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Modeste mußte in der Tat allein sein!
Sie schaute auch nicht nach rechts und nicht nach links, als sie den nächsten Feldweg aufs Geratewohl dahinschritt. Wer am Wendepunkt seines Lebens steht – am unbedingten Wendepunkt – der hat die Augen nach innen.
Lange hatten sie miteinander gespielt: das schöne Mädchen und das Schicksal. Jetzt waren sie beide im Grunde des Spieles satt, wollten die Tat sehen, ihr eignes Gesicht. – Der blonden Sünderin wurde es erschrecklich klar, daß nur zwischen zwei Entscheidungen die Wahl: der feige, kleine Rückzug, den sich kein ganzer Mensch jemals vergibt – oder das hart entschlossene: »Ich gehe meinen eignen Weg!« – wovor wieder jeder Halbe zittert . . . Und während sie mit einem Entschluß rang, verwirrten sich ihre Gedanken. Wer nie bis zum Kern seines innersten Wesens vorgedrungen ist, der sucht im Dunkel vergebens sich selbst.
Und doch sehnte das innerlich unklare Geschöpf sich gerade in dieser Stunde leidenschaftlich nach sich selbst. Sie ahnte das Bessere in sich, das Beste vielleicht . . . Doch bei dem Ahnen blieb es. Es war einer jener Momente im Leben, wo man draußen suchen muß, was man drinnen noch nicht finden kann.
Ein Berater, ein Freund! – Modeste ging die Liste ihrer Bekannten vergebens durch. Niemand hatte sie gegeben, niemand hatte ihr gegeben. Die tiefe Lebensweisheit in wunderlichem Kern, die ihr der alte Eller sonst wohl geboten, genügte hier nicht. Keine Winkelzüge des Alters, keine Seitensprünge des Humors, sondern eine harte Hand, die sie auf den Weg stieß, der ihr Weg war! Das brauchte sie . . . Dabei dachte sie an ihre Freundinnen, an die Gadebusch, Murrmann, Meyners. Sie mußte selber lächeln. Zur Not vielleicht Judith von Bussard, die nie zur Seite schielte, weil sie instinktiv tat, was rein und gut. Aber sie war ja so weit – und von ihr wollte sie auch keine Hilfe, von ihr zuletzt!
Modeste war bis zur Chaussee gekommen. Ein Klapperwagen fuhr vorüber. Sie las mechanisch auf dem weißen Holzschild:
»Falkner von Öd zu Eyselin.«
Ein Gedanke zuckte blitzschnell ihr durch den Kopf. Ehe sie ihn noch zu Ende gedacht, rief sie schon dem Knecht zu: »Fahren Sie nach Eyselin?«
»Jo.«
»Wollen Sie mich mitnehmen?«
»Mientweje.«
Der junge blöde Mensch, der sie offenbar nicht kannte, schob den Häckselsack, auf dem er saß, etwas beiseite: »Hucke Se da!«
Modeste stieg auf. Bis zu dem Eyselinschen Gutsweg fuhren sie stumm. Da spuckte der Knecht in die Hände. »Fahrn Se zur Mamsell?«
»Nein, zum Baron.«
Er sah das hübsche Mädchen breitschmunzelnd von der Seite an. »Zum Baron? – Se sind wohl aus Königsberg? Wie der gnädige Herr neulich die Offizier' zum Besuch hatte, da waren auch so zwei mit – die waren aber aus Berlin.«
Modeste erriet dunkel. Es war doch bei Herr wie bei Knecht . . . Schon wollte sie aussteigen, da dachte sie wieder an den Ball: »Wenn Sie einen Freund brauchen, einen wirklichen Freund, dann kommen Sie zu mir! Ich will es gutzumachen versuchen . . .«
Und wenn einer der Mann war, ihr zu helfen, so war er es. Denn nur wer das Leben bis in seine tiefsten Tiefen kennt, kann raten; das fühlte sie instinktiv. Es war wieder ein Augenblicksentschluß gewesen. Jedoch wo sie lange grübelte, entglitt ihr immer die goldene Frucht – und erst im raschen Impulse fand sie dann wieder sich selbst, blieb Siegerin über sich selbst.
