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» Come in«. – Der unheimliche Alte. – »Topase, Onyxe und auch Diamanten!« – Hunde und Katze». – Das Vermächtnis des Meergreises.
Die Stadt war von ihren Einwohnern aufgegeben und verlassen worden, darüber konnte kein Zweifel mehr obwalten. Dieses Erlebnis und der so kurz vorher gelesene Zeitungsbericht über jene verödeten Eisenbahnstädte bildeten ein eigentümliches Zusammentreffen.
Die stillen Straßen machten einen unheimlichen Eindruck.
Die Häuser und sonstigen Bauten, zumeist aus Holz errichtet, schauten mit den leeren Fensterhöhlen in den Sonnenschein wie augenlose Totenschädel, auch ebenso schweigsam wie diese.
Und dennoch erblickte man noch allenthalben zahlreiche Spuren lebhaftester menschlicher Tätigkeit. Da lagen Haufen eiserner Röhren, allerlei Maschinenteile, Dampfkessel, teils alt und rostig, teils noch ungebraucht, und allerlei sonstige Gegenstände, die zum Betriebe von Pump- und Bohrwerken gedient haben mußten.
In dem Grase, das die Straßen überwucherte, gewahrte man Rinnen, in denen Petroleum geflossen sein mußte, das so kostbare Erdöl aber hatte aufgehört zu strömen, die Quellen waren versiegt, das Unternehmen war ein Mißerfolg gewesen, die Stadt eine verfehlte Spekulation.
Der Ort, wo vor kurzem noch ein so lautes Leben geherrscht hatte, lag jetzt verödet, verlassen, tot!
Langsam schlenderten die Knaben durch die Straßen.
»Ein kurioses Nest«, begann Heinrich. »Es erinnert mich an die Gräberstädte, von denen ich einmal gelesen habe, wo in den Gebäuden zu beiden Seiten der Straßen die Toten beigesetzt sind. Lange kann übrigens der Ort noch nicht verlassen sein.«
»Woraus willst du das schließen?« fragte Philipp. »Vielleicht weil der Dampfkessel dort erst so wenig verrostet ist? Das macht das Petroleum, das verhindert die Oxydation, wie du weißt.«
»An den Dampfkessel dachte ich nicht, wohl aber an die Katzen, die noch gar nicht verwildert sind. Außerdem aber war der Schinken noch durchaus genießbar, was gewiß der beste Beweis für die Richtigkeit meiner Annahme ist.«
»Du magst recht haben, Heinz. Da wundert es mich aber, daß wir auf unserer Fahrt keinem der Weggezogenen begegnet sind. Aber komm, laß uns jetzt einen Blick in das Innere einiger dieser Häuser werfen, vielleicht finden wir noch etwas, das des Mitnehmens wert ist. Ich bin nämlich der Ansicht, daß wir uns jetzt hier als Herren und Besitzer betrachten können.«
»Das wird uns wohl niemand wehren, Vorteil aber wird es uns auch nicht bringen. Ich hoffe sehnlichst, daß Vater und Onkel bald hier eintreffen möchten; es ist mit Sicherheit anzunehmen, daß auch sie die Feuersäule erspäht haben, die uns hierhergeführt hat, meinst du nicht auch?«
»Gewiß, Philipp, darauf rechne ich sogar mit Bestimmtheit, sonst würde ich mich nicht so ruhig fühlen.«
Sie betraten und durchforschten eine ganze Anzahl der durchweg nur kleinen, einstöckigen Häuser.
Einige waren noch möbliert und mit sämtlichem Hausgerät versehen, andere standen ganz leer.
Ihre besondere Aufmerksamkeit erregte eines derselben, das kleinste von allen. Es war wenig besser als eine roh zusammengeschlagene Bretterhütte.
Die Haustür führte direkt in ein Gemach, das von einer seefahrenden Persönlichkeit bewohnt gewesen sein mochte, denn an den unbekleideten Wänden hingen einige alte Seekarten, auf dem Tische lag ein mit Grünspan überzogenes Schiffsteleskop, und in einer Ecke stand eine sogenannte Seekiste, ein hölzerner Kasten, in welchem die Matrosen ihre Habseligkeiten mit sich zu führen pflegen.
