend; im nächsten Augenblick war er indessen wieder ernst. »Aber Scherz beiseite,« fuhr er gleich darauf fort, indem er meine Hand ergriff und sie heftig drückte; »du hast gesprochen, wie ich es von dir erwartete und wie es einem Ehrenmanne geziemt. So höre mir denn aufmerksam zu, präge alles deinem Gedächtnis wohl ein und nimm dir vollkommen Zeit, dich zu prüfen. Hat denn endlich derjenige, der mich mit meiner Lisette zusammenführte, ein Ähnliches über euch beschlossen, so will ich – na – du weißt ja schon.«

Hier wurde der buschige Schnurrbart wieder etwas länger als gewöhnlich geschraubt und gedreht, und nachdem der alte Herr sich noch einmal recht ordentlich geräuspert, begann er:

»Wir waren drei Brüder, nämlich der älteste, der bei Jena den Heldentod starb, dann ich, von dem nur noch ein paar dürre morsche Knochen übriggeblieben sind, und endlich mein Bruder Johann, der, bedeutend jünger als ich, ebenfalls in die Armee eintrat.

»Von diesem letzteren nun, der Johannas Vater wurde, will ich dir erzählen.

»Obgleich mein Bruder Johann im Freiheitskriege tapfer mitgefochten hatte, begünstigte das Glück ihn doch nicht sonderlich. Er war Leutnant und blieb Leutnant, was wohl am meisten dazu beitrug, daß er bereits im Jahre 1816 seinen Abschied nahm und sich mit seiner geringen Pension und den Zinsen eines gerade nicht sehr erheblichen väterlichen Erbteils begnügte. Alles dies ging ganz gut, und es würde heute noch gut gehen, wenn er nicht auf den unheilvollen Gedanken gekommen wäre, zu heiraten.

»Heiraten ist sehr schön, aber die Sache muß auch Hand und Fuß haben und nicht, wie bei meinem Bruder, eine Art von Zusammenlaufen aus verliebter Laune sein.

»Kurz nachdem er seinen Abschied genommen hatte, begab mein Bruder sich eines Tages nach Köln und besuchte des Abends in Gesellschaft von ehemaligen Kameraden das Theater. An jenem Abend trat gerade eine Tänzerin, eine Italienerin, zum erstenmal dort auf. Die Tänzerin sehen und sich in dieselbe verlieben, war für meinen Bruder eins. Er suchte Zutritt bei seiner Angebeteten zu erhalten; dieser wurde ihm auch gewährt, und da er ein auffallend schöner Mann war, konnte es nicht fehlen, daß er einen günstigen Eindruck machte.

»Dem ersten Besuch folgte bald der zweite, dem zweiten der dritte, und noch keine vier Wochen waren verstrichen, da kündigte er mir an, daß er sich mit der Italienerin zu verheiraten gedenke.

»Des Menschen Wille ist sein Himmelreich, dachte ich, und obwohl mir die ganze Geschichte nicht behagte, ging ich dennoch nach Frankfurt, um als guter Bruder der dort stattfindenden Vermählung beizuwohnen. Ich kann nicht leugnen, daß der Anblick des jungen Mädchens mich fast gänzlich mit ihrem Herkommen und ihrem Beruf aussöhnte. Ihr Äußeres war schön, ihr Wesen und Benehmen bescheiden und anspruchslos; mit einem Wort, die neue Schwägerin gefiel mir ausnehmend und ich verzieh meinem Bruder aus vollem Herzen, daß er sich zu dem dummen Streich hatte fortreißen lassen.

»Die Hochzeit wurde in gehöriger Form gefeiert, betreffs der etwaigen Nachkommenschaft – mein Bruder war Protestant, seine Frau Katholikin – die Vereinbarung getroffen, daß alle Kinder in die Stammrolle des Vaters eingetragen, was soviel heißt, wie: in dessen Religion erzogen werden sollten, wie das auch ganz in der Ordnung war, und vollständig beruhigt über die Zukunft der jungen Eheleute reiste ich hierher zurück. Und beruhigt konnte ich sein, denn außerdem, daß seine Frau ihm einige tausend Taler einbrachte, war es meinem Bruder auch gelungen, eine seinen Fähigkeiten entsprechende Anstellung in einem Büro zu finden, wodurch ihr Einkommen so weit erhöht wurde, daß sie ein behagliches Leben führen konnten.