Dennoch wurde es Modeste bange und unheimlich, als die weiten Wirtschaftsgebäude von Eyselin aufstiegen; dahinter das weiße, vornehme Herrenhaus im tiefen, schattigen Baumgrün, stumm und geheimnisvoll. Schon zu Lebzeiten des alten Herrn von Falkner hatten die stets geschlossenen grünen Jalousien im Sommer dem Kinde etwas Verhextes gehabt.
Modeste stieg im Hofe ab. Der Knecht nickte vertraulich. Als sie an die Auffahrt kamen, sah sie den einarmigen Burschen von damals, wie er in einer Art Gärtnerlivree Pflanzen begoß. Er starrte ihr nach mit dem eigentümlich stechenden trotzigen Blick. – Auch als sie in das Vestibül des Herrenhauses trat, empfing sie eine tote Schwüle. Auf dem Tisch ein Stock und ein Jagdhut. Sonst kein Mensch, kein Laut. Sie empfand eine Art von Gespensterfurcht, wollte heimlich wieder fortschleichen.
Da kam endlich der Diener – ein alter Diener im Frack, der sich altmodisch verbeugte.
»Ist der Baron von Falkner zu sprechen?« Sie fühlte, wie ihr die Stimme versagen wollte.
»Der Herr Baron wird sehr bedauern.«
»Ist er zu Haus?«
»Herr Baron empfängt heut niemand.«
Modeste dachte an das breite Lächeln des Knechtes und ging.
Während ihr der alte Diener respektvoll die Glastür öffnete, sagte er entschuldigend: »Gnädiges Fräulein müssen schon verzeihen! Aber es ist der siebzehnte August heute, und den verbringen der Herr Baron stets allein in seinen Gemächern. Vor drei Jahren kam ein ganzer Wagen voll Offiziere aus Berlin und mußte auch wieder abfahren.«
»Also, er ist bestimmt allein?«
»Aber gewiß, gnädiges Fräulein.«
Da änderte sie den Entschluß. »So sagen Sie ihm, bitte, daß Modeste Lindt ihn sprechen müßte – hören Sie! – sprechen müßte.«
Der alte Mann schüttelte den Kopf. »Ich will's versuchen, aber ich glaube nicht . . .«
Es mochte eine Viertelstunde vergangen sein, als der Diener zurückkehrte. »Herr Baron lassen bitten . . .« Er führte sie durch eine lange Reihe vornehmer, etwas altertümlicher Zimmer, die Luft abgestanden, wie in einem Mausoleum. In dem letzten der Flucht hielt er inne. »Wollen gnädiges Fräulein hier Platz nehmen?« Dann verschwand er und schloß lautlos die Tür.
Es war ein großer, düsterer Raum, eingerichtet wie ein englisches Klubzimmer mit schweren Saffianstühlen, einem riesigen Diplomatenschreibtisch; an den Wänden zwischen mächtigen Elchgeweihen alte Kupferstiche in Rosenholzrahmen. Darüber eine Atmosphäre von Zigarettenrauch und Kölnischwasser. Auf einem Seitentisch eine große Photographie, die aber wohl für kein fremdes Auge bestimmt war, denn ein flüchtig darüber hingeworfenes Seidentuch bedeckte sie fast ganz. Modeste wollte aufstehen, das Bild ansehen – der Instinkt aller Frauen. Aber ein Gefühl der Gene hielt sie ab. Es war eine so ungewöhnliche Situation, ein so ungewöhnlicher Mensch – und sie wollte nicht kleiner scheinen, als sie war.
Sie hatte nur wenige Minuten stehend gewartet, als Herr von Falkner erschien. Er trug einen eleganten Jagdanzug, aber das Monokel fehlte. Das harte, graue Gesicht erschien ihr darum fremd.