Der Deckel dieser Kiste war mit den Buchstaben M. J. J. gezeichnet.
Auch die sonst noch vorhandenen Gegenstände sprachen dafür, daß der ehemalige Bewohner der Hütte eine Vorliebe für das Seewesen gehabt haben müsse, wenn er nicht gar selber ein Seefahrer gewesen war.
Eine zweite Tür führte in ein Nebengemach.
An derselben war ein Stück Papier befestigt, auf dem zu lesen war: » Come in! (Tretet ein!)«
Heinrich mußte beim Anblick dieses Zettels lachen.
» Come in!« rief er. »Das ist eine Einladung, die wir nicht ausschlagen dürfen, wenn wir Anspruch auf Wohlerzogenheit machen wollen. Komm, Philipp.«
Damit öffnete er die Tür und trat über die Schwelle.
Philipp folgte ihm nicht sogleich, da er noch allerlei Krimskrams zu betrachten hatte.
Da kam sein Vetter plötzlich eiligen Schrittes wieder zurück und flüsterte ihm erregt und erschrocken ins Ohr:
»Da ist ein Mann!«
»Wo?« fragte Philipp.
»Dort im Nebenzimmer – ein alter Greis.«
»Tot oder noch lebendig?«
»Das weiß ich nicht. Ich glaube aber, daß er lebt, denn mir kam vor, als bewege er sich, als ich eintrat. Genau habe ich das allerdings auch nicht gesehen, denn ich kriegte einen solchen Schreck, daß ich gleich wieder umkehrte.«
»Vielleicht ist er dem Tode nahe vor Hunger – laß uns hineingehen, Heinz.«
»Wär's nicht besser, wir überlegten uns das erst?« sagte Heinrich vorsichtig. »An solchen verdächtigen Orten soll man keinem Menschen trauen. Wer weiß, vielleicht haben die anderen ihn hiergelassen, weil er verrückt und gemeingefährlich ist; vielleicht schießt er nach uns, wenn wir uns sehen lassen.«
»Das ist nicht anzunehmen«, entgegnete Philipp. »Sie werden ihn im Stich gelassen haben, weil er alt und krank ist; die Hartherzigen wollten sich eine solche Last nicht aufbürden. Verlaß dich darauf, er ist ganz ungefährlich und hilflos, darum hat er auch den Zettel dort an die Tür geklebt.«
Ohne länger zu zögern ging er auf die Tür zu; furchtlos trat er ein.
Vor ihm, auf einem niedrigen Lager aus Brettern und Stroh, lag ausgestreckt ein Mann, dessen schneeweißes Haupt- und Barthaar Zeugnis von seinem hohen Alter gaben.
Seine Augen waren geschlossen, sie öffneten sich auch nicht, als die Knaben an das Lager herantraten und ihn betrachteten.
Philipp glaubte daher anfänglich, daß der Alte entweder taub sein oder wirklich im Sterben liegen müsse.
Als er jedoch jetzt noch näher herzutrat, da gewahrte der Greis seine Gegenwart und schaute auf.
Langsam und mit Anstrengung wendete er das Gesicht den Eingetretenen zu, dann erhob er die abgezehrte, bebende Hand und deutete auf seinen Mund.
Philipp sprang eilfertig hinaus und kehrte gleich darauf mit einem Topfe voll Wasser zurück. Die Pumpe stand, wie er zuvor gesehen hatte, an der nächsten Straßenecke. Den Topf hatte er im anderen Zimmer schnell gefunden.
Der alte Mann trank mit der Gier eines Verschmachtenden.
»Hungrig?« fragte jetzt Heinz auf englisch mit sehr lauter Stimme.
Der Leidende sah mit ungewissen Blicken zu dem Jüngling empor.
»Seid Ihr hungrig?« wiederholte dieser noch lauter.
Der Greis schüttelte langsam den Kopf.
»Krank?« fragte jetzt Philipp, einen Schemel herbeiziehend und sich am Bette niederlassend.
