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Der Karneval auf dem Eise. – Doktor Joost. – Eine arktische Tragödie. – Kunde von der Edelsteininsel.
Der Matrose Goring war der Tiefe des Eismeeres übergeben worden; darauf hatte der erwartete Sturm sich aufgemacht und drei Tage lang dermaßen gewütet, daß es unsern Abenteurern nicht möglich gewesen war, die Kajüte zu verlassen und den Fuß an das mit Eis überzogene Deck zu setzen.
Als das Unwetter nachließ, trieb der Schoner in der Franklins-Bai. Man hatte den nördlichsten Punkt der Reise erreicht. Wenn die Edelsteininsel existierte, so mußte sie sich in dieser Gegend befinden.
Am Morgen nach der letzten Sturmnacht – wenn hier, wo die Sonne nicht mehr unterging, noch von einer Nacht geredet werden konnte – standen die Bernsdorfs auf dem notdürftig vom Eise befreiten Achterdeck und schauten eifrig nach der Küste hinüber. Dort war allerdings etwas Ungewöhnliches zu sehen.
Wie überall in diesen Breiten, waren dem Lande weite Strecken des vielgestaltigsten Eises vorgelagert, das war also an sich nichts Neues; auf diesem Eise aber ließen sich allerlei Gegenstände wahrnehmen.
»Schiffe sind's«, erklärte der Kapitän nach längerer Beobachtung durch das Glas. »Schiffe und schiffbrüchige Menschen.«
»Jedenfalls Walfischfänger«, meinte Johann Bernsdorf.
»Wahrscheinlich«, nickte Armstrong. »Der Sturm muß sie samt dem Eise dort in die Bucht hineingetrieben haben, und nun sitzen sie fest auf ewig, oder doch so lange, als das Eis zusammenhält.«
»Sollten nicht auch die Flibustier vom ›Nordlicht‹ dabei sein?« fragte Karl.
»Das glaube ich nicht«, antwortete der Schiffer, wieder das Teleskop ans Auge setzend, »übrigens gibt es hier Felseninseln genug in der Bai, eine aber, die der Beschreibung des Edelsteineilandes entspräche, sehe ich noch nicht.«
»Wir werden sie aber finden«, sagte Friedrich Bernsdorf. »Wenn uns jene Leute dort auf dem Eise nur nicht hinderlich sein werden.«
Die »Seeschlange« näherte sich der Küste, das heißt, dem Eisrande, unter gekürzten Segeln und in mäßiger Fahrt. In Rufweite von der Kante ließ der Schiffer den Anker fallen. Die schiffbrüchigen Walfischfänger begrüßten das Fahrzeug mit lautem und, wie es schien, übermütigem Geschrei.
Kopfschüttelnd schauten die Abenteurer von der »Seeschlange« hinüber.
»Das ist ja eine riesig vergnügte Gesellschaft«, sagte Karl zu seinem Bruder Philipp. »Wer hätte hier in dem ewigen Eis so etwas erwartet?«
»Nein, wie ist es nur möglich!« rief Philipp. »Sieh doch nur, sie tanzen und singen! Da stehen auch Buden und Zelte! Es ist ein Jahrmarkt oder so was ähnliches!«
»Ein Jahrmarkt! Wohl für die Alken und Schneegänse? Unsinn!«
»Aber schau' doch nur hin! Vor drei oder vier Zelten trinken und tanzen sie.«
»Die Kerle sind schiffbrüchig und haben sich der Rum- und Branntweinvorräte bemächtigt«, erklärte der herzutretende Schiffer. »Wir müssen auf der Hut sein und uns so wenig wie möglich mit ihnen einlassen.«
Eine längere Beobachtung der Gesellschaft auf dem Eise ergab, daß Armstrong recht hatte. Eine Anzahl großer Schiffe saß in oder vielmehr auf dem Eise. Die Mannschaften hausten teils an Bord, teils hatten sie auf dem Eise Hütten und Zelte errichtet. Dem Anschein nach gehörten sie verschiedenen Nationen an. Die an Bord Befindlichen verhielten sich ruhig, ja niedergeschlagen und traurig, die andern aber suchten durch fröhliches Treiben die Sorgen zu verjagen und die drohende Zukunft zu vergessen; der Alkohol umnebelte ihnen die Sinne und verwandelte die öde Eiswüste für sie in einen Ort des Vergnügens und der Lust.
