Johannes Richard zur Megede
Modeste
Johannes Richard zur Megede

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1

Schmaleningken!

Der kleine Raddampfer bog in den Winterhafen ein. Die Pfeife heulte. Es war die erste deutsche Station am Memelstrom. Wenig zurück, wo hinter sumpfigen Wiesen Kiefernwald zum Wasser heran zog, lag schon das heilige Rußland.

Ein Spätnachmittag im September mit milder Sonne und weichen Schatten. An solchen Tagen ist die Ebene so schön.

Das Schiff hatte es eilig. Der armselige Flecken hielt es auch nicht lange. Während der graubärtige Kapitän an der Bordverkleidung gähnend lehnte, wurden ein paar leere Schnapsfässer die sandige Uferböschung hinabgerollt; ein riesiger Sack schwankte unter einem grobsträhnigen Litauer Kopfe auf Deck.

»Na, nu macht 'n bißchen schnell, Mannchen!« – Das breite Ostpreußisch des Schiffers wurde aber sofort geschmeidig, als ein Herr mit Damen jetzt auf das Landungsbrett trat. – »Guten Tag, Herr Graf – guten Tag, Frau Gräfin – guten Tag, gnädiges Fräulein . . . Die Herrschaften wollen schon zurück?«

»Ja, ja, ja,« erwiderte der Herr etwas nervös, mit einem leichten Griff nach dem Hut. »Warum habt ihr eigentlich immer solche Riesenverspätung hier? Wir sind schon seit zwölf Uhr in dem Nest.« Und er wies nach dem einfachen Gasthof auf der Uferhöhe, wo zwei magere Steppenpferde mit wirrer Mähne und unstetem Auge vor einem schmutzbedeckten Wagen bewegungslos standen.

Der Kapitän machte ein pfiffiges Gesicht: »Der Herr Graf wissen ja: auf der russischen Seite regulieren sie den Strom nun einmal nicht ordentlich. Stromaufwärts haben wir darum im Herbst immer zu wenig Wasser. – Man kommt beim besten Willen nicht vorwärts! . . . Und dann hatten wir auf der Herfahrt auch noch Schimkes an Bord. Das sind die Flößer, Frau Gräfin, die nach Rußland zurückgehen. Das Schiff gestopft voll. – Das ist eine Bande! – schlimmer als das Vieh. Die sollte die Frau Gräfin mal essen sehen. Zehn Kerls brocken sich Zucker und grobes Brot zusammen in einer Schüssel, und dann gießen sie einen Patscheimer mit Memelwasser drauf, und dann fährt alles mit Holzlöffeln rein. Und ein Geschmatz und ein Kreuzgeschlage! Und was sie sonst noch für nicht zahlende Passagiere mitgehen lassen . . .« Der Kapitän kraute sich in nicht mißzuverstehender Weise sein dickes Haar.

Der Graf räusperte sich darauf, die Gräfin sagte: »O Gott!« – Das gnädige Fräulein aber lachte ungeniert.

»Nun, alles glücklich an Bord? – Dann ziehen Sie die Brücke weg!«

In dem Augenblick kam ein junger Mensch rasch die Böschung herabgeschritten: »Halt, ich will noch mit!«

»Na, dann beeilen Sie sich!«

Der Ankömmling sprang auf Deck, machte eine hastige Bewegung nach der Ökonomenmütze, als wenn er grüßen wollte, tat's aber im letzten Moment doch nicht, sondern ging leichtfüßig an den andern vorüber ins Vorderschiff.

»Na, das scheint auch so ein duschackiger Kerl zu sein! . . . Hat die ganze Zeit über bei den russischen Pferden gestanden, als wenn er noch nie so was gesehen hätte . . . Und dann kommt er noch beinahe nicht mit!« sagte der Kapitän ingrimmig.

Von den gräflichen Herrschaften hatte nur das gnädige Fräulein dem halblauten Monologe zugehört. Sie sah dem »duschackigen Kerl« nach. Er stand jetzt am Schornstein und schaute wieder zurück nach den Pferden – eine schlanke, sehnige Reitergestalt, sonnenverbrannt, mit krausem, aufgedrehtem Schnurrbart. ›Wahrscheinlich Inspektor,‹ dachte sie. ›Aber hübscher Kerl . . .

