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Das Fell des alten Methusalem. – Der amerikanische Adler. – Die Gelynchten.
Am folgenden Morgen machten Johann und Friedrich Bernsdorf sich auf die Fahrt nach Carlisle.
Lot und Hiob blieben, entgegen der ersten Abmachung, zurück.
Den jungen Leuten war dies sehr angenehm, da sie nun sämtlich an der Expedition nach Methusalems Hütte, wie Philipp sich ausdrückte, teilnehmen konnten.
Vergeblich versuchte Lot seine jungen Masters zurückzuhalten.
»Ihr werdet euch in Ungelegenheiten bringen«, sagte er zu Philipp. »Es wohnt ein Volk hier herum, dem ich nicht traue; auch sind der schielende Joseph und seine Spießgesellen in der Nähe. Bleibt lieber hier; Master Bernsdorf hat mir anbefohlen, euch im Auge zu behalten.«
»Was, mich, Lot?«
»Ja, Euch und alle die anderen.«
»Na, dann klettere nur auf den Hügel dort am Strande, damit du uns solange als möglich im Auge behalten kannst, denn wir werden gleich in einem Boot über die Bai fahren.«
Der Schwarze schüttelte mißbilligend den wolligen Schädel, konnte aber nicht verhindern, daß die vier vergnügt und unternehmungslustig von dannen zogen.
Ein Boot war bald aufgetrieben, und nach kurzer Fahrt landeten die jungen Leute am jenseitigen Strande.
»Verlaß dich darauf,« sagte Heinrich zu Philipp, als sie auf dem weißen Sande dahinschritten, »dieser Richard ist ein Betrüger. Ich habe in der Nacht noch lange über die ganze Sache nachgedacht, und der Gedanke hat sich immer mehr in mir befestigt.«
»Kann sein, daß du recht hast«, erwiderte der Angeredete. »Ich bin über Nacht in meiner ersten Ansicht auch etwas wankend geworden.«
»Was in aller Welt aber sollte ihn dazu bewogen haben, dem Vater und euch eine Komödie vorzuspielen?« rief Hans, der die Reden der beiden gehört hatte.
»Das weiß ich vorläufig noch nicht«, antwortete Philipp. »Wir werden's aber ergründen.«
»Jedenfalls behaupte ich, daß sein schneeweißes Haar nebst Bart falsch war«, sagte Heinrich.
»Hast du denn niemand im Verdacht?« fragte Hans.
»Nein«, antwortete Philipp. »Wir müssen abwarten und die Augen offen halten. Wir sind übrigens gleich da. Wenn das Nest leer ist, dann können wir mit Sicherheit annehmen, daß man uns einen Streich gespielt hat, denn gestern konnte sich der alte Mensch anscheinend keinen Schritt von der Stelle bewegen.«
»Ja, er tat, als wäre er so alt wie ein ausgegrabenes fossiles Megatherium«, sagte Heinrich. »Karl und Hans, seht ihr dort drüben am Ende des Dorfes die einzelne Hütte?«
Karl und Hans sahen die Hütte.
»Nun, da haben wir den Methusalem gestern gefunden. Wenn er wirklich ein alter Mann war, dann fresse ich meine Mütze!«
»Und ich meine Stiefel!« rief Philipp.
Unwillkürlich beschleunigte die kleine Schar ihre Schritte, bis sie auf kurze Entfernung von dem elenden Gebäude angelangt war.
»Wenn nun aber der Kerl unangenehm werden und auf uns losfahren sollte?« gab Hans zu bedenken.
»Mag er doch«, versetzte Philipp keck. »Wir sind vier gegen einen und außerdem bewaffnet. Hier ist mein Revolver, Heinrich hat auch seinen bei sich.«
»Leider haben wir, Hans und ich, unsere Schießeisen vergessen«, sagte Karl. »Da nun aber anzunehmen ist, daß jemand, der uns anzugreifen beabsichtigt, sich zuerst auf mich, als den Größten von uns, stürzen wird, so bitte ich Heinrich, mir seinen Derringer zu leihen.«
Heinrich murrte und zögerte ein wenig, dann aber händigte er dem Vetter die Waffe ein.
Karl steckte dieselbe zu sich, ging dann an die Tür der Hütte und pochte kräftig an.
Diesmal lud keine schwache, greisenhaft quäkende Stimme zum Eintritt ein.