»Der verdammte Schnaps!« grollte der Schiffer. »Seht doch! Der Koch soll mich sauer kochen, wenn die Kerle dort nicht ein Freudenfeuer aus ihrem Schiffe machen wollen!«
Über einem der verlassenen Fahrzeuge kräuselte eine schwärzliche Rauchwolke empor, deren Ursprung allerdings noch nicht sichtbar war.
»Was für Landsleute mögen das sein?« fragte Johann Bernsdorf.
»Zumeist Engländer, auch Franzosen und Holländer; die wüstesten und trunkensten sind natürlich die Engländer«, antwortete der Schiffer. »Mein liebes Vaterland ist ja leider nun einmal das Land der Trunkenbolde.«
Nach einer Weile ließ er die Jolle zu Wasser bringen; Friedrich und Johann Bernsdorf und ihre vier Söhne begaben sich hinein, der Steuermann folgte ihnen, und fort ging es, dem »Karneval auf dem Eise« zu.
Die Szene, die sich ihnen beim Landen darbot, stand sicherlich ohnegleichen in der Geschichte der arktischen Reisen und Abenteuer da.
Auf dem durch Sturmesgewalt zusammengepreßten, allenthalben in den wildesten Gestaltungen emporstarrenden Eise standen, regellos zerstreut, eine große Menge von Zelten und ähnlichen Bauten aus Leinwand und Planken, eine Strecke bedeckend, auf der ein Dorf Platz gefunden hätte. Die Insassen der Zelte trieben sich in lebhaftestem Verkehr zwischen ihren Wohnstätten umher, wilde, pelzbekleidete Gestalten, singend, tanzend, einander jagend, balgend oder sonst allerlei mehr oder weniger rohe Scherze vollführend, wobei die meisten die Schnapsflasche in der Hand hielten.
Die erstaunten Abenteurer schritten langsam, oft durch kreischende Zurufe begrüßt, aber sonst unbehelligt durch das weitläufige Zeltdorf und an den eingefrorenen Schiffen vorüber. Die letzteren waren nur noch Wracks mit eingedrückten Planken und zerbrochenen Masten. Eins stand in hellen Flammen, ein anderes war zur Hälfte verkohlt. Ein trauriger Anblick.
»Welch himmelschreiender, verbrecherischer Leichtsinn!« rief Friedrich Bernsdorf entrüstet. »Diese unsinnigen Menschen verbrennen das kostbare Holz, das viele andere Polarfahrer in ihrer Not mit Gold aufwiegen würden! Was denken sich die Leute?«
»Nichts denken sie, der Branntwein hat sie stumpf und dumm gemacht; sie rennen in ihr Verderben und werden zugrunde gehen, gedankenlos wie das Vieh.«
Diese Worte kamen aus dem Munde eines ältlichen Mannes, der aus einem Zelt hervortrat, in dessen Eingang er gestanden hatte. Er begrüßte die Abenteurer und stellte sich ihnen als der Arzt eines der verunglückten Schiffe vor. Sein Name war Joost, er gehörte in Holland zu Hause.
Er sprach seine Verwunderung über das Erscheinen des Schoners in diesen weltentlegenen Wassern aus, die doch nur von Walfischfängern aufgesucht würden.
»Walfischfänger aber seid Ihr nicht, das sehe ich sowohl Euch selber als auch Eurem Fahrzeug an«, sagte er, zu Friedrich gewendet.
Dieser gab zur Antwort, daß die »Seeschlange« auf einer Forschungsreise begriffen sei, was ja auch in gewissem Sinne der Wahrheit entsprach.