Dann begann die Maschine zu arbeiten, das Schiff schwankte und bekam endlich ächzend mäßige Fahrt. Die drei Stunden Verspätung konnte es ja doch nicht mehr einholen.

»Modeste! Kaffee – willst du oder willst du nicht?« klang es vom Hinterschiff. Graf und Gräfin hatten es sich dort an einer Glaswand bequem gemacht.

Das gnädige Fräulein folgte zögernd dem Ruf. Sie war gar nicht begierig auf den Schiffskaffee und auf die Gesellschaft von Schwager und Schwester noch weniger. In monatelanger Einsamkeit auf einem russischen Gute hatte sie sich mit den beiden fast zu Tode gelangweilt. Es war nicht Mangel an verwandtschaftlichem Gefühl – es war ihre Natur so, daß sie die Legitimität langweilte . . . Ja die Legitimität! – Wie sie so bei den beiden saß, stumm, geistesabwesend, hatte sie darüber ihre ketzerischen Gedanken. Die Legitimität erschien ihr alt, langweilig, verbraucht – die Illegitimität jung, hübsch, von überschäumender Lebenskraft. Die Legitimität saß neben ihr, war ihre Schwester und hieß jetzt: Erika, Gräfin von Axsil, eine aus der Form gegangene ältere Blondine mit losem Korsett und unvermeidlichem Schildpattlorgnon. Der Gatte, ein mit schwerem Geld gekaufter Edelmann, schlank, brünett, sehr Aristokrat, eine angezüchtete Liebenswürdigkeit im schmalen, feingefältelten Gesicht eines routinierten Vierzigers. Die vor wenigen Jahren erst geschlossene Ehe war leidenschaftslos glücklich. Das Gefühl hatte sogar bis zu einem Sohne gereicht – legitim, temperamentlos wie die Eltern . . . Die Illegitimität stand noch immer neben dem Dampferschlot, trug eine Ökonomenmütze und zeigte über dem schneeweißen Stehkragen einen kräftigen braunen Nacken. – Der Zufall wollte es, daß Modeste zwischen den beiden saß, der Legitimität näher, der Illegitimität ferner, was auch ihren Gedankenkreisen im Augenblick entsprach.

Sie stand unentschlossen zwischen den beiden – sie war ja noch so jung!

Modestes Familiengeschichte war nicht übermäßig verwickelt. Sie hießen Lindt und waren eine längst anerkannte Parvenüsfamilie vom Rhein. Der Vater hatte sein Geld in Knochenmehl gemacht – viel Geld – und in gesetzlich nicht anfechtbarem Wucher. Durch beides hatte er intime Beziehungen zur Landwirtschaft gewonnen und auch ein gewisses Interesse für den Stand. Denn dieser Emporkömmling war im Grunde seines Herzens konservativ, ein Freund altadliger Traditionen, dazu von jenem Erwerbsehrgeiz, der da sagt: »In jeder Branche gibt's was zu verdienen.« Er reiste daher lange im Osten umher, zum Vergnügen scheinbar, in Wahrheit, um Güter anzusehen. Und wie alle klugen Leute fand er auch, was er wollte: ein Ordensschloß der Deutschherren, feudaler Besitz, tief drin in Litauen, zwar von Hypotheken überlastet, aber der zeitweilige Schloßherr war sein Geschäftsfreund und Schuldner. Er zog also dem Manne, der auch ohnedies nicht zu retten gewesen wäre, ohne Härte oder Hast die Krawatte zu und erwarb das Gut in der Subhastation zu einem Spottpreise. Das geschah vor zwanzig Jahren. Die Frau – aus guter Familie – und zwei Töchter brachte er mit. Die Jüngste, Modeste, wurde auf dem Schlosse geboren. Sie war also schon durch den Geburtsort die feudalste und der Liebling des Vaters. Die Gegend weigerte sich anfangs, den Mann anzuerkennen, wenigstens das blaue Blut erwiderte zwei seiner Einladungen regelmäßig durch eine einzige. Aber da der Neuling anständig verbohrte Gesinnungen zeigte und seinen Geldbeutel nur den kleinen Mann fühlen ließ, durfte er endlich passieren. Die älteste Tochter wurde zur rechten Zeit auf den Markt gebracht. Baron sollte der Schwiegersohn mindestens sein – aber kein Hungerleider. Dazu war der Alte auch jetzt noch zu sehr Kaufmann. Der Edelleute fanden sich viel – sogar ein Kürassierleutnant aus dem Westen, der aber kläglich Fiasko machte, als es ans Schuldenbeichten ging. Kurz vor Toresschluß tat es der Ältesten ein deutschrussischer Graf an – auch Habenichts, bei dem aber mildernd die Neunzinkige wirkte und ein nebelhafter Erbonkel in Warschau . . . Die Zweite, Frida, fand nicht einmal den Baron. Das war nicht ihre Schuld. Der Alte war durch die vielen mißlungenen Verlobungen der Ältesten in Mißkredit bei den Heiratskandidaten gekommen . . . Die Jüngste, der Star, empfand dabei einen häßlichen Triumph. Die Schwestern haßten sich.