Noch einmal pochte Karl, lauter als zuvor; als sich drinnen trotzdem nichts rührte, drückte er auf die Klinke und stieß die Tür auf.
Philipp näherte sich und lugte vorsichtig hinein.
»Niemand zu Hause?« rief er.
Keine Antwort.
»Vielleicht ist er auch inzwischen gestorben wie sein Freund Jackson«, sagte Hans leise.
Sie zögerten noch eine Minute, dann drängten alle auf einmal in die Tür.
Neugierig, gespannt flogen die Augen umher.
Die Hütte war leer!
Es fand sich nicht das geringste Anzeichen dafür, daß sie in letzter Zeit Bewohner gehabt hatte. Auf dem Herde keine Asche, nirgends eine Schlafstätte.
Das ganze Hausgerät bestand in einem alten Tisch, auf welchem eine leere Schnapsflasche stand.
»Ist das die Möglichkeit!« rief Heinrich. »Hier hat man seit gestern ordentlich aufgeräumt! Ich hab's ja gleich gesagt, daß der Kerl ein Humbug war! Philipp, was bringst denn du da ans Tageslicht? Meiner Seel, das Fell des alten Methusalem!«
Philipp hatte neugierig einen alten Wandschrank geöffnet und zog nun einen zerlumpten Frauenrock und eine weiße zottige Perücke, Kopfhaar und Vollbart, daraus hervor.
»Das Fell des alten Methusalem!« lachte Karl, eilig herantretend.
»Des fossilen Megatheriums, willst du sagen«, rief Hans.
»Die Maske des Spitzbuben, das wäre wohl das richtigste«, sagte Heinrich.
»Donnerwetter, der hat euch ordentlich hineingelegt!« nahm Karl wieder das Wort, während Philipp noch immer starr und stumm die Perücke emporhielt und dieselbe von allen Seiten, aber in Entfernung von Armeslänge, betrachtete. »Jetzt wird mir der ganze Schwindel auch klar; euch nicht auch?«
»Klar wie Torf«, brummte Heinrich, die Perücke wütend anstierend.
»Was kann der Kerl beabsichtigt haben, als er uns in solcher Vermummung betrog?« fragte Hans kopfschüttelnd.
»Die Sache ist doch sehr einfach, Kinder«, versetzte Karl. »Sagte Onkel nicht, er habe dem sogenannten allerältesten Mann die geographische Länge und Breite unserer Edelsteininsel mitgeteilt, daß aber der Schuft behauptet habe, diese Bestimmungen seien unrichtig? Erkennt ihr denn nicht, daß er uns dadurch auf eine falsche Fährte leiten wollte?«
»Wahrhaftig, Karl, du hast recht!« rief Heinrich. »Gewiß, er richtete eine Unmasse Fragen an meinen Vater, die dieser ihm auch ganz vertrauensselig haarklein beantwortet hat. Aushorchen also wollte uns der Halunke, und das ist ihm leider auch geglückt!«
»Leider!« wiederholte Karl. »Und wer hat denn ein Interesse an solcher Spitzbüberei? Na, geht euch nun ein Licht auf?«
»Mir ist's schon lange aufgegangen«, sagte Philipp, den Weiberrock und die Perücke grimmig in eine Ecke schleudernd. »Das saubere Kleeblatt, Jacksons Erben, Rechtsnachfolger und Testamentsvollstrecker, hat uns diesen Streich gespielt. Die Gauner konnten sich denken, daß wir hier auf Erkundigungen ausgehen würden, und da haben sie uns eine Falle gestellt.«
»In die ihr, Onkel Friedrich, du und Heinz, auch hineingetappt seid«, bemerkte Hans trocken.
»So ist's«, nickte Heinrich. »Davon wäscht uns der ganze Ozean nicht rein. Aber wart' nur, wir kriegen die Banditen, den schielenden Joseph und seine Spießgesellen, wohl noch einmal unter die Finger, und dann ...«
» Well, und wenn ihr sie habt, was dann, mein Junge?«
Ein gewaltiger Schreck, als wäre der Blitz unter sie gefahren, durchzuckte die Knaben.
Sie wendeten sich um.
In der Tür stand einer der Yankees, die an jenem Abend in Bernsdorf City die Herausgabe des Jacksonschen Nachlasses verlangt hatten.
Der Beschreibung nach, die der Werkmeister des Mr. Robert Bates von den drei Gaunern gegeben, war es der Mann, der den Namen Loskins führte.