»Ein Jahr mochte ungefähr verstrichen sein, als ich die Nachricht von der Geburt einer Tochter erhielt.

»Da mir selbst keine Kinder beschieden gewesen sind, so kannst du die Freude begreifen, die ich darüber empfand. Ich liebte das Kind schon damals, ohne es zu kennen, und jetzt, da es in meinem Hause lebt, ist es mir noch viel teurer geworden.

»Mit der Geburt des Kindes schien indessen das Glück der beiden Eheleute ihr Ende erreicht zu haben; die Briefe meines Bruders wurden immer kälter und geschäftsmäßiger und verloren sehr bald die letzte Spur von jenem Humor, der sie vordem stets ausgezeichnet hatte.

»Die Sache war folgende: Die Natur der Italienerin hatte wohl eine Zeitlang verleugnet, jedoch nicht ganz umgewandelt werden können, und meinen Bruder mußte es selbstverständlich niederdrücken, zu gewahren, daß seine Gattin, nachdem sie Mutter geworden war, nicht nur wenig haushälterisch mit ihrem Einkommen verfuhr, sondern sich auch, gegen seinen ausdrücklichen Wunsch und Willen, einen Umgang wählte, den er von seinem Standpunkte aus nie gutheißen konnte.

»Unter denjenigen, die in Abwesenheit meines Bruders sein Haus am häufigsten besuchten, befand sich auch ein katholischer Priester, der, ebenfalls ein Italiener, sogar in Gegenwart meines Bruder sich nicht scheute, im Verkehr mit der jungen Frau sich der italienischen Sprache zu bedienen, von der jener kein Wort verstand. Auch erschien es ihm oft, als wenn das Verhältnis zwischen dem Kaplan und seinem Beichtkinde fast ein zu zärtliches sei, aber seiner kleinen Tochter zuliebe ertrug er manches, was ihn früher in die grenzenloseste Wut versetzt haben würde.

»Doch alles hat sein Ende.

»Der erste ärgerliche Auftritt erfolgte, als die junge Frau den dringenden Wunsch aussprach, ihre Tochter in der katholischen Religion erziehen und mehr noch, sie sogleich nach katholischem Ritus taufen zu lassen.

»Als mein Bruder auf ihren bindenden Vertrag hinwies, überhäufte sie ihn mit Vorwürfen und Klagen, daß man sich damals ihre Unerfahrenheit zunutze gemacht und sie auf eine schändliche Weise hintergangen habe. Ein Wort gab das andere, Tränen wechselten mit Ohnmachten ab, und das Ende vom Liede war, daß mein Bruder, der in dem ganzen rechtswidrigen Begehren das Werk des fremden Priesters erkannte, diesem mit dürren Worten das Haus verbot.

»Anscheinend wurde das Verbot mit Gleichgültigkeit hingenommen. Der Priester ließ sich zwar nicht mehr im Hause blicken, doch vermochte mein Bruder nicht zu verhindern, daß seine Frau den hinterlistigen Betrüger außer dem Hause sah, er selbst aber von dem treulosen Weibe mit kalter Verachtung gestraft wurde, was seinen sonst so frischen Lebensmut völlig untergrub.

»Wiederum verstrichen einige Monate, in denen der Bruch unheilbar zu werden schien.

»Als mein Bruder eines Abends, Johanna mochte damals vielleicht ein Jahr alt sein, zur späten Stunde nach Hause kam und Licht anzündete, war das erste, was ihm in die Augen fiel, ein an ihn gerichtetes Schreiben seiner Gattin. Nichts Gutes ahnend erbrach er dieses; es enthielt nur wenige Worte, in denen seine Frau ihm erklärte, daß sie, da sie nicht glücklich mit ihm leben könne, ihr Kind aber in den Schoß der alleinseligmachenden Kirche zurückzuführen beabsichtige, es vorziehe, sich von ihm zu trennen und ihm mit Freuden seine volle Freiheit zurückgebe. Schließlich riet sie ihm noch, nicht nach ihr zu forschen, da alle seine Mühe sich als vergeblich ausweisen würde.