Bei dieser Schwester waren Modestes Gedanken gerade jetzt. Nein, die Legitimität war doch das einzig Wahre! Schon um diese Schwester zu ärgern, mußte sie ja verständig heiraten. Ob sie den Zukünftigen nun liebte oder nicht – aber vornehm, dreimal vornehm sollte er sein. Und bald, bald! Nicht so töricht lange warten wie die älteren Schwestern, die in aussichtslosen Liaisons Jugend und Gefühle verzettelt hatten. Diese Vorstellung erhitzte sie. Und als hätte der leise Herbstwind, der über das schmutzige Deck strich, ihr Haar verwirrt, holte sie einen Taschenspiegel mit gleichgültiger Bewegung heraus. Sie schaute lange in das Glas. Sie dachte nicht an die Frisur. Sie dachte, daß es ohne Schmeichelei ein kleiner, feiner Kopf war, den sie erblickte. Schmale Lippen, blasse Augen, die runde Stirn von hellblondem, zierlichem Kraushaar überzittert. Und weiß die Haut und weich die Linien. Die Nase war freilich nicht schön – zu klein – aber pikant mit den rosigen, etwas lüsternen Flügeln. Und die paar leichten Sommersprossen – bah! Ein Reiz mehr, wie sie jetzt so wissend lachte, was eine Familieneigentümlichkeit war . . . Und was das kleine, trübe Glas nicht zeigte, und was ihre scharfen neunzehnjährigen Augen so gut sahen: – die schlanken, vollen Glieder, die graziöse Hüfte, die auch unter dem festesten Korsett sich so anmutig bog. Modeste stand auf, machte einige Schritte vorwärts und hatte ganz das Gefühl, als wenn ihr alle Augen auf dem Schiffe folgten und aufleuchtend sagten: Was ist die doch gut gewachsen, und wie hübsch geht sie auf schmaler Sohle! . . . Nein, ein solcher Körper mußte ja Karriere machen . . .

Und mit saugender Nüster schaute sie ins Leere, in die Zukunft, wo der Briefverkehr mit ihrer Schwester Frida ein sehr lebhafter sein sollte. Sie sah sogar sehr deutlich die Kuverts:

Ihrer Hochgeboren

Frau Gräfin von . . .

mit einem verschwimmenden Namenszuge.

Und dagegen wieder:

Fräulein

Frida Lindt                  

              Wohlgeboren.

Das Wohlgeboren würde sie der Schwester nicht um die ewige Seligkeit erspart haben. – Modeste war in diesem Augenblick kalt legitim auch im Gesicht. Und doch war illegitimer als alles, daß ihr Auge niemals einem Männerblicke auswich.