Die Knaben waren von dem unerwarteten Erscheinen desselben so überwältigt, daß sie zunächst keine Worte der Erwiderung finden konnten.
» Well,« begann der Mann aufs neue, »seid ihr stumm? Habt ihr keine Mäuler? Könnt ihr auf eine höfliche Frage keine Antwort geben? Da bin ich, was wollt ihr nun mit mir anfangen? Soll ich erschossen oder gefoltert werden, und wollt ihr meinen Freund etwa aufhängen? Antwortet, ihr junges Kroppzeug!«
Die letzten Worte wurden in einem drohenden, befehlshaberischen Tone gesprochen, allein die Knaben schwiegen noch immer.
»Nun, wird's bald? Oder soll ich euch die Zungen lösen?«
Jetzt nahm Karl Bernsdorf das Wort. Eine zornige Röte färbte die Wangen des Jünglings, und aus seinen blauen Augen blitzte ein trotziger Mut.
»Ihr habt unsere Unterhaltung belauscht und könnt Euch nun daraus entnehmen, was Ihr wollt«, sagte er, einen Schritt vortretend. »Ihr und Euer Genosse habt uns schmählich getäuscht und betrogen, das soll Euch nicht vergessen werden!«
»Ei, hört doch, wie der Vogel singen kann!« höhnte der Yankee. »Geht nur nicht zu hart mit uns ins Gericht, Master Grünschnabel! Ihr wollt uns wohl graulich machen? Wollen doch hören, was mein Freund dazu sagen wird.«
Dieser Freund war inzwischen ebenfalls in der Tür erschienen. Er hielt die Hände in den Hosentaschen, woselbst auch seine Revolver steckten, wie man an den Umrissen erkennen konnte.
Die meisten Yankees tragen die Schußwaffen in Taschen, die hinterwärts der Hüften angebracht sind; diesem Banditen aber waren die Hosentaschen handlicher.
Die Knaben erkannten in ihm den bereits geschilderten Christian Nelson. Der dritte im Bunde, der schielende Joseph, schien heute anderweitig in Anspruch genommen zu sein.
Nelson schlenkerte langsam in das Gemach herein, schob den breitrandigen Hut aus dem Gesicht in den Nacken und schaute die Knaben der Reihe nach an.
»Sprachst du eben von mir, Lossy?« fragte er. »Da bin ich. Guten Tag, Gentlemen.«
Der letzte Gruß galt den Knaben, die denselben jedoch unerwidert ließen.
»Ja, von dir sprach ich«, antwortete Loskins. »Ich wollte dich sogar eben rufen. Denke dir, diese jungen Skunks haben meine stille Häuslichkeit entweiht, meine Schränke durchwühlt und meine sorgfältig gehüteten Kostbarkeiten herausgeworfen. Meine Geheimnisse – da liegen sie, in der Ecke! Dafür haben wir allerdings jetzt auch ihr Geheimnis ... ich meine das von der Edelsteininsel, Nel.«
»Ja, das haben wir«, antwortete Nelson. »Wir sind bei diesem Austausch der Geheimnisse besser weggekommen als sie. Aber was wolltest du von mir?«
»Oh, nicht viel, nur beraten, was mit diesen jungen Skunks jetzt geschehen soll. Es wäre eigentlich schade, wenn wir sie ganz kaputt machten.«
Die Knaben hatten mittlerweile ihre Fassung wiedergewonnen. Anfänglich war der Schreck ihnen ein wenig in die Glieder gefahren, jetzt aber wuchsen ihnen aufs neue Mut und Zuversicht. Dieser Nelson, dessen bärtiges Gesicht durchaus nichts Abstoßendes aufwies, der sogar recht freundlich und gemütlich dreinschaute, konnte nichts Arges im Sinne haben.
Ein eisiger Schauer durchrieselte sie daher, und sie meinten, ihren Ohren nicht trauen zu sollen, als derselbe auf seines Genossen Worte erwiderte:
»Nein, abkehlen wollen wir sie nicht, aber das Los ziehen sollen sie, und wer das kürzeste zieht, der muß den amerikanischen Adler machen.«
»Wagt es, Hand an uns zu legen!« rief Karl, die Hand an den Revolver legend, den er von Heinrich erhalten hatte. »Gebt uns den Weg frei und laßt uns hinaus, oder ...«
»Bitte, junger Mann, die Pistole laßt stecken«, entgegnete Nelson. »Es könnte Euch leid tun, meine Kugel fehlt nämlich niemals.«
Karl zog die Hand zurück, innerlich froh, nicht zum Äußersten schreiten zu müssen.