Der alte Mann murmelte etwas, von dem nur die Worte »alle fort« verständlich waren.
»Alle fort?« wiederholte er, erst Philipp und dann Heinrich anblickend.
»Ja, sie sind alle fort«, rief Philipp ihm zu. »Die Stadt ist verlassen und leer.«
»Wer seid ihr?« fragte der Greis mit deutlicher werdender Stimme.
»Wir sind Fremde aus Karolina. Wir haben uns verirrt.«
»Verirrt, sagtet ihr?«
»Ja, wir haben unsere Reisegefährten verloren.«
»Reisegefährten?«
»Ja, die haben wir verloren.«
»Oh, verloren ... ja, ja, verloren ...«
Die Stimme des Alten erstarb zu einem dumpfen Gemurmel, während seine Hände ziellos auf der alten Decke herumtasteten, unter der er lag.
»Ihr segeltet nach Norden,« fing er von neuem an, »ja, ja. Wart ihr allein auf der Fahrt, oder segelten noch andere Fahrzeuge mit euch?«
»Wir befanden uns in der Gesellschaft unserer Väter und Brüder. Wir haben die Karawane im Walde verloren, wir hoffen aber, daß sie den Weg hierher nehmen wird.«
Der Greis schüttelte den Kopf.
»Hierher kommt niemand mehr«, erwiderte er mit leiser, hohler Stimme. »Mit der Stadt ist's aus, Petroleum gibt's nicht mehr ... Wasser!«
Heinrich setzte ihm den Topf an die Lippen und tränkte ihn, dann verharrten beide in schweigender Erwartung.
Mit dem Alten schien es in allem Ernst zu Ende zu gehen.
Stundenlang saßen sie an seinem Lager, ihm vergeblich von Zeit zu Zeit einen in Wasser getauchten Keks anbietend. Er hatte für Nahrung kein Bedürfnis mehr.
Gegen Abend fing er an irre zu reden.
Nach und nach überkam die Knaben ein gelindes Grauen. Waren sich doch ganz allein in der verödeten Stadt, allein mit einem Sterbenden!
Dazu kamen die seltsame, unheimliche Umgebung, die brüllende Flamme draußen und die rätselhaften Äußerungen, die der Alte stoßweise und abgebrochen über die Lippen brachte.
»Da – da ist's!« rief er heiser und krächzend, indem seine weit aufgerissenen Augen grausig zu funkeln begannen. »Seht, wie der Felsenberg glitzert und gleißt! Edelsteine, lauter Edelsteine ... Topase, Opale, Onyxe und auch Diamanten! ... Ja, auch Diamanten! ... Hunderte ... Tausende ... Millionen! ... Das ist mein Geheimnis ... mein Geheimnis! ... Wer spricht hier von einem Geheimnis? Von meinem Geheimnis?«
Er richtete sich gewaltsam auf und starrte die entsetzten Knaben wild an.
»Mein Geheimnis soll niemand erfahren, das habe ich geschworen!« fuhr er mit zunehmender Aufregung fort. »Niemand, hört ihr das?«
Heinrich und Philipp waren voll Grauen weit zurückgetreten.
Der nur halbbekleidete, abgemergelte Greis bot mit seinen wildglühenden, tiefliegenden Augen, seinen verzerrten Zügen und seiner wirren, weißen Mähne einen schrecklichen Anblick dar.
Plötzlich sprang er mit gellendem Aufschrei von seinem Lager.
»Mein Geheimnis!« kreischte er mit hoch erhobenen Armen. »Ihr wollt es mir entreißen? ... Ha, ich habe es fest verschlossen in meiner Kiste ... Fort, ihr da ... Ich bin der Kapitän auf diesem Schiff ... Fort, aus dem Wege!«
Damit eilte er wankenden Schrittes in das andere Zimmer und kniete vor der Seekiste nieder. Er hob den Deckel, der unverschlossen gewesen war, auf und begann den Inhalt der Kiste herauszuzerren.
Mitten in dieser Arbeit aber verließen ihn die Kräfte, er sank um und blieb wie tot auf den Dielen liegen.