Die schleppende Stimme der Schwester weckte sie aus dem ehrgeizigen Traume. »Willst du nun eigentlich deinen Kaffee austrinken oder nicht, Modeste? Alles fällt voll Fliegen. Nimm sie doch heraus!«

Modeste drehte sich herum und erwiderte spitz: »Fliegenkaffee kannst du allein trinken, Erika!« – Und wie sie das Ehepaar jetzt sah, vor der Herbstkühle hinter der Glaswand zusammengekauert – sie mit der Geizfalte um den welken Mund, er an der längst ausgegangenen Zigarre ziehend –, da fiel ihr wieder ein, was sie bei diesem ersten russischen Besuche schon am zweiten Tage trotz aller Ehrfurcht für Grafenkronen gedacht hatte: ›Wenn das die Ehe ist – um Gottes willen! – da muß man ja mit dem ersten besten Stallknecht durchgehen! Und wenn das Elternglück heißt, so eine talgige, blutarme Schlafmütze als Thronfolger zu haben, so einen, den man erst kneifen muß, bis er Leben bekommt und schreit, wie dieser Dagobert Axsil – nein, nein, lieber . . .‹ Und sie hatte eine ganz unerhörte Konsequenz dabei gezogen.

Darauf ging Modeste auf Deck spazieren. Dieser sinkende Herbsttag war doch zu schön, um ihn ganz zu verträumen . . . Die Ebene und der Strom – sie liebte beide. Lange stand sie über Bord gelehnt. Und die Ebene zog vorüber, so weit, so ruhig – Wiese und Wald und einsame Häuser und weidende Pferde. Mit purpurner Glut lag die untergehende Sonne darüber. Die Kiefernstämme glänzten, das Grün schimmerte hell. Aber das warme Licht trog – es war schon Herbst. Jedoch Modeste ließ sich gern belügen. Es lag so viel köstliche Einsamkeit, so viel schwermütige Trauer über der Flur. Wiesenduft strömte herüber und Harzgeruch und Wasserdunst. Zwischen nickenden Weidengebüschen floß der ruhige gelbe Flachlandstrom. Die Kielwelle rollte auf grauen Sand, Kähne tanzten, ein flachshaariger Junge warf flache Steine nach dem Schiff und schrie ein litauisches Wort. Und die Sonnenlichter wurden breiter und schwerer, und die Schatten zogen nach. Das Ufer erhob sich zu welligen Hügeln. In den Fenstern einer Schneidemühle blitzte die rote Sonne. Riesige Holzflöße lagen im Strom, mit wilden Gestalten am rohen Steuer; die Stämme schaukelten behaglich, ein Hund bellte. Der Kapitän schrie einem Floßführer zu, und der Mann drohte zurück.

Das Schiff legte bei. Auf lang streichendem Hügel eine Stadt in Waldgrün gebettet, mit rotschimmerndem Ordensschloß. Es war Ragnit. Ein schweres Boot schwankte heran und brachte einen kurländischen Baron mit einem Schafbock. Aus der Kajüte war jetzt ein dicker Mann heraufgekommen, eine Art Verwalter, und dienerte: »Guten Tag, Herr Baron.«

Der Baron tippte nur an seine russische Mütze. Modeste aber, die viel Sinn für das Komische hatte, fand diesen alten hochmütigen Edelmann mit seinem Schafbock äußerst pläsierlich. Sie trat darum auch näher heran, als sich die beiden, Herr und Verwalter, unterhielten. Die Unterhaltung enttäuschte sie etwas, sie galt nur landwirtschaftlichen Maschinen. Der Baron, ein kluges, scharfes Gesicht ohne Güte, paffte dazu ganz kurze russische Zigaretten mit riesigem Mundstück. Wenn er die letzte wegwarf, stand auch schon sein Verwalter mit einem Streichholz bereit. Der Baron aber dankte nie für den Dienst. Wohl eine halbe Stunde lagen sie vor dem Nest. Schmierige Säcke ohne Zahl kamen an Bord. Das war langweilig, der Schafbock eigentlich noch das Interessanteste. Darum ging Modeste auch an den Käfig heran und steckte die Spitze des Sonnenschirmes durch die Holzstäbe nach dem Tier, das in charakteristischem Stumpfsinn dalag. Bei dem Schafbock fand sie auch den »duschackigen Kerl« wieder, der inzwischen unten gewesen sein mußte. Er trat vor der Dame sofort höflich zurück.

