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Eine Eisbergpartie. – Lots Meisterschuß.
Wir lassen den Schiffer und den Farmer bei dem Studium der Strömungen und Küstenlinien und folgen den Forschungsreisenden nach den Einöden des Eisgebirges, von dessen Ausdehnung und Größe dieselben kaum noch eine annähernde Idee hatten.
Selbst Friedrich Bernsdorf, der bereits manche Erfahrung als Reisender gesammelt hatte, war hoch erstaunt über die schier unabsehbare Eismasse, an deren Fuß oder Küste das Boot eine geraume Zeit entlang zu fahren hatte, ehe man eine Stelle entdeckte, an der man zu landen vermochte.
Endlich, nach langem Suchen fand man eine Einbuchtung, die einem kleinen Hafen vergleichbar war.
Innerhalb der Bucht breitete sich eine dunkelblaue Wasserfläche aus, die ein Spiegelbild der sie umschließenden, glänzenden Eisabhänge zurückwarf. Hoch darüber ragten zerklüftete Zinnen mit spitzen, zackigen Türmen und vorspringenden Erkern in den klaren Himmel empor, schimmernd und blitzend mit blauen, roten, grünen und goldenen Lichtern, umwoben von einem duftigen Netz von tausend Regenbogenstrahlen – ein märchenhafter Anblick!
»Wundervoll! Herrlich! Einzig!« riefen die Knaben in hellem Entzücken.
»Wenn's nur nicht so mörderlich kalt wäre«, setzte Heinrich hinzu.
»Laßt's gut sein, Master Heinz«, sagte Lot beschwichtigend. »Die Kälte kommt aus dem Eise, und wenn Ihr Euch erst daran gewöhnt habt, ist sie gar nicht mehr so schlimm.«
»Hahaha!« lachte Philipp; »Lot redet gerade wie jener Henker, der seinen zitternden Delinquenten auch damit tröstete, daß das Hängen gar nicht so schlimm wäre, wenn man sich nur erst daran gewöhnt habe.«
»Riemen ein!« rief in diesem Augenblick der Onkel Friedrich. »Aufgepaßt mit dem Bootshaken da vorn!«
Das Boot glitt langsam in die Bucht hinein und wurde mittels eines kleinen Ankers an der Eiskante festgelegt.
»Vorsichtig, Jungens, vorsichtig!« warnte der Onkel. »Vergeßt nicht, daß ihr Eis unter den Füßen habt und nicht Land. Spring voran, Troll!«
Alle Mann kletterten aus dem Boote und stampften munter auf dem schlüpfrigen Eise herum.
Dann aber begann der Aufstieg, der an dieser Stelle ziemlich leicht zu bewerkstelligen war.
Ein dumpfer Ton, das Zeichen einer neuen Explosion irgendwo innerhalb des Berges, hemmte auf einen Augenblick die Schritte der Kletterer.
Einige größere Eisstücke kamen aus der Höhe herunter geprasselt und plumpsten in das Meer.
Troll wich zurück und bellte.
»Das war nur ein Salutschuß«, lachte Heinrich. »Der Berg begrüßt uns.«
»Salutschüsse werden aber niemals scharf abgegeben«, sagte sein Vater. »Das schien mir eher eine Breitseite mit Kartätschen zu sein. Wir wollen uns beeilen, ehe wir eine neue Ladung kriegen. Der Berg kann höchstens zweihundert Fuß hoch sein.«
Diesmal aber hatte Friedrich Bernsdorf sich geirrt. Der Eisberg maß vom Wasserspiegel bis zum Gipfel nahezu einhundert Meter, und seine Ausdehnung betrug gegen sieben Morgen; er glich also einer ganz respektablen Insel.
Nach kurzer Zeit hatte die Gesellschaft auf den schrägen Hängen den oberen Rücken erklommen, und zwar gerade in dem Moment, als wieder ein Salutschuß gegen das Firmament gefeuert wurde.