Die Knaben, die von dem Vorgange ganz erschüttert waren, hielten eine kurze Beratung, dann hoben sie den anscheinend Leblosen auf und trugen ihn wieder auf sein Bett.
Darauf verließen sie leise, aber schnell das Gemach. Im anderen Zimmer blieben sie stehen.
»Das ist doch eine sehr ernste Geschichte, Heinz«, nahm Philipp hier das Wort. »Der Alte wird sterben, und wenn man uns dann hier finden sollte, dann könnte uns die Hölle heiß gemacht werden. Anderseits aber dürfen wir ihn doch auch nicht verlassen.«
»Nein, das dürfen wir nicht«, versetzte Heinrich. »Ein sehr merkwürdiger alter Mann, vor dem man sich wahrlich fürchten könnte. Hast du wohl gehört, was er immer von einem Geheimnis phantasierte?«
»Natürlich habe ich das gehört; auch von Edelsteinen sprach er, von Topasen, Opalen, Onyxen und Diamanten. Das waren selbstverständlich Fieberphantasien. Er wird irgendwo nach solchen Steinen gegraben haben, vielleicht in Südafrika, und nun träumt er davon und bildet sich ein, sie an einem geheimen Ort versteckt zu haben.«
»Möglich, aber es wird einem gleich so ganz anders zumute, wenn man von einem Geheimnis hört; mir wenigstens geht das so. Oder mag das Gefühl aus dem Magen kommen? Kann auch sein, denn ich verspüre wieder einen tüchtigen Hunger.«
»Ich auch«, stimmte Philipp bei. »Laß uns zu unserem Schinken zurückkehren. Hernach sehen wir wieder nach dem alten Mann.«
Während der ganzen Zeit hatten die Hunde draußen gewartet, teils schlafend, teils miteinander spielend und sich gegenseitig neckend und in die Ohren zwickend, wie dies der Brauch junger Köter ist.
Kaum aber erschienen die Knaben auf der Straße, da erwachte Troll aus dem Schlummer, dem er sich inzwischen überlassen hatte, und marschierte hinter ihnen her; er schien es ganz selbstverständlich zu finden, daß die Terrierhündin und ihre ganze Familie sich gleichfalls seinen jungen Herren anschloß.
In dem Kramladen wieder angelangt, hatten sie bald eine große Blechbüchse mit Tee aufgestöbert.
»Der soll uns munden«, sagte Philipp erfreut.
»Wenn wir ihn nur erst gekocht hätten«, wendete Heinrich ein, sich bedenklich den Kopf kratzend.
»In der Küche des Hotels wird sich wohl Kochgelegenheit finden«, meinte Philipp. »Nimm du den Schinken, ich packe mir den Tee und die Keks auf, und dann laß uns unser Heil versuchen. Was mag in jenen Flaschen sein?«
»Brandy und Rum.«
»Kann uns nichts nützen. Komm.«
Sie zogen mit ihren Schätzen ab.
»Wenn wir uns gestärkt haben, wollen wir auch dem Alten einen Topf Tee bringen«, sagte Heinrich unterwegs. »Vielleicht würde dem auch ein wenig Rum oder Brandy gut tun. Solch eine Wasserratte liebt starke Getränke.«
»Davon möchte ich abraten; der Branntwein könnte Gift für ihn sein und nur seinen Tod beschleunigen; auch die bloße Aufregung würde ihm schon schaden.«
»Hast recht, Philipp. Aber sieh doch nur die Katzen! Sind sie nicht wahrhaftig in Reih und Glied aufmarschiert, um uns zu erwarten? Komische Tiere, solche Katzen. Nun werden wir sie wohl oder übel jeden Tag füttern müssen.«
»Schade, daß wir keine Milch für sie haben«, meinte Philipp bedauernd. »Aber sie saufen auch wohl Wasser. Da wären wir ja angelangt. Na, ich bin neugierig.«
Die Küche des Hotels war bald gefunden. Dieselbe lag in einem Hintergebäude und enthielt außer einem eisernen Kochherde auch noch allerlei Geschirr, das den Knaben trefflich zustatten kam. In einer Ecke lag ein Haufen Steinkohlen, und auf dem Hofe stand eine kleine eiserne Pumpe.