»Verzeihen Sie, gnädiges Fräulein, wenn ich Sie so lange warten ließ. Ich nehme sonst tatsächlich an diesem Tage niemand an, sei es, wer es sei. Es war mir auch heute geradezu ein Entschluß. Aber da Sie es sind – und da Sie sicher nicht wegen einer Lappalie kommen . . . Also bitte!«
Modeste hatte sich in einen der weichen Lederfauteuils gleiten lassen; sie wollte sprechen, brachte aber kein Wort über die Lippen.
»Gnädiges Fräulein, ich warte sehr gern. Sammeln Sie sich – ich habe mich auch erst sammeln müssen vorhin.« Er sprach gegen seine Gewohnheit warm und weich.
Sie schien nicht zu hören. Aber plötzlich sprang sie auf. »Ich kann nicht! . . . Zu Ihnen nicht!« . . .
»Und warum sind Sie dann zu mir gekommen, meine Gnädigste?« fragte er ruhig zurück.
»Ich weiß auch nicht . . .« sagte sie, erregt auf und ab gehend. »Ich muß so was wie wahnsinnig gewesen sein . . .«
Er schüttelte ungläubig den Kopf. »Kaum. Der Wahnsinn ist keine Lindtsche Krankheit. Sie wissen alle so genau, was sie wollen! Und wenn Sie zu mir gekommen sind . . .«
Bei dieser kühlen Art fand Modeste sich wieder. »Sie bleiben, der Sie sind, Herr von Falkner. Lassen Sie mich auch die bleiben, die ich bin! Adieu.«
Er vertrat ihr den Weg. »Fräulein Lindt, oder, wenn Sie es lieber hören, von Lindt, sagen Sie mir ruhig, was Sie hierhergeführt – und ich werde tun, was in meiner Kraft steht . . . Ich möchte gern eine Schuld tilgen . . . Vielleicht lohnt diese Aussprache auch für uns beide – und wir sehen verwundert, wie arm oder wie reich wir in Wirklichkeit sind.«
Sie schlug mit der Hand in die Luft. »Es hat ja doch keinen Sinn . . . Sie halten mich für eine Lindt – und die Lindt bin ich eben nicht, sonst wär' ich nicht zu Ihnen gekommen.« Sie hielt die Hände vor die Augen. »Ich will keine Lindt sein!« sagte sie heftig.
»Um so besser! Denn dann werden wir uns ganz sicher verstehen. Ich mag alle Laster eines Edelmannes haben – aber ich habe auch das Herz eines Edelmannes.«
Modeste sah ihn durchdringend an. Sie mochte ahnen, daß hier oder nirgends die Rettung aus dem Labyrinth. Sie ging wieder zu ihrem Fauteuil zurück. »Gut, ich will . . . Aber sehen Sie mich nicht an dabei! . . . Also, ich habe mit Herrn Romeit ein Liebesverhältnis gehabt – ich habe es noch. Ich sage mit Absicht das häßlichste Wort, weil ich mich gewissermaßen vor meiner eignen Feigheit fürchte . . . Er hat diese Beziehungen einmal abgebrochen – und mir war's nur recht. Heute hab' ich sie wieder aufgenommen – und meine Schwester Frida traf uns im Wald. Sie weiß alles. Ich komme direkt aus dem Wald.«
Er sah das schöne Mädchen etwas verwundert an. »Da braucht man doch nicht zu raten. Die Verzeihung Ihrer Eltern wird sich gewiß erlangen lassen, und das Schweigen Ihrer Schwester vielleicht auch . . . Ich wiederhole es noch einmal: Sie sind eine Lindt.«