»Das ist ja ein richtiger Geisterberg!« rief Heinz. »Ich habe dort drüben deutlich eine Wassersäule aus dem Eise aufsteigen sehen!«
»Höchst seltsam!« sagte Bernsdorf. »Wir müssen diese Erscheinung untersuchen. Wir haben es hier, wie es scheint, mit einer Art von submarinem Vulkan zu tun, dessen Krater ich dort zu sehen glaube. Kommt, aber vorsichtig.«
Sie näherten sich einer Öffnung im Eise, die wie ein Brunnenschacht in die Tiefe führte.
Die Wände dieses Schachtes waren zackig zerklüftet, oben hell wie Glas, weiter unten grünlich, und endlich verlor sich alles in schwarzer Dunkelheit.
Es war ein unheimlicher, gefährlicher Ort. Ein Ausgleiten in der Nähe des Schachtrandes, und der Fallende mußte unfehlbar in den gähnenden Schlund hineinstürzen.
In der Tiefe brauste und rumorte es unaufhörlich, bald lauter und drohender, bald schwächer. Hieraus ergab sich, daß der Schacht bis in das Meer hinabreichte, und daß das Wasser sich dort unten in immerwährender, gewaltsamer Bewegung befand. Aus unzähligen Höhlungen und Nischen in den Wänden troff und sickerte das Wasser hinunter, größere und kleinere Eiszapfen hatten sich gebildet, die zum Teil schon wieder abgebrochen waren.
Das Schwellen und Abnehmen des Tosens da unten geschah ganz regelmäßig wie das Pulsieren eines ungeheuren Pumpwerkes, und da dieser Rhythmus mit dem Heben und Sinken der ganzen Eisinsel im Meere übereinstimmte, so hatten unsere Abenteurer die Ursache des unterirdischen Geräusches bald erkannt.
Ab und zu kochte und wallte das schäumende Wasser so hoch in dem Schachte empor, daß man fürchten konnte, es wolle überkochen; in solchen Momenten wuchs das Getöse zu einem betäubenden Gebrüll an.
Schaudernd blickten die Knaben hinab, der Hund aber hielt sich in respektvoller Entfernung neben Lot, der dem unheimlichen Loche ebenfalls keinen Reiz abgewinnen konnte.
»Du, Troll,« rief der Schwarze plötzlich, »schau, was da liegt! Meiner Treu, ein toter junger Eisbär!«
Der Hund spitzte die Ohren, schnupperte und stürzte dann mit lautem Gebell auf die willkommene Entdeckung zu.
Kaum aber hatte er den Bären zu zausen begonnen, als der letztere sich zum Erstaunen der ganzen Gesellschaft emporrichtete und den Hund mit einer Umarmung begrüßte, die mehr Energie als Liebe verriet.
Es entspann sich nunmehr ein Zweikampf, der die Zuschauer mit um so größerer Aufregung erfüllte, da sie nicht wagen durften, auf den Bären zu schießen, aus Furcht, dabei auch ihren vierfüßigen Freund zu verletzen.
Anfänglich schien Petz die Oberhand zu gewinnen, dann aber besann sich der Wolfshund auf seine Stärke und zerrte seinen Gegner durch die zahlreichen Wasserpfützen, die in den Vertiefungen des Eises standen, bis in die gefährliche Nähe der Krateröffnung.
Immer heftiger tobte der Kampf, keiner der Gegner wollte sich für überwunden erklären.
Da gelang es dem Bären, aufs neue seine Pranken um den Feind zu schlagen, und wahrscheinlich wäre es nun um Troll geschehen gewesen, wenn Friedrich Bernsdorf nicht einen günstigen Moment abgepaßt, seinen Revolver gezogen und einen glücklichen Schuß gegen den Bären abgefeuert hätte.
Die Kämpfenden balgten und wälzten sich unmittelbar am Rande des Kraters, als der Bär, von der Kugel getroffen, seinen Halt aufgab und mit zornigem Gebrumm in den Abgrund rollte.