Die anderen Knaben vermochten vor Empörung und unbestimmter Furcht keine Worte zu finden; sogar Philipp, der sonst so vorlaut zu sein pflegte, verhielt sich ganz still, dafür aber beobachtete er die Vorgänge um sich her desto schärfer.
»Also, boys, wir losen«, fing Nelson wieder an. »Rühr' dich, Lossy, und schaffe zur Stelle, was nötig ist, ich halte hier die Wache.«
Loskins gehorchte, ging hinaus und kam gleich darauf wieder mit vier dürren Grashalmen zurück.
Während er sich mit denselben zu schaffen machte, hielt er in nicht mißzuverstehender Weise sein langes Messer zwischen den Zähnen.
Nelson öffnete eine kleine, in den engen Hofraum führende Tür und befahl den Knaben durch einen Wink, sich dorthin zu begeben.
Die aber zögerten, leise und eifrig untereinander flüsternd.
»Was mögen sie mit uns vorhaben, Karl?« fragte Philipp.
»Keine Ahnung«, antwortete Karl. »Was meinst du, Hans?«
»Noch weniger Ahnung; wir sind wieder einmal in einer Falle, soviel ist sicher.«
»Bitte, Gentlemen, beeilt euch, if you please«, mahnte der höfliche Nelson.
Gehorsam, weil ihnen nichts anderes übrigblieb, traten die vier auf den kleinen Hof hinaus, der rings von einem hohen Zaun umgeben war.
»So ist's recht. Lossy, wo bleibst du mit den Losen?«
»Bin schon da.«
Damit erschien auch der lange Loskins im Hofe.
»Hier, boys«, sagte er, den Knaben die Faust mit den Halmen vorhaltend. »Zieht, einer nach dem andern; wollen sehen, wer mit dem kürzesten sitzenbleibt.«
»Wozu?« entgegnete Hans. »Das fällt uns gar nicht ein. Wir raten Euch, uns ungehindert unserer Wege gehen zu lassen; unsere Freunde und Angehörigen müssen jeden Augenblick hier sein.«
»Was, ihr wollt uns drohen?« rief Loskins mit wild funkelnden Augen. »Du, Nel, was meinst du, sollen wir sie gleich über den Haufen schießen? Wir haben sowieso nicht viel Zeit zu verlieren.«
»Nein, sie müssen losen. Nehmt Vernunft an, Gentlemen, und tut, was euch geheißen wird, sonst« – hier zog er beide Revolver aus den Hosentaschen – »sonst müßt ihr alle fallen, wo ihr steht. Wir lassen euch ja noch einen Ausweg, seht ihr denn das nicht ein? Heute abend gehen wir in See und hoffen, dank eurer gütigen Informationen, die Edelsteininsel noch vor euch zu erreichen. Seid so freundlich – ich meine die drei, die von euch am Leben bleiben werden – euren Vätern Christian Nelsons Empfehlungen zu überbringen. So, nun an die Lose.«
Loskins erhob wiederum die Faust mit den Grashalmen.
»Wer das kürzeste zieht, aus dem machen wir den amerikanischen Adler und schießen dann nach ihm, bis er so viel Löcher im Fell hat, daß seine Seele bequem rausfliegen kann«, sagte der Bandit mit teuflischem Grinsen.
Die Knaben erbleichten.
Angebunden zu werden, wie man eine tote Eule ans Scheunentor nagelt, und dann von diesen Mordgesellen nach sich schießen zu lassen!
Welch ein grausiger Tod!
Oh, wie inbrünstig beteten sie zum Himmel um Errettung aus dieser furchtbaren Gefahr!
»Zieht!« befahl Nelson, die Revolver schußfertig erhoben.
»Will's Gott, dann fällt mir das kürzeste Los zu«, sagte Heinrich leise. »Ich bin der Jüngste und noch nicht viel nütze. Laßt mich anfangen, Bruder und Vettern!«
Und das bittere Wehgefühl, das ihm in die Kehle stieg, tapfer niederkämpfend, zog er einen der Grashalme aus des Banditen Faust. Der Halm kam länger und länger zum Vorschein. Mit stockendem Atem schauten die anderen zu. Das Los war ein langes. Vorderhand war Heinrich also sicher.