»Fahren Sie nach Tilsit?« fragte Modeste dreist.

»Jawohl.«

»Und da bleiben Sie?«

»Nein.«

»Also Sie wollen noch weiter?«

»Jawohl.«

»Na, wir haben auch noch verschiedene Stunden Wagenfahrt vor uns.«

»Ich auch.«

Modeste sagte darauf lächelnd: »Vielleicht wollen Sie am Ende auch nach Barginnen wie wir?«

»Jawohl.«

»Nach Schloß oder Dorf?«

»Schloß.«

Modeste sah den hübschen jungen Menschen mit Interesse an. Dann lachte sie hellauf: »Jetzt will ich Ihnen auch sagen, wer Sie sind. Sie sind der neuengagierte Inspektor Romeit von uns. Ich bin das Fräulein vom Schloß.«

Inspektor Romeit zog mit eckiger Höflichkeit die Mütze: »Ich dachte mir das gleich, gnädiges Fräulein.«

Nun verstand auch Modeste das Zögern vorhin und den Griff nach dem Hut. Der gewisse bäurische Trotz, der in seiner Art lag, und die Scheu vor den Schloßherrschaften – das ärgerte sie und schmeichelte ihr zugleich. Sie war im Begriff gewesen, zu sagen: »Kommen Sie doch hinüber zu uns, wir sitzen da an der Glaswand.« Denn es schien sonst ein Mensch von Manieren zu sein. Schnell überlegte sie sich's anders. ›Inspektoren! Die muß man sich immer etwas vom Leibe halten, sonst werden sie frech. Inspektoren sind Schwefelbande, sagt Papa immer . . . Schade! Wenn man ihn näher besieht, hat er gar nichts Unfeines, eher das Gegenteil.‹

Und endlich sagte sie mit kurzem Kopfnicken: »Wir werden wohl in Tilsit in demselben Wagen fahren, wenn nicht Papa einen Einspänner für Sie geschickt hat. Adieu!«

»Adieu, gnädiges Fräulein!«

Und daß Herr Romeit womöglich noch steifer wiedergrüßte, tat ihr eigentlich wohl.

Indessen hatten sich die gräflichen Herrschaften mit dem Baron angefreundet. Modeste horchte auf das Gespräch, ohne nahe heranzugehen. Die gewöhnliche Herbstunterhaltung: Hühnerjagd, Landwirtschaft. Das machte eben der gleiche Stand, die gleiche Lebenssphäre der Herren. Aber während der Graf immer wieder auf die Hühnerjagd zurückkam, ohne Eifer, obgleich es seine einzige Passion war, sprach der Baron scharf und angeregt von landwirtschaftlichen Fragen: »Ich arbeite jetzt soviel wie möglich mit Maschinen. Passen Sie auf, die Leute werden uns in Rußland auch noch knapp! Der Zuzug vom Lande nach unsern baltischen Seestädten ist schon jetzt sehr bedeutend. Unsereiner muß die Augen recht groß aufmachen, sonst wachsen ihm die Verhältnisse über den Kopf. Wer garantiert uns, daß der große Weltkrach nie eintritt? Der kleine ist bei der Landwirtschaft ja schon in Permanenz erklärt – in Deutschland, bei uns, ja sogar in Amerika.« – Dagegen ihr Schwager: »Ja, ja . . . man schränkt sich ja auch ein, wie man kann. Übrigens, was Sie von Rübengütern in Posen vorhin sagten, ist vollkommen richtig – was es da für Hühner gibt! Ich reise im September immer der Jagd wegen zu meinem Schwiegervater nach Deutschland . . .« – »Ich nicht!« antwortete der Baron trocken. »Wenn zugesät wird, muß ich dabei sein. Es kann einem sonst ganz gut passieren, daß so ein Inspektor allein ganze Schläge unbestellt läßt. Ich bin nur wegen einer Drillmaschine hier, die ich mir bei Verwandten angesehen habe und die ich, weil sie vorzüglich funktioniert, gleich mit nach Kurland nehmen werde.« Von Zeit zu Zeit ging dem Baron im Eifer der Unterhaltung die Zigarette aus. Dann sprang der dicke Verwalter von der andern Seite des Decks mit den Streichhölzern herbei und erntete einen kaum bemerkbaren Dank der kühlen grauen Augen.