Keuchend blieb der Hund auf dem Eise liegen, der dumpf erlösenden Tiefe in seiner Erschöpfung nicht achtend, bis Philipp ihn endlich vorsichtig am Halsriemen ergriff und in Sicherheit brachte.
Noch war man damit beschäftigt, des Tieres zum Glück nicht erhebliche Wunden zu waschen, als mit Donner und Gekrach das Wasser im Kraterschacht heraufdrang, in schäumender Masse gegen den Himmel explodierte, den Berg und unsere Abenteurer mit einem Platzregen übergoß und zugleich mit einer Menge von Eisstücken auch den toten Bären hoch in die Luft und dann in weitem Bogen ins Meer schleuderte.
Bernsdorf und seine Begleiter standen starr vor Schreck.
» Oh Lord!« sagte Lot, dessen schwarzes Gesicht ganz aschgrau geworden war.
»Jetzt wird's warm hier«, meinte Heinrich, das Wasser von seinen Kleidern schüttelnd. »Das geht sogar über deine bisherigen Erfahrungen, nicht wahr, Lot?«
»Ja, Master Heinz«, antwortete der Neger kleinlaut. »Ich denke, daß wir hier nichts mehr zu suchen haben.«
Damit schaute er sich ängstlich nach dem jetzt wieder ruhig gewordenen Krater um.
»Je eher wir hier fortkommen, desto besser wird's sein«, fügte er mit einem flehenden Blick auf Friedrich Bernsdorf hinzu.
»Du hast recht, Lot,« sagte dieser, »da wir nun aber einmal hier sind, so können wir immerhin noch die Gelegenheit benutzen und ein wenig Umschau halten. Vielleicht entdecken wir von dieser Höhe aus die Brigg unserer Widersacher, das ›Nordlicht‹. Der Bär wird übrigens das lebende Ding gewesen sein, das wir vom Deck des Schoners aus sich hier auf dem Berge bewegen sahen.«
Aller Augen richteten sich auf den Horizont, von der Brigg aber war nichts zu sehen.
»Wir überblicken von hier nur einen Teil der Kimmung, kaum die Hälfte«, sagte Bernsdorf. »Laßt uns auf die Höhe an jenem Ende steigen, dort haben wir eine freie Rundsicht.«
Sie wanderten dem andern Ende des Eisbergs zu, wobei die jungen Leute wiederholt ihrer Verwunderung über die Ausdehnung desselben und die Höhe der einzelnen turmartigen Spitzen Ausdruck verliehen.
»Es gibt noch viel größere,« belehrte Lot seine Masters, »ich habe Eisberge gesehen, die fünfhundert Fuß hoch waren, ja, und noch höher.«
»Dort schwimmt noch einer«, rief Philipp, auf einen ganz in der Nähe treibenden kleineren Berg deutend, den bisher noch keiner wahrgenommen hatte. »Der muß wohl aus dem Wasser aufgetaucht sein.«
»Horch!« rief Lot. »War das nicht ein Schuß? Hörtet Ihr nichts, Master Bernsdorf?«
»Ein Schuß? Nein, ich habe nichts gehört. Ihr, Jungens?«
Einige der Knaben glaubten etwas gehört zu haben.
»Vielleicht ein Signalschuß«, sagte Hans. »Onkel Johann und Kapitän Armstrong werden meinen, es sei Zeit, daß wir zurückkämen.«
»Da hätten sie auch recht«, versetzte sein Vater. »Von der Brigg ist nichts zu sehen. Die Färbung des Himmels dort hinten gefällt mir übrigens nicht. Wir wollen eilen, daß wir an Bord kommen, ehe der Wind den Schoner wieder flott macht.«
Man schlug den Rückweg nach der Landungsstelle ein.
Vom Krater her hatte sich seit der letzten Explosion nicht das mindeste Geräusch vernehmen lassen.
