Johannes Richard zur Megede
Modeste
Johannes Richard zur Megede

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

6

In den letzten Tagen des Oktobers hatte Herr Romeit seine Schülerin reif erklärt für einen größeren, selbständigen Ritt. Modeste dachte an einen Nachmittagsbesuch bei Bussards.

Freundinnen hatte der Stern von Barginnen eigentlich nicht, nur Bekannte. Es lag das in Modestes Natur. Sie engagierte sich nicht . . . Und dann war die nächste Umgegend arm an jungen Mädchen ihres Alters und ihrer Ansprüche, erst jenseits der Staatsforst gab es wieder »Familien«. Da saßen die Gadebuschs, die Meyners', die Bussards.

Die beiden Fräulein von Gadebusch waren nicht hübsch, nicht häßlich, wahre Kürassiergestalten und rasend hochmütig. Von der schnurrbärtigen Mutter ging die Mär, daß die alte Dame einmal die gute Meile von der Kreisstadt bis zu ihrem Gut zu Fuß gegangen wäre, weil der betrunkene Kutscher es vorgezogen hatte, ohne sie heimzufahren. »Aber gnädigste Frau,« sagte der alte Eller, »warum haben Sie sich nicht von irgendeinem Wagen mitnehmen lassen, die Chaussee ist doch so belebt!« – Die Matrone richtete sich kerzengerade auf und entgegnete eisig: »Der Adel bittet nicht, er gewährt nur.« – Seitdem hieß sie die »Ahnfrau« . . . Von den Töchtern Marga und Martha erzählte dagegen ein Artillerieleutnant der aufhorchenden Modeste, daß es im Grunde trotz alles Hochmuts doch echte Landgänse wären mit grauen wollenen Strümpfen, »grauen, wollenen Strümpfen, gnädiges Fräulein, beim Generalsdiner! . . .«

Annie von Meyners war dagegen ganz anders. Bequem, gutmütig, ein wenig dumm – zurzeit Modestes beste Freundin. – Beste Freundin war auch einmal Judith von Bussard gewesen, die, sehr reich und sehr hübsch, der jüngsten Lindt einzige Rivalin schien. Eine rotblonde, schlanke Schönheit, sanft, zart, als einziges Kind angstvoll behütet. Den Winter verbrachte sie meist mit der Mutter im Süden. Für dieses Mädchen hatte Modeste einst eine wirkliche Freundschaft gefühlt. Es ging ein eigenmüder Reiz von dem aristokratischen Geschöpf aus, das im Herzen demütig war und ohne Scheinheiligkeit fromm. Sie log nie – auch wenn sie lächelte. Ein Jahr hatte diese Mädchenfreundschaft gewährt, von Modeste sehnsüchtig gesucht, von Judith liebenswürdig geduldet. Auf dem ersten Ball in der Königshalle kam die Abkühlung. Das Freifräulein wurde vom Adel umschwärmt, Modeste huldigten mehr die bürgerlichen Leutnants. Einen ernsthaften Succès de femme vergab der Stern von Barginnen nie. Das Lesekränzchen, das die fünf jungen Damen zusammen mit einer Frau Murrmann als Protektorin bildeten, blieb zwar bestehen, aber die Interessen schieden sich. Es wurde eine kühle Freundschaft. Und jetzt, wo Modeste monatelang in Rußland gewesen war, hatte sie für das Kränzchen nichts gehabt als einen flüchtigen Ansichtskartengruß . . . Doch die Zeit eilt, die Zeit heilt. Ein halbes Jahr hatte man sich nicht gesehen, und die Sehnsucht nach all den lieben kleinen Mädchentorheiten erwachte bei Modeste. Heute war eigentlich Kränzchentag. Vielleicht hatten sich die vier Fräuleins versammelt, vielleicht auch nicht – jedenfalls wollte Modeste Menschen sehen, mit dem neuen Reitkleid paradieren und, falls Judith mit der Mutter schon nach dem Süden abgereist sein sollte, wenigstens sich von dem alten Bussard bewundern lassen, der zwar auf einem Gichtbein daherhumpelte, aber hübsche Mädchen sehr schätzte.

Bussardshof war weit. Darum wurde der Inspektorbraune gleich nach Tisch und sehr sorgfältig gesattelt. Herr Romeit selbst zog die Gurten fester und blickte stolz auf seine reizende Schülerin.