Modeste war aufgesprungen. »Eine Lindt! Allerdings eine Lindt . . . Und das ist eben mein Fluch! Über diese Lindt kann ich nicht hinweg, weder im Guten, noch im Bösen. Unter dieser Lindt stöhne ich, unter dieser Lindt verkomme ich! . . . Wozu kam ich eigentlich hierher? Wozu? – Um mir sagen zu lassen, was ich längst weiß?« Er wollte sie unterbrechen, aber sie wehrte ihm mit der Hand. »Ich weiß, was Sie mir sagen, womit Sie mich trösten wollen: ich bin eine Lindt und doch keine Lindt – ein erbärmliches Zwittergeschöpf, das vergebens nach sich selber sucht! . . . Daher der Kampf, der bei einer andern schon längst entschieden wäre; daher die Flucht zu Ihnen – zu Ihnen! . . . Fühlen Sie nicht selbst diesen bitteren Hohn? Und doch hatte ich den Instinkt, daß Sie allein mir helfen könnten, helfen müßten . . . Sie wollen mich jetzt fragen: ›Lieben Sie denn den Mann – lieben Sie ihn auch wirklich?‹ – Und ich kann Ihnen nur antworten: ›Ich weiß es nicht!‹ Es ist der einzige Mann, der je auf mich einen tieferen Eindruck gemacht hat und zu dem ich immer zurückgekehrt bin, wie zu meinem besseren Selbst . . . Wenn er bei mir ist, weiß ich, daß ich ihn liebe . . . Vor einer Stunde wußt' ich's noch so genau! – Aber jetzt? – Ich weiß es nicht mehr – ich weiß vor allem nicht, ob ich ihn lieben können würde durch ein ganzes Leben hindurch bis ins tiefste Elend hinein . . . Bis ins tiefste Elend hinein!« Sie lächelte bitter. »Denn wie ich meine Eltern kenne – so reich sie sind – in dem Moment bin ich enterbt, ausgestoßen, wo ich Herrn Romeit zum Manne will . . . Da hilft auch kein Flehen – dafür sind sie Lindts . . . Und ich flehe auch nicht – dafür bin ich eine Lindt.« Sie hielt schweratmend inne.
Herr von Falkner ging derweil im Zimmer auf und ab, die Lippen zusammengebissen, den Kopf zur Erde. Als er ihn hob, rann ein Blutstropfen langsam über sein Kinn. Er war vor dem kleinen Tisch stehengeblieben, auf dem die Photographie lag, und hob mit leicht bebender Hand das Seidentuch auf, das sie bedeckte.
»Haben Sie je ein anmutigeres Geschöpf gesehen?«
Modeste war zu ihm getreten: ein feines, süßes Gesicht mit Madonnencharme, der wallende Brautschleier leuchtend wie ein Heiligenschein. Ihr dämmerte ein flüchtiges Erkennen: »Ich habe sie schon einmal gesehen, Baron, in Gumbinnen oder Königsberg . . . nein, in Gumbinnen. Es war eine sehr vornehme Dame.«
Herr von Falkner zuckte die Achseln. »Allerdings ist sie das. Aber was tut das zum Menschen? – Nichts, als daß man eine Kette mehr mit sich herumschleppt . . . Wäre diese Frau nichts gewesen als sie selbst – sie wäre glücklicher geworden und ein andrer auch!«
Er breitete wieder das Seidentuch über das Bild und nahm wieder seine Promenade auf, so daß ihm Modeste verwundert nachsah. Und im Gehen und ohne aufzusehen sagte er: »Setzen Sie sich, bitte, gnädiges Fräulein! Ich will Ihnen derweilen eine kurze Geschichte erzählen. Vielleicht kann sie Ihnen nützen. Außer mir und ihr kennt sie niemand . . . Ich war einmal vor Jahren in Cannes oder irgendwo anders. Da habe ich diese Frau kennen gelernt, die alle Lebemänner aufs äußerste interessierte, weil von ihr die Sage ging, daß sie ihren Mann hasse und ihm doch unbedingt treu sei. In der großen Welt klingt das wie ein Märchen, dem jeder lauscht, an das niemand glaubt. Ich weiß nicht, warum gerade ich, der Verdorbensten einer, an dieses Märchen von Anfang an geglaubt habe . . . Ich glaube vielleicht noch heute daran . . . Kurz und gut, wir lernten uns im Laufe eines Rivierawinters nahe kennen – sehr nahe . . ., Ich bin auch niemals mehr innerlich von ihr losgekommen – niemals mehr . . . Sie mögen nun denken: ›Welch läppische Geschichte!