In der Gegend desselben angelangt, blieb die Schar wie auf Kommando stehen, und alle schauten sich erstaunt um.
Der Krater war verschwunden, und nicht nur das, die ganze Gestalt des Berges hatte sich hier verändert.
Lot war der erste, der eine Erklärung fand.
»Der Berg ist auseinandergegangen«, sagte er.
»So ist's«, bestätigte Friedrich Bernsdorf. »Jener kleine Berg, der nach Philipps Ansicht aus dem Wasser aufgetaucht sein sollte, war das Stück, das von diesem hier abgespalten ist.«
»Aber wo ist unser Boot geblieben?« rief Heinrich.
»Das hat der Teufel geholt, mit Respekt zu sagen«, versetzte Lot düster.
»Eine nette Geschichte!« fuhr Heinrich fort. »Dann war das vorhin also doch ein Alarmschuß vom Schoner, der übrigens durch die Veränderung der geographischen Verhältnisse unseres Eisberges wieder freies Wasser gewonnen hat, wie ich sehe. Ob er uns erreichen wird? Wir treiben ziemlich schnell, wie mir scheint.«
»Ob er uns erreichen wird, das weiß ich nicht, ich weiß aber, daß wir ihn nicht erreichen können«, entgegnete Lot. »Wir sitzen hier in einer bösen Klemme, Master Bernsdorf, mit Respekt zu sagen.«
»So ist's«, antwortete Heinrichs Vater mit bedenklichem Kopfschütteln. »Wenn wir Sturm kriegen –«
»Den kriegen wir sicher«, unterbrach Lot.
»Dann treiben wir wieder zurück oder werden an der Labradorküste zerschmettert, oder wir kippen um, oder erfrieren, oder ertrinken«, sagte Hans.
»Eine hübsche Liste von allerlei Schrecken, die du uns da aufzählst«, lächelte der Vater. »Nun, wie es auch kommen mag, Jungens, wir dürfen den Mut nicht verlieren; ihr wißt, der alte Gott verläßt keinen Deutschen.«
»Und einen schwarzen Gentleman auch nicht«, fiel Lot ein.
»Sehr richtig, alter Freund«, lächelte Bernsdorf. »Es ist ohne Frage, daß wir uns in Gefahr befinden, allein das will noch nicht viel sagen. Wir haben noch ziemlich festen Boden unter den Füßen und den Schoner in der Nähe, der uns abholen wird, sobald ihm dies möglich erscheint.«
»Wollen wir nicht versuchen, zur Wasserkante hinunter zu klettern?« schlug Philipp vor. »Wer weiß, ob dort nicht schon ein Boot auf uns wartet.«
Das schien einleuchtend, und man machte sich auf. Man kam jedoch nicht weit. Wo vorher die Abhänge gewesen waren, die das Heraufklettern erleichtert hatten, da fiel jetzt eine glatte, blaue Eiswand hoch und steil in die See hinab. Sie irrten suchend weiter und weiter – überall aber fanden sie die Wasserkante absolut unzugänglich.
»Das dachte ich mir«, murmelte Lot. »Wir können den Schoner nicht erreichen ... Sagte ich das nicht gleich?«
Er sah sich um, als erwarte er die bestätigende Antwort seines Partners. Dann aber besann er sich und stieß einen Seufzer aus. Hiob war ja nicht da.
»Wir müssen vorläufig also hierbleiben«, nahm Friedrich Bernsdorf endlich das Wort. »Zum Glück verfügen wir noch über einigen Proviant. Jetzt wäre es gut, wenn wir den Bären noch hätten; im Notfall soll Bärenfleisch nicht übel schmecken. Ja, Troll, sieh mich nur an, du böser Hund, du hast uns um den Bären gebracht!«
Troll wedelte verlegen, gab aber sonst keine Antwort.