»Wäre sie allein, ohne das Kind gegangen, dann würde er sich möglicherweise getröstet haben, so aber war ihre Flucht ein Schlag für ihn, der ihn bis ins innerste Lebensmark traf. Zu dem unsäglichen Schmerz über den Verlust des Kindes gesellte sich aber auch noch die grimmigste Wut über das verbrecherische Treiben der Flüchtlinge, und obwohl mit zermalmtem Herzen, versäumte er doch nichts, was dazu dienen konnte, ihn auf deren Spur zu leiten. Wie ihm geglückt war, so schnell die Richtung ihrer Flucht auszukundschaften, weiß ich nicht, wohl aber, daß er bereits am folgenden Morgen, als eben der Tag zu grauen begann, mit Extrapost und Kurierpferden über die Mainbrücke jagte.«

So sprechend schob der Oberstleutnant, als ob die Erinnerung an die Schmach seines Bruders ihn übermannt habe, die Augenklappe zähneknirschend einigemal hin und her, und nachdem er, wie um sich zu beruhigen, mit seinem Krückstock einen Doppelhieb nach den am Wege wuchernden Gräsern geführt, nahm er den Faden seiner Erzählung wieder auf:

»Er holte die Flüchtlinge ein, Sapperment! Er holte sie ein, in einer Stadt Rheinbayerns, als sie eben in einem Gasthof zweiter Klasse Quartier gemacht hatten. Seine Gattin und den Priester traf er in traulichem Gespräch beieinander; sie befürchteten nicht mehr, verfolgt zu werden. Seine Tochter dagegen lag bereits in einem gesunden Schlaf.

Wie ein rächender Gott trat er vor das verbrecherische Paar hin. Er sprach kein Wort, aber den Pfaffen peitschte er unbarmherzig auf die Straße hinaus, und dann erst nahm er das Kind in seine Arme, um es zu herzen und zu küssen.

Eine Stunde später fuhr er mit Weib und Kind und sogar mit dem Gelde, das die treulose Frau mitzunehmen nicht vergessen hatte, Frankfurt wieder zu. Das Kind hielt er selbst auf den Knien, mit seiner Frau dagegen sprach er keine Silbe.

So kam er in seiner Wohnung an. Aber selbst da gelang es seiner Frau nicht, ihm auch nur ein Wort des Vorwurfs zu entlocken oder das Kind zur alleinigen Pflege und Bewachung überantwortet zu erhalten. Wie sein Herz schien auch sein Antlitz sich versteinert zu haben; er sprach nur das Allernotwendigste zu den Dienstboten, weinte bittere Tränen über der kleinen Johanna, weiter aber gingen die Äußerungen seines Kummers nicht.

Das Haus verließ er nicht mehr; er hatte nämlich seine Stelle bereits am ersten Tage nach seiner Rückkehr aufgegeben, dagegen schrieb er sehr viel, und zuweilen sah man auch wohl eine Gerichtsperson sich zu ihm begeben, die bei verschlossenen Türen längere Zeit mit ihm beriet.

Die schuldbelastete Frau sollte denn auch nicht lange über ihr Los im Dunkeln bleiben, denn schon am achten Tage wurde trotz ihres Händeringens, trotz ihres Flehens um Erbarmen, das Kind von ihr genommen und einer protestantischen Familie zur Erziehung übergeben. Sie selbst erhielt nur die Erlaubnis, ihre Tochter einmal wöchentlich in Gegenwart von Zeugen sehen zu dürfen. Gleichzeitig war mir die gerichtliche und von einem dringenden Schreiben meines Bruders begleitete Aufforderung zugegangen, die Vormundschaft über das Kind zu übernehmen und nach besten Kräften über dessen Zukunft zu wachen.

Dieses Ansinnen wies ich natürlich nicht zurück, doch konnte ich nicht umhin, noch besonders an meinen Bruder zu schreiben und ihn zu ermahnen, sich aufzurichten und sich nicht allzusehr von den widerwärtigen Verhältnissen niederdrücken zu lassen.

Mein Brief erreichte ihn nicht mehr, dagegen ging mir einige Tage später eine Abschrift seines Testamentes zu und ein Brief, in dem der arme Kerl auf ewig von mir Abschied nahm, mich beschwor, sein Kind zu lieben, dafür zu sorgen, daß es nicht verkomme, und das kleine von ihm hinterlassene Vermögen zu dessen Besten zu verwalten.