»Diesmal kommst du noch so davon«, brummte Loskins. »Nun, ihr andern, heran!«
Der zweite, der die Hand nach den Losen ausstreckte, war Karl.
Er war bleich, aber todesmutig, und seine Hand bebte nicht.
Er zog einen kurzen Halm.
»O Gott!« riefen die andern. »O Karl! Karl!«
»Was wollt ihr? Mir ist's recht«, sagte er, mit einem leisen Zittern in der Stimme. »Ich werde nicht zucken.«
»Laßt das Geschwätz und zieht!« gebot Nelson.
Hans und Philipp nahmen die letzten Lose. Der Halm, den Hans gezogen, war länger als der Karls; Philipps Los aber war das kürzeste von allen, kaum einen Zoll lang.
Philipp also mußte dem grausen Verhängnis anheimfallen!
Die Empfindungen, die in des braven Knaben Brust emporwallten, sind nicht zu beschreiben.
Er schaute auf das Stückchen Gras nieder; er vermochte es vor Tränen nicht zu erkennen.
»Karl,« sagte er, »mein Herzensbruder, ich muß das Opfer sein. Ich freue mich um unseres guten Vaters willen, daß du erhalten bleibst. Komm, Bruder, küsse mich! Vergib mir, ich habe dich oft gekränkt. Auch ihr, Hans und Heinrich, vergebt mir und denkt an mich nur in Liebe. Ach, ich habe euch alle ja so von Herzen liebgehabt ... Lebt wohl, grüßt mir den guten Vater und den lieben Onkel!«
Karl und die Vettern wollten ihn unter Tränen umarmen, die Banditen stießen sie jedoch zurück.
»Nichts da!« rief Loskins. »Es hat sowieso schon viel zu lange gedauert!«
»Ich bin bereit!« klang Philipps helle, tapfere Stimme. »Heran, ihr Mordbuben, ihr elenden Feiglinge! Ich will euch zeigen, wie ein deutscher Knabe zu sterben weiß!«
Verzweiflungsvoll griff Karl aufs neue zum Revolver. Die drohende Miene des in Anschlag liegenden Nelson aber hielt ihn abermals zurück. Stöhnend ließ er die Hand sinken ... er durfte das Leben seiner Vettern nicht auch noch aufs Spiel setzen.
»Binde ihn an, Lossy,« sagte Nelson zu seinem Genossen, »aber tu ihm nicht weh! Hefte ihn dort an den Zaun, und dann binde auch die andern!«
»Was!« schrie Karl in Wut. »Wollt ihr uns alle ermorden?«
»Nicht doch, junger Mann«, lächelte Nelson. »Nur eurer versichern wollen wir uns, damit ihr uns nicht hinderlich werdet, wenn wir hernach abreisen. Wenn eure Angehörigen euch finden, dann werdet ihr allerdings wohl etwas hungrig und durstig sein.«
Inzwischen hatte Loskins Stricke und zwei Pfähle irgendwo hergeholt. Er faßte Philipp beim Arm und stellte ihn mit dem Rücken gegen den Zaun; dann streckte er des Knaben rechten Arm aus und schnürte denselben am Handgelenk und in Kopfhöhe an den Zaunlatten fest; dasselbe tat er mit Philipps linkem Arm. Hierauf schlug er die beiden Pfähle in den Erdboden und fesselte an jeden einen von Philipps ausgespreizten Füßen. In dieser Stellung, die ebenso unbequem wie schmerzhaft war, und die die Banditen den amerikanischen Adler nannten, erwartete der arme Knabe den Tod.
Bei der Prozedur des Bindens war kein Laut seinen Lippen entschlüpft.
Wohl war sein hübsches Antlitz blaß und tränenfeucht, wohl blickte sein Auge in flehender Klage zum Himmel empor, wohl zuckte es ihm wehevoll um den Mund, allein kein Seufzer, keine Bitte um Gnade entfuhr ihm.
Mit den gespreizten Armen und Beinen bildete er die Form des Buchstaben X.
Sein Kopf wurde durch eine unter der Kehle durchgehende Schlinge festgehalten.
Knirschend vor Grimm und Schmerz, mit wütend geballten Fäusten hatten die anderen Knaben dieser schmachvollen Fesselung zugeschaut.
Als Loskins zurücktrat, um sein Werk zu betrachten, sprangen alle wie auf Kommando vorwärts und stellten sich schützend vor Philipp.