Unter allerlei Beratungen und Befürchtungen verging die Zeit; alle aber erschraken ernstlich, als plötzlich mit rasender Schnelligkeit aus dem Nordosten eine Bö herangeflogen kam.
In wilden Stößen fuhr der Wind daher. Der Schoner geiete die Segel auf, reffte Groß- und Marssegel und lief hart am Winde eine Strecke von dem Eisberg fort in die See hinaus.
Die Schar auf der unwirtlichen Höhe sah ihm mit gemischten Gefühlen nach.
Dann brach die Bö über sie herein mit Heulen und Brausen, mit Schloßen und Regen; auch einige Donnerschläge rollten über das finster gewordene Meer.
Das Unwetter aber dauerte nicht lange; fast so schnell, wie sie gekommen, rauschte die Bö vorüber, und als die Luft wieder ruhig und hell geworden war, atmeten unsere Abenteurer wieder auf.
Eifrigen Blickes beobachteten sie den Schoner, der nun aufs neue alle Segel stehen hatte und dicht an den Eisberg heranlief.
»Bernsdorfs ahoy!« dröhnte Kapitän Armstrongs gewaltige Stimme herüber.
»Hallo!« schallte die Antwort zurück.
»Könnt ihr nicht zum Wasser herabkommen?«
»Nein. Haben's versucht, aber es geht nicht. Könnt ihr uns nicht zu Hilfe kommen?«
»Wollen's versuchen. Wissen noch nicht wie. Habt ihr eine Axt bei euch?«
»Nein. Wozu?«
»Stufen ins Eis zu hauen.«
»Werft uns eine Axt herüber!« schrie Lot. »Hiob kann bis in den Saling klettern, von da aus gelingt's ihm vielleicht.«
» Ay, ay!« rief Armstrong zurück. »Wird aber wohl nichts werden. Kommt so weit herunter, als es irgend geht!«
Der Schiffer hatte recht; es wurde nichts.
Hiob und der Steuermann stiegen im Takelwerk so hoch sie konnten, jeder mit einer Axt, den Wurf aber unterließen sie, da die Axt doch nur ins Wasser gefallen wäre.
»Habt ihr eine Leine an Bord eures Eisbergs?« gröhlte der Kapitän von neuem.
»Ja, aber nur eine kurze«, lautete die Antwort, der ein langes Schweigen folgte.
Ängstliche Sorge malte sich auf dem Gesicht eines jeden der Abenteurer.
Sollte ihre Rettung unmöglich sein?
Und doch, der Schoner war so nahe, daß man seine Mastspitzen beinahe im Sprunge erreichen zu können meinte.
Wieder erhob Friedrich Bernsdorf seine Stimme.
»›Seeschlange‹ ahoy!« rief er hinab.
»Könnt ihr nicht einen Ort ausfindig machen, wo ein Abstieg für uns möglich wäre?«
»Werde ein Boot auf die Suche schicken«, antwortete der Schiffer. »Nur Mut und immer obenauf!«
»Obenauf sind wir und werden's auch wohl bleiben, fürchte ich«, brummte Lot.
Die anderen schwiegen, selbst Philipp lachte nicht über den trübseligen Scherz des Schwarzen.
Die Unterhaltung zwischen dem Eisberg und dem Schoner ruhte jetzt auf einige Zeit. Der letztere hatte ein Boot ausgeschickt, den Berg zu umfahren. Nach langem Ausbleiben kehrte dasselbe zurück.
»Eisberg ahoy!« ertönte des Kapitäns Ruf endlich nach langer Pause.
Er berichtete, daß an einer Stelle, rechts vom Schoner, ein Abhang sei, der sich zum Abstieg vielleicht eignen würde. Das Boot sollte ihnen den Weg zeigen.