‹ . . . Aber diese Frau war mir ein kurzer Segen und ein langer Fluch. Und ob ich nun die Einsamkeit suche oder die Orgie – sie steht immer hinter mir. Sie hat auch damals hinter mir gestanden an jenem Balltage . . . Sie wissen schon. Und auf die vage Möglichkeit hin, sie zu sehen, fuhr ich in derselben Nacht meine besten Pferde tot . . . Heut ist ihr Namenstag, den ich immer einsam verbringe vor diesem Bilde wie ein Gläubiger vor der Madonna . . . Dieser Tag ist mir immer eine namenlose Qual. Er reißt die eiternde Wunde wieder auf. Und dennoch freue ich mich des Blutes, der Schmerzen, weil ich fühle, wie in mir das Gute, das Beste immer wieder von neuem geboren wird . . . Ich knie wieder in meinem Herzen vor der Frau, ich bete sie an wie einst. Und der Dolch bohrt sich wieder langsam und tödlich in meine Brust. Ich will's nun einmal so . . . Und dann stehe ich langsam auf und frage mich, was ich mich täglich frage: ›Hat dich die Frau je geliebt? Weiß solche Frau überhaupt, was Liebe ist? – Oder ist sie weiter nichts als ein schwächliches Produkt ängstlicher Konventionalität, dessen Reinheit nur Angst vor dem Skandal?‹ . . . Ich grüble und grüble und kann mir nicht klar werden, ob ich eine Heilige inbrünstig weiter verehren darf oder einen elenden Schwächling endlich mit dem Fuße wegstoßen muß . . . Ich werde auch wahrscheinlich niemals hinter die Wahrheit kommen, weil ich die Frau viel zu leidenschaftlich geliebt habe, immer lieben werde. Ich kann nicht über mich selbst . . . Diese Frau ist nach wie vor ihrem Manne treu – immer schön, immer lächelnd, immer rein. Ich stehe wie vor einem Wunder . . . Und derweilen entflieht die Zeit. Ich werde alt, ich werde komisch; mein Leben ist verpfuscht wie eins . . . Es ist alles so sinnlos! – Um mich die schönsten Blumen – ich könnte sie pflücken, ich möchte es – und lasse sie dennoch welken . . . Ich muß immer wieder zu der Frau zurück – ich pilgere zu ihr wie der Sünder zum Gnadenbild . . .«
Modeste war aufgestanden. »Es war sehr schön erzählt, Baron. Das sind Ihre Kreise, Ihre Moral. Was nützt sie mir? . . . Ich würde diese Frau nicht mal verachten – Sie lieben sie erst recht . . .«
Da wechselte er den Ton. »So habe ich Ihnen doch nicht umsonst erzählt! . . . Sie sind noch jung, mein gnädiges Fräulein, Sie sind noch stark. Sie schauen vorwärts, anstatt zurück. Solange wir das noch können, ist uns der Weg zum Glücke nicht verbaut . . . Jene Frau ist vielleicht eine Heilige, ich aber bin ganz sicher ein Narr. Und wir beide, die Frau wie ich, taugen für das Jenseits und für die Gruft, aber nicht für das blühende Leben. Wir sind Entartete vielleicht schon vor unsrer Geburt . . . Aber jetzt sage ich Ihnen: wenn Sie das sind, was Sie sein möchten, dann gehen Sie getrost ins Elend, das heißt, heiraten Sie den Mann, den Sie lieben! Sie werden stärker werden, glücklicher. Sie werden begreifen, daß erst der Kampf Glück schafft und daß der erst ein Mensch ist, der der Menschheit ins Gesicht zu spucken wagt . . . Mein Lebensweg war ein Zickzackweg, ist's wohl noch. Unsereiner stirbt rettungslos auf der öden Landstraße, ohne ein Ziel überhaupt je geschaut zu haben. Die Schwäche hat ja bekanntlich nie ein Ziel.