»Christian Nelson,« rief Karl, seiner selbst kaum noch mächtig, »Ihr dürft und sollt dies nichtswürdige Verbrechen nicht ausführen! Wir haben Euch kein Leid getan, weder in Worten noch in Taten! Warum wollt Ihr meinen unschuldigen Bruder abschlachten? Kennt Ihr keine Barmherzigkeit?«
»Wenn Ihr nicht auf die Seite tretet, junger Mann, dann jage ich Euch eine Kugel ins Gehirn, ehe Ihr noch Pips sagen könnt! Lossy, gib ihm einen Tritt, daß er aus dem Wege fliegt!« Loskins kam herzu, um die erhaltene Weisung buchstäblich auszuführen. Da aber versetzte Karl ihm einen solchen Faustschlag gegen die Kinnbacken, daß er zur Seite taumelte und dann hinstürzte, so lang er war.
Nelson lächelte hämisch, rührte sich aber nicht.
»Wenn ich in Eurer Stelle wäre, dann nähme ich mich jetzt vor Lossys Messer in acht«, sagte er zu dem tapferen jungen Manne.
Karl trat einige Schritte zurück, des Angriffs des Banditen gewärtig. Hans und Heinrich hielten sich dicht in seiner Nähe.
Loskins hatte sich wieder aufgerafft und machte Miene, sich auf seinen Angreifer zu stürzen.
»Halt!« rief Nelson. »Das hat Zeit, Loskins! Einer nach dem andern. Den kannst du später abfertigen.«
Unwillig und fluchend ließ der Bandit von seinem Vorhaben ab und begnügte sich, seinem Widersacher grimmig mit dem langen Messer zu drohen.
Dann trat eine Totenstille ein, denn Nelson hatte seinen Revolver gegen Philipp erhoben.
Karl, Hans und Heinz bedeckten die Augen mit den Händen und jedem war, als würde auf sein eigenes Leben gezielt.
Fürchterliche Sekunden vergingen ...
Minuten ...
Der Bandit wußte, welche Höllenqualen er den armen Knaben bereitete, das war aus dem teuflischen Lächeln zu erkennen, das sein Gesicht verzerrte.
Draußen erhob sich Hundegebell, ein tiefes, dröhnendes, wütendes Gebell ...
Da krachte der Schuß!
Die Kugel durchschnitt unmittelbar unter Philipps rechtem Ohr die Schlinge, die seinen Kopf an den Zaun gefesselt hatte.
Im nächsten Moment sprang mit mächtigem Satze ein großer Wolfshund über den Zaun in den Hof herein.
Heulend vor Grimm stürzte er sich auf Nelson und packte ihn am Halse.
Der Wolfshund war Troll.
Fast in demselben Augenblick, von dem gleichen Impulse getrieben und von frischer Hoffnung wie elektrisiert, warfen Karl, Hans und Heinrich sich auf Loskins und überwältigten ihn, ehe er noch von seinem Messer oder Revolver Gebrauch zu machen vermochte.
Der lange Schurke rollte am Boden, fluchend, schäumend und mit aller Kraft gegen die Knaben ringend, die ihm die Waffen entrissen hatten und ihn nun in unbeschreiblicher Empörung mit Fäusten und Füßen bearbeiteten.
Nelson versuchte vergeblich den Hund, der an seinem Genick hing, mit einem Schüsse zu treffen; er wäre übel zugerichtet worden, wenn jetzt nicht Lot und Hiob auf dem Schauplatze erschienen wären.
» Down (nieder), Troll!« rief der erstere dem Hunde zu.
Troll gehorchte auf der Stelle, ließ den Banditen los und duckte sich nieder, dabei jedoch keinen Blick von feinem Opfer verwendend und drohend die Fangzähne weisend.
»Hilf den jungen Masters und binde den Kerl, Hiob,« befahl Lot weiter, »ich werde den anderen hier dingfest machen!«
Nelson, von dem Hunde und der unerwarteten Wendung der Dinge eingeschüchtert, ließ sich ohne Widerstand von dem Schwarzen die Hände auf den Rücken binden, und als dies geschehen war, lag auch Loskins, gefesselt und windelweich geschlagen, regungslos und keuchend am Boden.
Wieder wurden innerhalb der Hütte hastige Schritte vernehmbar, und Johann und Friedrich Bernsdorf kamen eilig in den Hof.
Im Nu hatten sie die Sachlage überschaut und erkannt, und ohne ein Wort zu verlieren, machten sie sich daran, Philipp vom Zaune loszubinden.