Die Eisberger – den Namen hatte Philipp erfunden – folgten der Weisung und sahen sich nach kurzer Wanderung am Rande eines Absturzes, dessen Hang allerdings weniger steil, aber immerhin noch so lebensgefährlich aussah, daß niemand Lust hatte, hier hinunterzuklettern. Möglich, daß das Wagnis gelingen würde, ein Fehltritt, ein Ausgleiten aus den Eisblöcken, die aus der Wand herauswuchsen, war jedoch hinreichend, den kühnen Klimmer hinabzustürzen in die furchtbare Tiefe.
Sie schauten hinunter und dann einander in die Augen – mit der Hoffnung war es nichts gewesen.
Was nun?
Eine lange Zeit redete keiner ein Wort.
Plötzlich blickte Philipp auf.
»Ich hab's, Onkel!« rief er.
»Nun, was hast du?« fragte Friedrich Bernsdorf.
»Eine Idee und eine gute, wie ich glaube.«
Hans, Heinrich und Lot traten aufhorchend herzu.
»Laß hören, Philipp«, lächelte der Onkel, dem Knaben liebevoll in das intelligente Antlitz blickend.
»Wir sind gerettet, Onkel, wir sind gerettet!« rief dieser. »Mein Plan muß gelingen!«
»Und was ist dein Plan?«
»Troll, Onkel, Troll ist mein Plan! Wir schicken Troll hier hinunter, er kann uns dann eine Leine heraufbringen; mit der Leine ziehen wir Äxte und Stangen herauf, und haben wir die erst, dann soll uns der Abstieg nicht mehr schwer werden.«
»Bravo, Philipp!« sagte der Onkel. »Dein Plan ist wirklich gut. An den Hund hatte ich noch gar nicht gedacht. Komm her, Troll, hierher, mein Hundchen!«
Troll kam herzu, etwas steif von den Nachwehen des Kampfes mit dem Bären, aber bereitwillig und mit erwartungsvollen Blicken.
Friedrich Bernsdorf streichelte ihm liebkosend den Kopf und teilte dann den unten im Boote harrenden Leuten, unter denen sich auch sein Bruder Johann befand, den neuen Plan mit.
Hierauf befahl er dem Hunde, den Abhang hinabzugehen.
Das Tier verstand ihn, schaute in die Tiefe, dann in die Augen seines Herrn, wedelte entschuldigend mit dem Schweif und zog sich hinter Lot zurück.
Jetzt rief auch Johann Bernsdorf vom Boote aus den Namen des Hundes.
»Horch, Troll, Herrchen ruft!« ermunterten ihn die Knaben.
Zögernd kam er wieder hervor.
»Lauf, Troll, lauf hinunter! Lauf, Hundchen, lauf!«
»Troll, komm her!« rief Johann befehlend. »Will er gleich herunterkommen!«
Da senkte der Hund den Schweif und begann gehorsam und mit Todesverachtung den Abstieg.
Atemlos, pochenden Herzens verfolgten ihn die Zurückbleibenden mit den Blicken, und als er endlich glücklich unten anlangte und mit freudigem Gebell in das Boot sprang, wo Johann ihn mit offenen Armen empfing, da brachen sie in ein lautes Jubelgeschrei aus.
Das Boot ruderte nunmehr zum Schoner zurück, der im Lee des Eisberges lag. Die Mannschaft verhinderte vermittels starker Stangen die zu nahe Berührung des Schiffes mit der glitzernden, eisenharten Wand, da eine solche bei der hochgehenden See verderblich werden konnte.
Man schaffte eine lange, dünne aber feste Leine ins Boot, dazu einige kurze Stangen aus Hickoryholz, darauf nahm das Boot den Schoner ins Schlepptau und bugsierte ihn vom Berge ab, bis die Segel wieder Wind fangen konnten, und nun kehrte das Boot an den Eisstrand zurück, während der Schoner sich in der Nähe zur Aufnahme der Geretteten bereit hielt.
Das Vertrauen, das man in die Kraft, den Mut und die Geschicklichkeit Trolls gesetzt hatte, sollte nicht getäuscht werden.