»Also, gnädiges Fräulein, nicht über Feld oder wo Gräben sein könnten! Ich muß die Stute beim Sprunge selbst höllisch zusammennehmen, sonst bleibt sie mir hinten und vorn weg . . . Peitsche ist übrigens nicht nötig, der Braune geht schon so . . .« Doch als er eine kleine scharfe Falte zwischen Modestes Brauen bemerkte, fügte er rasch hinzu: »Aber natürlich ganz, wie gnädiges Fräulein wollen!«

»Na, wenn ich nach all den guten Lehren nun nicht 'runterfalle, so fall' ich wohl nie 'runter!« scherzte sie dagegen. »Adieu, Herr Romeit.« Sie schnalzte mit der Zunge, der Braune trabte an. Herr Romeit ging zurück nach der Scheune, wo er die Gegend am besten übersehen konnte. Dort blieb er lange. –

Es war ein eisiger Oktobertag. Die Luft trüb, der Himmel lastend. Auf den verödeten Feldern nur noch die welkenden Blätter der Rübe. Zuweilen ein Joch Ochsen, das die Furche brach, ringsum Krähen, flügelschlagend, schnarrend. Die Chaussee glänzte rot von Ebereschen. – Modeste trabte gemächlich die Landstraße entlang, zum erstenmal ganz allein und doch etwas bang, wenn der Braune einmal schärfer schnob oder vor den weißen Wegsteinen stutzte. Wagengerassel im Rücken erklang – ein Knecht, der sich mit seinem Gespann im Dorfkruge verspätet hatte und jetzt peitschenknallend dahinjagte. Der Braune spitzte die Ohren und fiel in Galopp. Erst war's ihr unheimlich – sie versuchte zu parieren – dann erfaßte sie der Ehrgeiz. Der Knecht sollte ihr nicht vorbeifahren! Schließlich freute sie sich, wie rasch die Bäume vorüberflogen und wie sicher sie saß . . . Der Wald kam, ein großer einförmiger Wald, hüben und drüben die regelmäßigen Schläge. Die braunen Fichtenstämme wie erstarrt, in den Nadeln ein schläfrig Säuseln. Sie hieß das Pferd Schritt gehen. Zuweilen senkte es den Kopf, haschte nach einem Grashalm am Wege. – »Pfui, schäm dich, Brauner!« Zuweilen starrte es mit großen Augen ins knackende Holz. – »Es ist nichts, es ist wirklich nichts.« Sie unterhielten sich wie ein paar gute Freunde. Wenn die Frauenhand den Hals klopfte, nickte das Tier. – Zuletzt geriet sie ins Träumen. Der schlummernde Wald, die graue Chaussee . . . Es war, als wenn es ewig so fortgehen müßte. – Da trat aus einer Schneise der Förster, das Gewehr über die Schulter gehängt, den Hund an der Hand. Sie kannte ihn nicht. Aber sie war sofort erwacht und begann scharf zu traben, bis es lichter und lichter wurde ringsum. Die weite litauische Ebene tat sich wieder auf, aber welliger, freundlicher. Keine großen Dörfer und schmutzigen Katen, sondern Güter und aufleuchtende Herrenhausdächer inmitten kahler Parks. Das nächste: Bussardshof. Ein schönes Gut. Langgestreckte, neue Wirtschaftsgebäude, große Roßgärten, auf einem Hügel das kleine Schloß mit freundlich blickenden Fenstern, der helle Giebel aus entblätterten alten Linden lugend. Modeste ritt rasch den breiten, glatten Lehmweg, der sich bis zum Gut zog. Der Braune drängte wiehernd vorwärts, er witterte den Stall. Als er aber über einen Stein stolperte, strafte sie ihn mit der Peitsche, und als ihr eine Bretterbrücke nicht fest genug schien, ritt sie aufs Feld und setzte im Sprunge über den schmalen Wassergraben. Sie hatte die Empfindung, als ruhten viele bewundernde Augen auf ihr.

Als sie in den Park einreiten wollte, sprangen plötzlich aus dem Gebüsch leichtfüßige Mädchen. Taschentücher wehten, junge Stimmen lachten. »Verbotener Weg! Verbotener Weg!« Der Braune kniff die Ohren an und machte alle Anstalten zum Durchgehen. Da trat rasch eine junge Dame, mit einer Krone rotblonden Haares, die nicht mit im Gebüsch gewesen war, herzu und rief: »Um Gottes willen, er wirft sie noch 'runter! Laßt doch den Unsinn!« . . . Und sie faßte mit der schmalen, durchsichtigen Hand nach dem Zügel.

Der Braune besann sich, stand, Modeste glitt aus dem Sattel. Es waren die vier Kränzchenschwestern, die sie herzlich begrüßten.

»Na, 'runtergeworfen hätt' er mich auf keinen Fall, Judith,« sagte Modeste lustig.