Gewohnt, selber für ihre Bedürfnisse zu sorgen, hatten die Knaben sehr bald den Teetopf auf dem Feuer. Die Hunde und die Katzen waren in dem nach der Straße zu offenen Hof einmarschiert und beobachteten nun, vor der Tür der Küche sitzend, die Vorgänge innerhalb dieses Raumes mit gespanntester Aufmerksamkeit.
Heinrich füllte eine Anzahl flacher Blechgefäße mit Wasser und setzte dies den Tieren vor, die sich durstig darüber hermachten, die Katzen bei allem Durst vorsichtig und zierlich, die Hunde geräuschvoll und herzhaft schlappend.
Man vertrug sich aufs beste miteinander, denn gemeinsame Not und Gefahr bringen Menschen wie Tiere enger zusammen; ab und zu nur blickten die Katzen ein wenig scheu zu den Hunden, namentlich zu dem großen Troll, hinüber; sie mochten wohl meinen, daß das Unglück einem zuweilen doch recht sonderbare Kameraden aufdränge.
Der Tee erwies sich als vorzüglich; als sie ihren Hunger gestillt und reichlich Keks unter die Tiere verteilt hatten – Troll erhielt natürlich den Löwenanteil –, machten sie sich mit einem Blechmaß voll Tee und einer Handvoll von dem Gebäck auf den Rückweg zu dem armen Seefahrer.
»Welchen Tag haben wir heute, Heinz?« fragte Philipp. »Ich bin mit meiner Zeitberechnung ganz in die Brüche gekommen. Und weißt du, der Ort hier gefällt mir gar nicht. Was soll aus uns werden, wenn die anderen nun nicht hierherkommen? Wenn ich daran denke, dann möchte ich allen Mut verlieren.«
»Den Mut verlieren darfst du nicht, Philipp, unter keinen Umständen. Ist's uns nicht bis jetzt prächtig geglückt? Und unsere Väter und Brüder kommen ganz gewiß, das sagt mir meine Ahnung. Laß mich einmal nachrechnen: dies wird die zweite Nacht, seit wir uns verirrt haben ... am Montag vor acht Tagen setzte unsere Karawane sich in Marsch ... heute haben wir also Donnerstag.«
»Das wird stimmen. Da sind wir vor unseres Sindbads Bude ... Erinnerst du dich des Märchens aus ›Tausendundeine Nacht‹, ›Sindbad der Seefahrer‹? Ob unser Sindbad wohl wieder zu sich gekommen und munter ist?«
»Da paßt der Vergleich mit dem Meergreis aus demselben Märchen besser«, lachte Heinrich. »So ungefähr muß der ausgesehen haben. Ich will einmal hineinschauen.«
»Gut, beeile dich aber, es wird schon dunkel; inzwischen kühlt auch der Tee ab.«
Heinrich ging in die Hütte.
Die Hunde lagerten sich zu Philipps Füßen und beobachteten ihn mit größter Aufmerksamkeit. Es schien, als wollten sie die Gegenwart der zweibeinigen Geschöpfe, die vielleicht nur auf einen kurzen Besuch anwesend waren, nach Kräften genießen.
Nach wenigen Augenblicken war Heinrich wieder da.
»Er lebt und ist kreuzfidel!« rief er. »Ich meine, er ist vollständig bei Sinnen, allerdings ein wenig schwach. Lange wird er's aber nicht mehr machen.«
»Das nennst du kreuzfidel! O Heinz! Aber nun wollen wir ihm seinen Tee bringen.«
Sie traten ein.
Der alte Seefahrer sah ihnen verlangend entgegen und empfing den Labetrunk mit bewegtem Dank.
Immer von neuem versuchte er mit zitternden Fingern die Hände der jungen Leute zu drücken.