Von den bösesten Ahnungen gefoltert, reiste ich augenblicklich nach Frankfurt ab; allein ich kam zu spät. Seine Gattin, die sein ganzes Unglück verschuldet hatte, traf ich in Verzweiflung, er selbst aber war, unter Hinterlassung seiner sämtlichen Sachen und seines für Johanna sicher untergebrachten Geldes, spurlos verschwunden.

Es unterlag keinem Zweifel, der arme Kerl, durch den Verrat seiner Gattin zum Äußersten getrieben, hatte sich das Leben genommen,« fuhr der Oberstleutnant fort, nachdem er, um seine Bewegung zu bekämpfen, ein kurzes, aber scharf klingendes Kavalleriesignal in den Wald gepfiffen.

»Hätte der Umstand, daß man nie eine Spur von ihm entdeckte,« fuhr er dann fort, »noch irgendwelche Zweifel gestattet, durch den Brief, den er an Johannas Mutter richtete, wären sie beseitigt worden.

In diesem sprach er die Hoffnung aus, sie dereinst im Jenseits wiederzufinden. Er beschwor sie, wenigstens sein Andenken, wenn auch nur Johannas wegen, zu ehren und das Unrecht, das sie ihm angetan, dadurch zu sühnen, daß sie nie den Versuch mache, sein und ihr Kind der Religion zu entfremden, in der es getauft worden war. Daß sie sich an ihm versündigt, vergab er ihr; er vergab ihr in der festen Hoffnung, daß sie in der von ihm angedeuteten Weise handeln werde.

Du hast frei sein wollen und du bist es, schloß er seinen Brief, aber ich habe dir die gewünschte Freiheit in einer Weise zurückgegeben, daß nicht dich, sondern mich allein der Vorwurf trifft. Tue du nun das Deinige, erfülle die letzte Bitte, die ich in diesem Leben an dich richte, und erhalte unser Kind, meine einzige Johanna, über die Gott seinen reichsten Segen ausschütten möge, in Ungewißheit über das Ende ihres Vaters.«

»Das waren die Worte, die er an seine Gattin richtete; ich habe sie nicht vergessen, und in meiner letzten Stunde werden sie mir noch in den Ohren klingen, in meiner letzten Stunde, wenn ich um Gnade und Erbarmen für meinen armen unglücklichen Bruder zu Gott flehe.«

So sprechend ließ der Oberstleutnant das Haupt auf die Brust, sinken und längere Zeit schritten wir schweigend nebeneinander hin.

»Es wird Zeit, daß wir umkehren,« sagte er endlich, wie aus einem Traume emporschreckend; »was mir noch zu berichten bleibt, ist nicht mehr viel; ich werde damit zu Ende kommen, lange bevor wir die Oberförsterei erreichen.«

Nachdem wir eine kurze Strecke des Heimweges zurückgelegt hatten, richtete er sich wieder kräftig empor, seine Hand fuhr zuerst nach seinem blinden Auge, dann einigemal nach beiden Seiten ordnend über den Schnurrbart hin, und dann begann er:

»Was ich nie für möglich gehalten hätte, geschah. Das durch ihre Schuld herbeigeführte frühzeitige Ende meines Bruders, mehr aber noch seine Worte der Vergebung hatten Johannas Mutter tief erschüttert und sie vollständig umgewandelt. Niemand hat sie seit jener Zeit wieder lächeln gesehen. Sie trotzte den Gerüchten, die über sie im Umlauf waren, und beachtete nicht, daß man sie mied. Zu den festgesetzten Stunden, die später durch meine Vermittlung sich häufiger wiederholten, besuchte sie Johanna, sonst aber lebte sie zurückgezogen in einem kleinen Hause, in dem sie nur in den schwereren Arbeiten von einer Aufwärterin unterstützt wurde.

Bei einer solchen Lebensweise und gefoltert von endlosen Gewissensbissen, konnte es nicht fehlen, daß der Keim zu einer tödlichen Krankheit, der wohl schon immer in ihrer Brust gelegen haben mag, allmählich mehr hervortrat und sie endlich ganz an ihr Lager fesselte.