Die jungen Mädchen umringten darauf das Pferd, beklopften es: »Seit wann reitest du denn eigentlich, Modeste?«

»Seit vier Wochen, wenn ihr's denn durchaus wissen wollt . . . Dies ist das Inspektorpferd – dies Fräulein Marga von Gadebusch, Fräulein Martha von Gadebusch, Fräulein von Meyners, Freiin von Bussard –« sie schloß mit einer graziösen Handbewegung die launige Vorstellung. Der Braune nickte verständnisinnig dazu. »Übrigens, ein eignes Pferd habe ich auch, eine vierjährige Stute, die jetzt angeritten wird.«

»Pfui, Inspektorpferd!« sagte die älteste Gadebusch lachend, »auf so was setzt' ich mich nie!«

»Ich auch nicht.«

»Ich auch nicht.«

Die Mädchen lachten laut.

Nur Judith von Bussard sagte ruhig: »Ich kenne den Braunen jetzt wieder. Es war früher mein Pferd. Ich habe so viel Zucker für ihn gestohlen! . . . Brauner, kennst du mich auch noch ?« – Der Braune hob die Nüstern nach ihr, sah sie mit glasigen Augen verwundert an und wollte näherkommen. »Seht ihr, so ist er immer, er durchsuchte mir förmlich die Taschen! Ich habe ihn aber auch nie enttäuscht . . .« Sie griff nach der weichen Nüster und streichelte sie. »Du guter, alter Brauner! Wär's auf mich allein angekommen, ich hätte dich nie verkauft.«

Die kleine Meyners rief dazwischen: »Laß das doch, Judith! Das macht mich ganz nervös. Er beißt am Ende.«

»Oh, er beißt mich ganz gewiß nicht. – Jedes Tier kennt seine Freunde. – Sieh selbst!« Judith hielt ihm die schlanken, durchsichtigen Finger hin.

»Ja, wir sehen schon!« drängte Annie.

»Hast du eigentlich Pferde wirklich so gern, Judith?« fragte die jüngste Gadebusch.

»Pferde nicht mehr als alle Tiere.«

Modeste sah sich derweilen nach einem Menschen um, ihr das Tier abzunehmen. Aber die jungen Mädchen beschlossen, es höchstselbst in den Stall zu führen und dann noch ein wenig durch den Wald zu bummeln, der mit seinen hochstämmigen Fichten sich direkt an den Park anschloß.

Judith sagte: »Wenn du Mama gleich begrüßen willst, Modeste, bitte! Tust du's eine halbe Stunde später, so wird sie's dir ganz gewiß auch nicht übelnehmen . . . Drin spielen sie Skat. – Papa, die Murrmann und der Bezirksadjutant. Du kennst ihn ja auch, er ziert sich so entsetzlich. Frau Murrmann, die ja deine spezielle Freundin ist, mag ich erst recht nicht. Wahrscheinlich tue ich beiden unrecht – aber er ist unnatürlich, und sie ist falsch.«

»Weißt du übrigens das Neueste, was sie heute losgelassen hat?« kolportierte eifrig die kleine Meyners. »Damit du orientiert bist, Modeste, sie liest jetzt mit dem Leutnant Byron – denke dir, Byron! . . . Also heute war von Wagners die Rede, und Judiths Mutter meinte: es wäre soweit ganz nett, wenn auch etwas gewöhnlich, aber was sie nicht ertragen könne, wäre das gewisse Grogparfüm, das er immer um sich verbreite. Er riecht tatsächlich immer nach Grog! – Und die Murrmann antwortete wörtlich: ›Ja, Frau Baronin, das ist ganz richtig – er riecht pestrant. Übrigens auch sonst mir ein sehr allopathischer Mensch . . .‹ Wir starben beinahe vor Lachen hinter ihrem Rücken bis auf Judith, die das unhöflich findet. Weil wir natürlich immer wieder lachen mußten, sind wir rausgegangen. Schließlich hätte sie es doch gemerkt. Sie wurde schon ganz unruhig.

Die beiden Fräulein von Gadebusch lachten wieder laut auf: »Ja, allopathisch und pestrant! Uns stehen noch die Tränen in den Augen.«

Als sie das Pferd unter Assistenz der Kutscher in den Stall gebracht hatten, sagte Modeste möglichst gleichgültig: »Es lohnt sich eigentlich gar nicht mehr das Absatteln. In einer halben Stunde spätestens muß ich wieder weg. Es wird jetzt so früh dunkel . . .« Und womöglich noch gleichgültiger fortfahrend: »Ich möchte euch auch nicht gerne stören.«

»Wieso?« fragte unbefangen die kleine Meyners.

»Ihr fühlt euch ja offenbar viel wohler ohne mich, Kinder. Mir wenigstens hat niemand mitgeteilt, daß das Kränzchen heute bei Judith ist.«

Die kleine Meyners dagegen eifrig: »Ach, wir sind ja bloß alle zufällig zusammengekommen.«

»Ja, zufällig!« echoten die Gadebuschs.