»Mein armer, lieber Junge!« rief Vater Johann, den Erretteten an sein Herz schließend.
Der arme Knabe war leichenblaß und konnte sich kaum auf den Beinen erhalten.
Er hatte eine furchtbare Prüfung überstanden, aber kein Laut war während derselben über seine Lippen gekommen.
Aus einer Umarmung wurde er in die andere gerissen, und die Liebkosungen der anderen Knaben waren so stürmisch, daß er endlich doch nicht umhin konnte, wieder zu lächeln; damit aber war die fürchterliche Nervenerregung, die ihn fast gelähmt hatte, überwunden.
Die Kugel des Mordgesellen hatte ihm das Ohrläppchen gestreift, so daß einige Blutstropfen flossen. Die geringste Bewegung des Kopfes nach rechts hätte ihm das Leben gekostet.
Johann Bernsdorfs muskelstarken Körper durchrieselte ein Schauer bei diesem Gedanken, und noch einmal preßte er den geliebten Sohn innig an sein Herz.
Inzwischen hatte sein Bruder Friedrich die Gefangenen gemustert.
»Wer sind die Kerle, und was ist hier vorgegangen?« fragte er Karl.
»Die Spießgesellen und Helfershelfer des schielenden Joseph sind's«, antwortete der Jüngling. »Der mit dem falschen Ziegenbart ist Loskins, der andere ist Christian Nelson.«
»Die Erben, Rechtsnachfolger und Testamentsvollstrecker des Meergreises Jackson«, rief Philipp lachend. Der unverwüstliche Knabe hatte sich beinahe schon wieder ganz erholt. »Wir wollten den alten Methusalem noch einmal besuchen, fanden aber nur noch sein Fell vor, das heißt, die weiße Perücke, mit deren Hilfe er den Urgreis gespielt hatte, und als wir uns über den nichtswürdigen Betrüger noch moralisch entrüsteten, da kamen diese beiden Gauner hinzu. Der da, der Loskins, hat in der Verkleidung den Methusalem gemimt und dem Onkel Friedrich die geographische Lage der Insel abgelockt.«
Friedrich Bernsdorf biß sich auf die Lippen, und man sah ihm an, daß er sich beherrschen mußte, um dem Halunken nicht einen Fußtritt zu versetzen.
»Komm Bruder,« sagte er zu dem Farmer, der die Gefangenen mit drohenden Blicken betrachtete, »komm, Bruder, laß uns diesen Ort verlassen, damit wir nicht in die Versuchung geraten, ein Unrecht zu begehen.«
»Sollen diese Schurken unbestraft bleiben?« entgegnete der Farmer finster.
»Es wird nichts anderes übrigbleiben«, versetzte Friedrich. »Wenn wir sie wegen Bedrohung und versuchten Mordes dem Gericht überliefern, dann müssen wir vielleicht noch monatelang an Ort und Stelle bleiben, um Zeugnis abzulegen, sooft dies gewünscht wird; dazu aber haben wir, denke ich, keine Zeit übrig.«
»Hast recht, Bruder. Lot und Hiob, schnürt die Kerle noch ein wenig fester und dann laßt sie hier liegen, den einen in dieser, den andern in jener Ecke. Dann kommt uns nach; wir machen uns wieder auf den Rückweg.«
» All right, Master Johann«, antwortete Hiob. »Sollen wir die schlechten Subjekte, die den armen Master Philipp so gepeinigt haben, nicht vielleicht auch noch ein wenig lynchen?«
Der Farmer zuckte die Achseln.
»Meinetwegen«, sagte er. »Einen Denkzettel könnt ihr ihnen geben, aber macht's nicht zu arg. Vor allem sorgt dafür, daß der eine nicht zum andern hinkriechen kann, sonst befreien sie sich von ihren Fesseln.«
»Wird gemacht, Master Johann. Nicht wahr, Lot?«
»Ja, Hiob, wird gemacht.«
Nelson und sein Genosse lagen am Boden, schäumend in ohnmächtiger Wut.
Es ist nicht anzunehmen, daß ersterer wirklich die Absicht gehabt hatte, Philipp zu töten. Er war ein so sicherer Schütze, daß er dies unfehlbar auf den ersten Schuß hätte tun können, wenn er gewollt hätte. Wohl aber hatte er dem Knaben eine Tortur zugedacht, die in satanischer Grausamkeit ihresgleichen suchte, und die wohl geeignet gewesen war, den armen Jungen schon durch die Todesangst allein ums Leben zu bringen.