»Gott lohn's euch!« flüsterte er. »Und nun hört mir zu. Habt ihr einen Vater?«
»Zwei«, antwortete Philipp schnell. »Das heißt, wir sind Vettern«, verbesserte er sich. »Wir hoffen inständigst, daß unsere Väter uns hier auffinden werden.«
»So hört. Ich habe euch ein Geheimnis anzuvertrauen, das euch vielleicht einmal von Nutzen sein wird. In meiner Seekiste befinden sich Papiere, die sollen euer sein. Auch See- und Landkarten sind darin, die ich euch, ebenfalls zum Eigentum gebe. Mein Name ist Michael Jeremias Jackson. Ich bin ein Engländer und war in meinen gesunden Tagen ein Seefahrer ... Ach Gott ... wie wird das Atmen mir schwer! ... Zu trinken!«
Heinrich reichte ihm das Blechmaß; er trank ein wenig und lag dann erschöpft und keuchend.
Nach einer kleinen Weile war er eingeschlafen; die Knaben beobachteten ihn noch ein wenig, dann traten sie vor die Haustür hinaus.
Die gewaltige Gasflamme am anderen Ende der Straße verbreitete bei der zunehmenden Dämmerung einen immer helleren Schein, so daß bereits nicht nur wieder die ganze Stadt, sondern auch die Abhänge der Berge bis hinauf zu den obersten Bäumen erleuchtet waren.
Die Knaben standen und schauten und staunten; die brüllende Feuersäule machte wieder denselben überwältigenden Eindruck auf sie, wie bei dem ersten Erblicken.
»Kommt da nicht etwas Weißes vom Walde her?« fragte Philipp plötzlich.
»Wo?« rief Heinrich eifrig.
»Dort, rechts von der Flamme.«
»Ah, jetzt sehe ich's, aber ich kann noch nicht erkennen, was es ist.«
»Dann will ich dir sagen, was es ist«, rief Philipp in jubelnder Freude. »Es ist der weiße Plan eines Wagens! Dahinter kommt noch einer! Heinz, wenn das unsere Karawane wäre!«
»Wenn!« antwortete Heinz. »Es muß unsere Karawane sein, etwas anderes ist gar nicht denkbar! Da, sieh doch den alten Troll an, wie der in den Wind schnüffelt. Paß auf, Troll, Herrchen kommt! Da geh er hin!«
In langen Sätzen und mit lautem Freudengebell jagte der Hund die Straße hinauf.
Eiligsten Laufes folgten ihm die überglücklichen Knaben.
Alles andere war in diesem Augenblick vergessen – die öde Stadt, der sterbende alte Mann und auch das seltsame Geheimnis desselben.
Die weißen Planwagen stets im Auge behaltend waren sie bald auf dem ansteigenden Terrain außerhalb der Stadt angelangt.
Hier blieben sie verschnaufend stehen.
»Wie wird sich mein Vater freuen!« sagte Heinrich, mühsam nach Atem ringend. »O Gott, welch ein Glück!«
»Von meinem werde ich tüchtig was abkriegen«, versetzte Philipp, sich hinter dem Ohr kratzend. »Onkel Friedrich sagt ja nicht viel, pater meus aber kann das Abkanzeln nun mal nicht lassen.«
»Er wird sich aber nichtsdestoweniger genau so freuen, wie der meinige – lehre du mich meinen Onkel Johann kennen, my boy! Da kommen sie! Vater, Onkel – hurra!«
»Hurra! Hurra!« stimmte auch Philipp ein.
Und von neuem stürzten sie vorwärts, der Karawane entgegen.
Die Wagen hielten.
»Seid ihr das, Heinz und Philipp?« rief Johann Bernsdorfs dröhnende Stimme aus dem vordersten Fuhrwerk.
»Ja, Vater, ja, Onkel!« klang es jubelnd zurück.
»Gelobt sei Gott!« hörte man jetzt Friedrich Bernsdorf rufen. »Junge, komm her!«
Heinrich eilte in seines Vaters Arme.
Philipps Vater aber brummte:
»Warte, habe ich meinen Schlingel nur erst in den Fingern!«
Gleich darauf aber drückte er seinen wiedergefundenen Philipp fest an das treue Herz, und aus dem dankesinnig zum Himmel emporblickenden Augen rann ihm eine Träne über die wetterbraune Wange in den struppigen Bart hinab.