Zuletzt begann es dem Grafen zu frösteln: »Kalt heute abend! – Ich denke, man verfügt sich langsam in die Kajüte.«

»Ja gern,« antwortete der Baron. »Aber wir aus dem Lande der Wölfe sind doch eigentlich lächerlich empfindlich.«

Die Herrschaften erhoben sich . . . Als die Schwester Erika an Modeste vorüberkam, flüsterte die ihr zu: »Weißt du, wer der junge Mann da drüben ist? Unser neuer Inspektor.«

»Ach was! Wie hast du denn das rausbekommen?«

»Ich habe ihn selber gefragt.«

»So! Macht er einen gemeinen Eindruck oder nicht?«

»Ja und nein. Etwas Bauer.«

»Wenn er nur tüchtig ist! Es war doch recht gut, daß Papa den alten Biesenthal endlich hat abschieben können. So 'n alter Mann mit einer Menge Kinder! . . . Die Geschichte mit der Buchführung war ja eigentlich nicht der Rede wert – selbstverständlich nur ein Vorwand für Papa. Aber es ist ganz richtig! So 'n alten Krippensetzer kriegt man ja sonst immer wieder aufs Gut. Wo ist er eigentlich jetzt, Modeste?«

»Ich weiß nicht. Auf Rosen wird er vermutlich nicht gebettet sein. Aber das geht uns doch nichts an.«

Wie die Schwestern so leise miteinander flüsterten, sprang bei beiden der Lindtsche Familienzug scharf hervor: die größten Herzlosigkeiten mit gleichgültigem Lispeln zu sagen.

In die Kajüte wollte Modeste nicht mit. Sie haßte die verbrauchte Luft da unten und verstand nicht, wie man an einem Septemberabend schon frieren konnte. Ihrem jungen frischen Blut tat die Kühle wohl. Sie blieb also oben, aber sie setzte sich ein wenig abseits, weil ihr die Füße in den zu schmalen Lackschuhen vom langen Stehen brannten.

Die Sonne war gesunken. Mit lastendem Fittichschlage zog die Herbstnacht heran. Stromnebel stiegen empor, milchig weiß. Sie legten sich über das raunende Weidengebüsch längs des Ufers – über die Wiesen – über den Wald. Die Kielwelle rauschte schwer, tückisch blinkte das Wasser. Es wehte kühl und feucht. Modeste machte die Mantelknöpfe auf. Es lag so viel unerbittliche Jugend in der Nachtluft . . . Der Dampfer fuhr eiliger. Wieder tauchten rechts und links Flöße auf – schwarz, riesig, geheimnisvoll; der Mann am Steuer wie ein graues Gespenst. Auf einigen hatten sie Feuer angemacht. Die rote Lohe schlug durch die Nacht und malte seltsame Bilder auf den stillen, dunkeln Strom, auf die geduckten Weiden . . . Wenn das Schiff jetzt lautlos auf den Grund sänke? – Es war alles so tief und stumm und lastend ringsumher. Modeste wurde nicht müde, ins Wasser zu starren. Die große Poesie der Ebene ging ihr auf und der Nacht. Die Brust wurde ihr so weit, und sie atmete tief. Was wußte die Legitimität da unten in der Kajüte von Nacht und Jugend und ehrgeizigen Träumen.

Modeste hätte die ganze Nacht so weiterfahren können. Ihr tat es fast leid, als hinter dem Waldhügel des Rombinus, wo die alten Litauer ihren Heidengöttern opferten, rosiger Lichtschimmer den Nebel durchdrang. Er kam näher und näher. Türme tauchten auf – erhellte Fenster – zuletzt eine Eisenbahnbrücke, deren schlanke Umrisse in der Luft zu schweben schienen. Tilsit. – Auf der Kajütentreppe hörte sie den leicht schleppenden Tritt ihres Schwagers. Die Schwester ward sichtbar im Schal, vermummt, eine unförmige, fröstelnde Masse . . . Modeste schüttelte sich ordentlich vor Grauen. Nein, eine solche Legitimität würde sie töten! Lieber jung sein, genießen und hinterher meinetwegen verkommen.