»Ein kühnes Unternehmen«, bemerkte der Doktor. »Gott behüte Euch vor ähnlichem Schicksal, wie uns zuteil geworden ist. Der letzte Sturm war schrecklich, aber nicht so furchtbar, wie jener erste vor einigen Wochen, der uns hier in diese Felsenbucht eingekeilt hat. Eine Strecke weiter nördlich liegen noch mehr Schiffe im Eise, wie unsere zerdrückt und seeuntüchtig, eins oder zwei ausgenommen.«
»Woher wißt Ihr das?« fragte der Steuermann.
»Wir stehen mit jenen Unglücksgefährten in regelmäßiger Verbindung«, berichtete der Doktor. »Jeden dritten Tag geht eine Post von hier sowohl wie auch von dort ab.«
Die jungen Bernsdorfs horchten auf.
»Dann habt Ihr Euch wohl darauf gefaßt gemacht, für immer hierzubleiben?« fragte Philipp.
»O nein, nein!« entgegnete der Doktor. »Die meisten von uns werden allerdings wohl nicht zurückkehren«, fügte er mit einem trüben Blick auf die johlenden und jauchzenden Matrosen hinzu. »Es ist herzzerreißend, Gentlemen; über zweihundert Menschen befinden sich hier und an jenem andern Orte in täglicher Lebensgefahr – denn wer kann wissen, wann das Eis aufbricht? – und unter dieser Zahl sind kaum zwanzig, die sich darum kümmern, was aus ihnen und ihren Gefährten werden soll ... Meine Stellung verpflichtet mich, bis zuletzt hier auszuharren, sonst bäte ich Euch –« zu Johann Bernsdorf gewendet – »mich in Eurem Schiffe mit nach einem bewohnten Lande zu nehmen.«
»Das sollte von Herzen gern geschehen. Seid Ihr schon öfter hier in diesen Gegenden gewesen?«
»Ja, solch ein Elend aber habe ich noch nie erlebt. Seht, da liegen sie – die ›Flora‹, die ›Rotterdam‹, der ›Rattler‹, vor kurzem noch schöne und seetüchtige Schiffe, jetzt Brennholz! Die ›Rotterdam‹ ist mein Schiff – gewesen. Seht sie Euch an.«
Die »Rotterdam«, ehemals ein Vollschiff, war dermaßen vom Eise zerdrückt und verstümmelt, daß man tatsächlich nicht mehr erkennen konnte, was an ihr vorn und was hinten war. Sie lag da, wie ein Haufen von Planken, Balken und Rundhölzern.
»Nur mit knapper Not rettete ich noch mein Leben«, fuhr der Doktor fort. »Das Eis brach an dem einen Ende meiner Kammer herein, und ich flüchtete, nur halb bekleidet, aus dem andern hinaus. Es ist nicht zu beschreiben!«
»Und all dies Unglück an einem Tage!« rief Karl.
»An einem Tage? Nein, junger Mann, in kaum zwanzig Minuten hatte sich die Katastrophe vollzogen, waren sämtliche Schiffe in Wracks verwandelt!«
Die Bernsdorfs standen erschüttert. Das war eine arktische Tragödie! Sie setzten ihren Rundgang noch eine Weile fort, dann machten sie sich auf den Rückweg. Doktor Joost folgte der freundlichen Einladung Johannes und begleitete sie an Bord der »Seeschlange«.
Hier wurde er reichlich bewirtet, und bald fand man auch die Gelegenheit, ihn mit dem Zweck der Reise des Schoners bekannt zu machen.
»Habt Ihr bei Euren früheren Fahrten in diesen Gewässern von der Edelsteininsel gehört, die hier in der Nähe liegen soll?« fragte Johann.
»Edelsteininsel«, wiederholte der Doktor sinnend. »Ja, gehört habe ich davon. Da sollen ja wohl Schätze verborgen liegen?«
»Ganz recht. Sie existiert also?« riefen die jungen Leute in Eifer.
»Ja. Ihr habt doch nicht etwa die Fahrt nur deswegen unternommen, um dieses vulkanische Felseneiland aufzusuchen?«
»Oh! Die Insel ist also ein Vulkan?« forschte Philipp.