Johann und Friedrich Bernsdorf verließen den Hof und die Hütte, gefolgt von den Knaben, die zwar gar zu gern abgewartet hätten, welche Strafe die Farbigen für die Missetäter noch in petto hatten, dem gemessenen Befehl ihrer Väter aber nicht zu widersprechen wagten.
Troll blieb zurück, knurrend und zähnefletschend an dem Ausgang des Hofes Posten stehend.
Als Lot und Hiob sich allein sahen, setzten sie sich auf ein Stück Balken, das im Hofe lag, und betrachteten grinsend die Gefesselten.
»Du, Skunk,« begann der Schwarze, Nelson mit der Spitze seines Stiefels in die Rippen stoßend, »wir wollen euch aufhängen. Fürchtest du dich zu sterben?«
»Ja, du Skunk, aufhängen wollen wir euch«, nickte Hiob dem langen Loskins zu. »Oh, du meine Güte, wenn ich so ein Schuft und dabei meinem letzten Stündlein so nahe wäre wie du, ich würde mir alle Knochen aus dem Leibe bebern!«
Die Gefangenen erbleichten.
Loskins sagte kein Wort, Nelson aber entgegnete:
»Laß die schlechten Scherze, Schwarzer. Ich denke noch ein paar Jährlein zu leben, also gib dir keine Mühe. Leute ohne Urteilspruch hängen, ist Mord, vergiß das nicht.«
»Du irrst, Skunk«, versetzte Lot ruhig. »Schufte, wie ihr seid, hängt man nach dem Lynchgesetz jederzeit wo und wie man kann.«
»Ihr werdet euch trotzdem noch besinnen, wenn ich sage, daß ich euch mein und meines Freundes Leben für tausend Dollars abkaufen will.«
»Können wir nicht machen, können wir, Bruder Hiob?«
»Nein, Bruder Lot, können wir nicht machen, haben keine Spitzbubenleben zu verkaufen.«
»Da hörst du's, Skunk«, sagte Lot aufstehend und eine starke Schnur aus der Tasche ziehend.
Er maß die Schnur ab und teilte sie durch einen Schnitt in zwei Teile.
Dann schaute er sich bedächtig im Hofe um.
Jenseits des Zaunes stand ein Baum, der mit einigen Ästen in den Hof hereinragte.
Er trat hinzu und prüfte die Äste mit seiner starken Faust.
»Die tun's, Hiob, meinst du nicht?«
Der Schwarze wendete sich den Gefesselten zu und musterte dieselben mit rollenden Augen. Dann packte er Nelson am Kragen, riß ihn empor, als sei er federleicht und stellte ihn auf die Füße.
»Wolltest noch ein paar Jährlein leben, du Schuft, um noch recht viel ehrliche Leute umzubringen, nicht wahr? Damit wird's nun nichts, siehst du. Komm her, Bruder Hiob; hilf mir den Burschen an diesen Ast hängen.«
»Erbarmen!« heulte der Elende. Sein Gesicht war grünlich bleich und verzerrt.
»Gibt's nicht, Skunk. Hast du mit dem armen Master Philipp Erbarmen gehabt?«
Damit legte Lot ihm die Schlinge um den Hals und warf das andere Ende der Schnur über den Ast.
»Heb' ihn auf, Hiob«, gebot er.
Der Mulatte packte den aus allen Kräften Zappelnden mit seinen muskulösen Armen um den Leib und hob ihn empor ...
Im nächsten Augenblick hing der Gelynchte an dem Aste, die Füße nur wenige Zoll vom Boden entfernt.
»Jetzt den andern, Bruder Hiob ...«
Fünfzehn Sekunden später hing Loskins, drei Fuß von seinem Spießgesellen, ebenfalls an dem Baume.
»Nun aber wollen wir machen, daß wir fortkommen, Bruder Hiob«, sagte Lot, einen letzten Blick auf die Baumelnden werfend, die sich schrecklich hin und her wanden »Wir sind hier nicht auf amerikanischem Boden, sondern in Kanada, und die dummen Engländer verstehen nichts vom Lynchgesetz. Man darf uns daher hier nicht erwischen.«
Sie nahmen die Büchsen über die Schultern und eilten davon.
Troll beschnupperte die Gehängten anscheinend hoch befriedigt und folgte seinen Freunden dann in langen Sätzen und mit fröhlichem Gebell.