Neben dem Schafbockkäfig tauchte eben eine Gestalt auf. Es war der Inspektor Romeit. Auch er hatte die ganze Zeit stumm auf Deck gesessen – und Modeste hatte an ihn gar nicht mehr gedacht.

An dem Landungsplatze hielt schon der Lindtsche Wagen – ein altes viersitziges Vehikel mit schweren Federn. Bevor die Schwestern einstiegen, tuschelten sie noch miteinander.

»Soll er mit im Wagen sitzen, Erika?«

»Ach, Unsinn, Modeste! Auf dem Bock natürlich. Man muß solche Leute erst gar nicht auf Gedanken bringen.«

Sie ratterten durch die neblige Stadt. Ein Dragoneroffizier grüßte. Dann rollte der Wagen auf weißer, endloser Chaussee landeinwärts. Der Graf auf seinem Rücksitz allein war in schlechtester Laune. »Konnte euer Vater nicht wenigstens den geschlossenen Landauer schicken? Man friert ja tot in der offenen Karrete!« Und mürrisch wickelte er sich in seinen dicken Offiziersmantel.

»So?« fragte die Gräfin gleichgültig zurück. Niemand fand es natürlicher, daß man tags im eleganten Landauer, aber nachts in der ausrangierten Chaise fuhr, selbst wenn man darin fror. Sie war ihres Vaters beste Tochter. Modeste aber schlug verächtlich die Klappen ihres Sportpaletots zurück. Frierende Männer! Das war nie ihr Geschmack gewesen. Der Inspektor da oben auf dem Bock fror nicht; der saß so ruhig und gerade in seinem Lodenjackett, und der weiße Kragen leuchtete über dem schlanken, kräftigen Rücken. Sie beide froren nicht . . . Der gleichmäßige Trab der Tiere, das Schwanken der Federn machten die Insassen allmählich müde. Die Gräfin gähnte, der Graf sank in sich zusammen. Auch Modeste fing an zu blinzeln. Wie im Traum glitt ihr die Gegend vorüber – gelbe Stoppelfelder, schwarze Brachen, Kartoffelland mit dürrem, herbe duftendem Kraut. Ein schiefer Mond lag darüber. Zuweilen sprang der Umriß eines schlafenden Hauses scharf hervor, ein einsamer Baum schüttelte sich schlaftrunken. Oder eine weidende Kuh hob sich von dem tiefen, grauen Horizont groß und unbestimmt wie ein Schemen ab. Eine Postkutsche kam vorüber mit zwei elenden trottenden Schimmeln und einem nickenden Postillion. Modeste hatte das helle Licht schon lange vor sich herschwanken gesehen und schläfrig gegrübelt, ob es ein Stern oder ein Irrlicht sei. Jetzt, da sie es wußte, schloß sie befriedigt die Augen. Wenn sie aber durch tote Dörfer fuhren – das Rollen des Wagens klang dann hohler zwischen den Gebäuden, und der dumpfe Anschlag von Hofhunden wurde laut –, rieb sie sich das verschlafene Gesicht und suchte die Gegend zu erkennen. Dann war sie auf Augenblicke ganz wach und ihr Blick von häßlicher Nüchternheit. Der Graf war noch tiefer zusammengesunken und fröstelte im Schlaf – aber der schlanke, kräftige Rücken vor ihr auf dem Bock blieb immer gleich gerade und unbeweglich . . . Sie kamen durch ein halbes Dutzend Dörfer. Und immer wieder fuhr Modeste auf, und immer wieder sah sie dasselbe Bild: immer zusammengesunkener der eine, immer gerader der andre. Sie war zu träge, um darüber bestimmte Gedanken zu haben, sie fühlte leisen Ekel und matte Bewunderung zugleich . . . Warum mußte der eine Graf sein und der andre Inspektor? – Umgekehrt wäre so viel natürlicher gewesen . . . Das flog ihr aber nur so vorüber wie im Traum.