Glücklich langte das treue Tier mit dem an seinem Halse befestigten Ende der Leine auf der Höhe an, und sogleich machte man sich an das Heraufziehen der Pfähle, denen auch zwei Äxte beigefügt wurden. Dann versuchte man den Abstieg.
Philipp und Hans wagten es zuerst.
Sie kamen jedoch nicht weit, da kehrten sie wieder um. Die Sache war nach wie vor zu gefährlich.
Philipp aber hatte wieder eine neue Idee.
Er machte den Vorschlag, ein paar Pfähle in das Eis zu schlagen und daran die Leine zu befestigen. Das untere Ende derselben sollte von den Leuten im Boote gefaßt und straff angezogen werden. Dadurch wurde ein fester Halt, eine Art von Geländer hergestellt, das den Hinabkletternden eine vermehrte Sicherheit gewähren mußte.
Der Vorschlag wurde mit Beifall begrüßt und sogleich zur Ausführung gebracht.
Die Maßregel bewährte sich trefflich.
Einer nach dem andern stiegen die Eisberger an dem Seil in die Tiefe, die Knaben voran, dann Lot und zuletzt Friedrich Bernsdorf.
So gelangten alle glücklich in das Boot.
»Schade um die schöne Leine«, sagte Vater Johann, als die erste Freude der Begrüßung sich etwas gelegt hatte. »Wir werden sie hierlassen müssen, da sich wohl niemand finden wird, der sie uns von den Pfählen da oben loslöst.«
»Oh, das wollen wir schon kriegen«, rief Heinrich. »Weißt du was, Onkel, wir machen's wie Münchhausen mit seinem Pferde, das oben am Kreuz des Kirchturms hing.«
»Nun, und wie machte der's?« fragte Johann lächelnd.
»Er durchschoß den Zügel, an dem es baumelte, mit einer Pistolenkugel, da fiel es herunter.«
»Das war gut, vorausgesetzt, daß das Pferd heil auf dem Erdboden anlangte. Anderseits aber gibt es nicht viel solcher Meisterschützen, wie der selige Münchhausen einer war. Wer von uns würde zum Beispiel diese dünne Leine dort oben am Pfahl treffen?«
»Wenn ich Pulver und Blei und Zeit genug habe, dann möchte ich euch die Leine wohl herunterschießen, Master Johann«, sagte Lot.
»Wenn – ja, wenn!« lachte Hans. »Da wir aber weder Pulver, noch Blei, noch Zeit hier im Überfluß haben, so schlage ich vor, jeder tut einen Schuß; vielleicht ist der Zufall einem von uns günstig.«
Gesagt, getan. Johann feuerte zuerst, dann Friedrich. Die Leine rührte sich nicht. Heinrichs Schuß brachte ein Stück Eis herunter, Philipp und Hans schossen jeder ein Loch in die Natur. Der letzte war Lot.
Der legte bedächtig an und zielte lange. Dann setzte er ab, schaute nach Korn und Visier und legte noch einmal an.
Die andern sahen ihm lächelnd zu.
Da krachte der Schuß und gleich darauf kam die Leine heruntergeprasselt.
»Donnerwetter!« rief der Farmer überrascht. »Lot, das war ein Königsschuß!«
»Ja,« grinste der Schwarze, »Hab' ich's denn nicht gleich gesagt?«
»Oho!« schrien die drei Knaben. »Zufall, nichts als Zufall!«
»So? Da liegt die Leine«, entgegnete Lot ruhig. »Hab' ich nicht gesagt, wenn ich Pulver und Blei und Zeit genug hätte, dann würde ich die Leine herunterschießen? Wie? Master Bernsdorf hat mir eine Patrone gegeben, da hatte ich Pulver und Blei genug, und Zeit habe ich mir genommen. Also! Nein, Masters, das war kein Zufall, solche Schüsse tue ich immer, jederzeit, bei Tag und Nacht, fragt Hiob, der kann's bezeugen.«