« Er nahm wieder das Bild und hielt es Modeste vor das Gesicht. »Ihnen soll dieses süße Geschöpf nur sagen, wie man's im Leben nicht machen soll! . . . Wen hat diese Frau glücklich gemacht mit ihrer Reinheit, ihrem Reiz? – Ihren Mann vielleicht, den kurzsichtigen Trottel? – Oder vielleicht sich? – Oder vielleicht gar mich? – Oder irgendeinen andern Menschen? . . . Nein, Fräulein Lindt,« fuhr er leidenschaftlich erregt fort, »ahmen Sie der nicht nach! . . . Sind Sie freilich Ihres Vaters echte Tochter, dann gehen Sie auf Umwegen zu ihm, sagen pater peccavi und heiraten diesen Mieritz und fühlen sich zeitlebens rein und sind doch nur unsagbar schmutzig. – Oder Sie sind nicht Ihres Vaters Tochter, dann gehen Sie erst recht geradeswegs nach Haus und sagen: ›Den Mann liebe ich, und den Mann will ich – und wenn ihr ihn mir nicht gebt, so nehm' ich ihn mir, ich habe ihn mir schon genommen . . .‹ Und wenn Sie dann mit allen Flüchen der Heuchlermoral beladen in die Verbannung wandern, dann erst werden Sie fühlen, wie mit jedem Schritte aus dem Gefängnis die Luft freier wird, der Blick klarer; Sie werden auf einmal begreifen, daß das Glück nur in uns selbst liegt und daß man nur durch den brennenden Wüstensand zu der Oase gelangt . . . Aber es gehört Mut dazu, viel Mut – und Glauben, viel Glauben . . . Denn wenn Sie einmal auf Ihrem Wege rückwärts schielen – dann adieu!«
Modeste hatte mit gefalteten Augenbrauen finster dagestanden. »Ich werd's mir überlegen,« sagte sie nach einer langen Pause.
Seine Augen verschleierten sich wieder. »Auf deutsch – Sie werden sich von der Welle tragen lassen, wohin die Welle will. Schade. Einen Augenblick hatte ich das Gefühl, Sie wären mehr. – Aber das ist ja schließlich auch Ihre Sache . . . Vergessen Sie, bitte, meine Worte – vergessen Sie vor allem die Frau!«
Der Stern von Barginnen zuckte die Achseln. »Sie war das Produkt ihrer Umgebung wie ich.«
Herr von Falkner lächelte darauf hochmütig. »Ich kann keine Ähnlichkeit konstruieren zwischen Ihnen beiden, weder innerlich noch äußerlich. Vielleicht, daß sie auch überlegte . . .« Dann fuhr er gemessen fort: »Es gibt Dinge und Momente, wo die große Moral nie überlegt, sondern blindlings handelt. Sie standen vor diesem Moment . . . Aber Sie haben sich ja bereits entschieden.«
Modeste errötete. »Sie trauen mir also wenig zu?«
»Gar nichts in meinem Sinn. Sie sind feige wie alle Frauen.«
»Das ist Ihr letztes Wort, Baron?«
»Mein letztes . . . Ich habe die höfliche Komödie auch satt.«
Es war so dämmerig geworden, daß die beiden Gestalten wie Schatten hin und her schwankten.
»Vielleicht haben Sie, Baron, mit Ihren letzten Worten den einzigen Punkt getroffen, den Sie treffen mußten. Feige bin ich trotz alledem nicht und will's Ihnen beweisen.«
Er lächelte ungläubig. »Darf ich Ihnen nicht den Wagen anspannen lassen? Coupé oder Jagdwagen – was befehlen Sie?«
»Weder das eine noch das andre. Ich werde zu Fuß gehen. Ich komme schon zur Zeit.«