Es war im vierten Jahre nach dem Tode meines Bruders, als sie Johanna zum letztenmal besuchte, danach durfte diese ganze Tage bei ihr zubringen. Obwohl sie hätte verlangen können, ihre Tochter beständig bei sich zu haben, machte sie doch keinen Versuch dazu; sie befürchtete, dadurch den Wünschen ihres verstorbenen Gatten zuwider zu handeln.

Ob der Verkehr mit ihrer Mutter für Johanna von großem Segen gewesen ist, will ich dahingestellt sein lassen. Doch ist wohl anzunehmen, daß das regelmäßige Erscheinen der bleichen, schwarzgekleideten Frau und die unzähligen Tränen, die sie über ihre Tochter weinte, nicht vorübergegangen sind, ohne schwer zu verwischende Spuren bei dem noch im zartesten Jugendalter stehenden, damals sehr schwächlichen Mädchen zurückzulassen. Mir scheint es wenigstens so, als wenn die Erregbarkeit ihres Gemütes ursprünglich nicht in ihrem Charakter gelegen habe und nur durch die eben erwähnten äußeren Einflüsse erzeugt worden sei.

Im fünften Jahre nach ihrer Vereinsamung starb die Unglückliche endlich, nachdem sie ihr Kind noch einmal gesegnet, noch einmal den letzten Willen ihres Gatten, betreffs Johannas, rechtsgültig bekräftigt hatte. Sie starb als eine reuige Sünderin, und mag Gott ihr vergeben, wie ich ihr von ganzem Herzen, schon um ihrer ausgestandenen Leiden willen, vergeben habe. –

Johannas wegen wünschte ich die Vergangenheit ihrer Eltern vergessen zu machen und nahm sie deswegen nach dem Tode ihrer Mutter von Frankfurt fort, um sie in ein Landstädtchen zu braven Leuten in Pension zu bringen. Dort nun ist sie bis vor sieben Wochen geblieben und hat den Hoffnungen und Erwartungen, die ich hegte, vollkommen entsprochen. Mit Stolz betrachte ich das liebe freundliche Kind jetzt und sage mir mit Genugtuung, daß auch ich mit zu denjenigen gehöre, die einen guten Einfluß auf ihr Geschick ausübten.

So, mein Sohn, jetzt weißt du alles; du bist nachgerade ein Mann und wirst Benehmen und Worte nach den Umständen bemessen können, vor allem aber wirst du einsehen, daß ich wohl Ursache hatte, dich mit Johannas Lebensgeschichte bekannt und vertraut zu machen.«

»Und halten Sie es für möglich,« fragte ich, sobald der Oberstleutnant schwieg, »daß dasjenige, was Sie mir eben mitteilten, mich in meinen Gefühlen, doch ich will kälter sprechen, in meinen Ansichen über Johanna in einer andern Weise bestimmen könnte, als daß ich mit noch innigerer Teilnahme auf sie hinblicke, noch sehnlicher wünsche, mit zu ihrem Lebensglück beitragen zu dürfen?«

»Nein, mein Sohn, ich halte es nicht für möglich,« antwortete mein Vormund, mir die Hand drückend, »doch wie ich schon andeutete, laß dich nicht zu früh zum Bauen von studentenhaften Luftschlössern hinreißen. Erwäge alles wohl, und wenn einst die Zeit kommt, in der du unter den Töchtern des Landes wählen darfst, und ihr tretet dann vor mich hin mit der Erklärung, daß ihr einig seid, so will ich euch meinen Segen nicht vorenthalten und mit wahrer Herzenslust euch beide meine Kinder nennen.«

Schweigend verfolgten wir danach längere Zeit unsern Weg.

Die Frösche sangen im Chor ihr eintöniges Lied, und dazwischen fielen, wie kostbare Perlen, die einzelnen tiefen Noten einer Nachtigall. Nirgends ein Mißton, überall tiefer Friede; nur mein Herz klopfte stürmisch und wildbewegt im Vollgefühl meiner jugendlichen unbesiegbaren Kraft. »Alles, alles für Johanna, nichts für mich,« jubelte es dabei in meiner Brust, »alles für Johanna, für den holden Stern meines Lebens!«

 


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