Die gaukelnden Bilder wollten in einem ruhigen Schlaf verrinnen – da wurden die Pferde plötzlich unruhig und schnaubten. Ein andres Gefährt mußte dicht hinter ihnen sein. Gleich darauf auch ein kurzes Peitschenknallen, um zu avertieren. Der Lindtsche Kutscher ruckte an den Leinen und lenkte nach rechts, den Ungeduldigen vorüberzulassen. Modeste bog sich neugierig aus dem Wagen. – Es war ein ihr wohlbekanntes Gefährt. Hoher grüner Jagdwagen, zwei weitausgreifende Trakehner Rappen davor. Der Herr fuhr selbst. Hinten eine kohlschwarze Livree mit hohem Kokardenhut. Die Arme über der Brust gekreuzt. Sie jagten vorüber – es war nur ein Moment – grußlos der Herr, unbeweglich der Kutscher. Modeste wollte sich über die Unhöflichen ärgern. Ja, das war er – an jedem Bekannten vorbei, Kopf geradeaus, die Peitsche hoch, wie es eben seine Laune war! Aber gerade diese Rücksichtslosigkeit imponierte ihr heimlich.

Auch die Gräflichkeiten wurden halb wach. »Wer war das, Erika? – Wohl kein Bekannter von euch? Sonst wäre er doch nicht so unhöflich vorübergerast. Sahst du vielleicht, Modeste? . . .«

Modeste schwieg, als wenn sie schliefe. Dabei sah sie auf einmal völlig frisch geworden mit leuchtenden Augen ins Weite. Was sie heute während der ganzen Fahrt über ihre Zukunft phantasiert hatte, verdichtete sich hier im Moment zu einem sehr verständigen Entschluß. Wozu in die Ferne schweifen? – Sie hatte in dem unhöflichen Herrn ihren Zukünftigen erkannt. Da war die Legitimität und auch noch Jugend – von beiden genug, um sie glücklich zu machen. Die distinguierteste Livree und die rassigsten Fahrpferde, soweit ihr Landverkehr reichte . . . Daß sie an den Mann nie ernstlich gedacht hatte! Freilich, sie kannte von ihm eigentlich nur die langen Nägel und den launenhaften Hochmut. Wer aber kannte eigentlich mehr von ihm? – Niemand. Er war ihnen allen in der Gegend ein Fremder. Jetzt wollte Modeste ihn besser kennen lernen. Und sie murmelte zwischen den zusammengepreßten Zähnen seinen Namen:

»Xaver Kajetan Falkner von Öd, Freier Panierherr zu Eyselin!« Sonst hatte es ihr immer unheimlich fremd und vornehm geklungen – es lag am Mann. Jetzt klang es ihr plötzlich so vertraut, als hieße sie selbst schon so.

Als das schwere Massiv des Ordensschlosses aus der uferlosen Ebene hervortauchte, winkte sie grüßend mit den Augen hinüber. Sie hatte sich in der ganzen Zeit weder nach Vater noch Mutter noch Schwester gesehnt – aber heute liebte sie die Heimat wirklich, weil die ihr ja das legitime Glück bringen sollte. Der Wagen fuhr in den Schloßhof. Dumpf und feudal dröhnten die alten Mauern den Hufschlag zurück . . . Modeste wußte, was sie wollte. Der Inspektor war ihr völlig entschwunden. Sie sah ihn eigentlich erst wieder, als er behende vom Bock herabsprang, den Damen aus dem Wagen zu helfen. Der Graf war ganz steif geworden und fror noch immer. Was interessierten sie die beiden Männer? . . . Gar nicht!

Sie überlegte jetzt, ob der Auserwählte Dienstag zur Hühnerjagd kommen würde – er war gar nicht Jäger. Oder dann wenigstens zum Diner – eingeladen war er sicher . . . Noch beim Auskleiden murmelte sie vor sich hin:

»Modeste Freifrau von Öd!« Sie tat es sehr vorsichtig. Denn die Schwester Frida beobachtete von ihrem Bett aus argwöhnisch die Jüngere, der die ermüdende Nachtfahrt so frische Wangen und so blanke Augen gemacht hatte.



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