»Das sagte ich nicht; aber vulkanischen Ursprungs soll sie sein. Wodurch ist sie Euch bekannt geworden?«
»Ein Seefahrer mit Namen Jackson setzte uns in den Besitz einer Anzahl von Papieren, die diese Insel betreffen. Er behauptete, daselbst Schätze entdeckt oder verborgen zu haben, ich weiß nicht, welches von beiden.«
»Jackson? Jackson? Hm, es gibt viele Jacksons. Da fällt mir aber ein, daß vor einigen Jahren eine Bande von Amerikanern diese Gegend hier unsicher machte, lauter Schurken und Spitzbuben – ja, und einer davon hieß Jackson. Sie spielten sich als Fangmänner auf, waren aber in Wirklichkeit nichts als Seeräuber. Sie raubten und stahlen, wo sie konnten, und mehrfach entgingen sie nur durch Zufall der Kugel. Ich dachte, die hätten längst am Galgen geendet.«
»Das sind die Leute«, sagte Johann. »Dieser Jackson hat sich später mit seinen Spießgesellen überworfen, wie es scheint. Unsere Jungen fanden ihn todkrank und nahmen sich seiner an. Ehe er starb, vertraute er ihnen das Geheimnis an, das er seinen Gefährten gegenüber sorglich bewahrt hatte.«
Nunmehr schilderte er dem Doktor kurz die Vorgänge in der verlassenen Petroleumstadt, und dann legte er ihm die Papiere vor.
Schweigend und aufmerksam vertiefte sich derselbe in die Dokumente. Auch die anderen schwiegen oder redeten nur im Flüsterton.
Endlich schaute der Doktor auf.
»Die Sache scheint korrekt zu sein. Der Berg mit der seltsam gefärbten Spitze ist mir bekannt; das kristallinische Gestein schimmert, wenn es schneefrei ist, zuweilen in allen Regenbogenfarben, zumeist aber rötlich und weißgrünlich. Jedoch –«
Er unterbrach sich und blickte lächelnd von einem zum andern.
»Ihr meint, daß wir hinter einem Phantom herjagen, nicht wahr?« sagte Friedrich Bernsdorf.
»Wenn Ihr es so ausdrückt, ja!«
»Aber die Insel und der Berg darauf sind doch da!« rief Hans.
»Ohne Zweifel.«
»Die Angaben der Papiere sind mithin soweit richtig«, bemerkt« Johann.
»Ganz gewiß.«
»Und Jackson hatte doch gar keine Veranlassung, uns zu täuschen«, sagte Karl.
»Das scheint so.«
»Nun, dann brauchen wir uns unsere Zuversicht nicht erschüttern zu lassen«, sagte Friedrich Bernsdorf mit Entschiedenheit. »Der Mann lag im Sterben, unsere Jungen erwiesen ihm die letzten Wohltaten, und er wollte sich dankbar zeigen. Jedenfalls hat er selber an das Vorhandensein der Schätze geglaubt.«
»Sehr möglich«, antwortete Doktor Joost. »Ich aber glaube nicht daran.«
»Verzeiht, aber das kann für uns, die wir unter dem Eindruck der persönlichen Begegnung mit Jackson stehen, nicht maßgebend sein«, entgegnete Karl.
»Das braucht's auch nicht«, lächelte Joost. »Ich kann mir aber nicht helfen, mir kommt die Sache vor wie eine der alten Piratengeschichten, die ich als Knabe gelesen habe.«
»So läßt sie sich auch an«, sagte Johann. »Wollt Ihr uns nach der Insel begleiten? Ist es von hier noch weit bis dahin?«
»Nein, eine Tagesfahrt. Die Insel liegt so dicht am Festlande, daß sie durch das Eis immerwährend mit demselben verbunden ist. Ihr Boden und Gestein ist vulkanisch. An einer Seite des Berges soll sich auch ein erloschener Krater befinden. Ich begleite Euch gern dahin, wär's auch nur der angenehmen Gesellschaft wegen. Jetzt aber möchte ich bitten, mich wieder ans Land, oder besser, ans Eis zu setzen.«
Die Jolle wurde an das Fallreep geholt, und Doktor Joost verabschiedete sich von seinen neuen Freunden.