Die Tochter des Hauses aber sagte: »Das ist nicht wahr, Modeste. Ich habe das Kränzchen eingeladen bis auf die Murrmann, die mit dem Bezirksadjutanten zufällig gekommen ist. Dich habe ich absichtlich vergessen, weil du uns ja auch vergessen hast in dem halben Jahre . . .« Mit liebenswürdigem Lächeln fügte sie hinzu: »Aber jetzt, wo du freiwillig gekommen bist, bitte ich dich herzlich um Verzeihung. Du weißt, ich tue niemand wissentlich gerne unrecht – und wir waren doch einmal sehr befreundet.«

Die jungen Damen schlugen darauf die Augen etwas beschämt nieder, bis auf Modeste, die bei den letzten Worten rot geworden war: »Ich weiß recht gut, daß Judith mich nie ganz für ihresgleichen gehalten hat,« sagte sie scharf. »Wer nicht mindestens ›von‹ ist!« Zuweilen hatte der Stern von Barginnen demokratische Anwandlungen, jedoch nur aus gekränkter Eitelkeit.

Aber die schlanke Judith sah sie mit den großen, warmen Augen kalt an. »Wenn du mich dessen für fähig hältst, bitte, geh! . . . Ich halte dich nicht . . . Übrigens kenne ich diesen Hochmut gar nicht. Und Gott ist mein Zeuge, ob du nun Modeste Lindt oder ›von‹ Lindt heißt, ob du hübsch oder häßlich bist – ich würde niemals auf den Gedanken gekommen sein, wegen einer Zufälligkeit, für die wir beide doch nicht können, einen Unterschied zu machen, wie das wirklich vornehme Menschen wohl auch nie tun werden . . . Aber wir verstehen uns nicht, Modeste – wir haben uns vielleicht nie verstanden . . .« Trotzdem hielt sie ihr die durchsichtige Hand versöhnlich hin. »Wenn du's noch einmal mit mir versuchen willst – gern. Ich bin nicht hochmütig – sei du's auch nicht!«

Es entstand eine schwüle Pause, wo die beiden Kürassierdamen sich fragend ansahen und die kleine Meyners Modeste ermunternd in die Seite stieß.

Modeste war keine weiche Natur, aber sie hatte einen sicheren Instinkt für das Gute bei andern Menschen. Sie griff nach der durchsichtigen Hand in dem Augenblick, als sie eben zurückfallen wollte. »Ich glaube, daß du besser bist als wir alle, Judith.«

Die beiden Mädchen küßten sich.

Die Fräulein von Gadebusch aber waren nicht ganz einverstanden mit dieser Adelsauffassung. Ihrer Ansicht nach kamen adlige Jungfrauen mit mindestens einer fünfzackigen Krone auf diese Welt, unter besonderer Zustimmung des Himmels – und sie gehen am besten aus dieser Welt mit einer neunzackigen Krone und unter noch hörbarem Halleluja der Erzengel.

Die kleine Meyners aber, wie alle gutmütigen Törinnen im Grunde sehr friedfertig, wog nicht viel, sondern rief herzlich erfreut: »Gott sei Dank, Kinder! Das wäre ein zu verdorbener Nachmittag gewesen sonst.«

Wie um den Frieden zu besiegeln, begab sich darauf das Kränzchen in sämtliche Ställe des Hofes. Der Hof in riesigen Dimensionen, alles Reichtum und Ordnung. Niemand außer Judith ahnte, daß hier eine Frauenhand die Zügel führte. – Im Pferdestall blieben sie am längsten. Die Halfterketten klirrten. Die glatten Tiere schnoben gemächlich in die häckselgefüllten Krippen. Bussardshof hatte die größte Remontezucht. Die jungen Damen verstanden nicht viel von Pferden bis auf die Fräulein von Gadebusch, die überlegen über vornehmes Exterieur und schöne Gänge redeten. Sie hatten eine natürliche Abneigung gegen alles Kleine und Plebejische auch bei Tieren . . .

Dann unterhielt sich das Kränzchen, in dem breiten Mittelgang zwischen den Ständen auf und ab gehend, über Rußland.

»Gibt's da wirklich so viel Wölfe?« fragte die kleine Meyners neugierig.

»Auch Bären?« forschten die Kürassierdamen.

Modeste hatte sich eigentlich vorgenommen, Wundergeschichten von dem Axsilschen Gute zu erzählen, trotzdem sagte sie ehrlich: »Kinder, wenn ihr nach Rußland eingeladen werdet, geht lieber nicht! Wölfe habe ich keinen einzigen gesehen – aber auch sonst nichts. Und in dem Rußland, wenigstens wo ich war, da sprechen die Leute nicht mal Polnisch, sondern ganz gemeines Litauisch. Und wenn sie den Nachbar besuchen, da nehmen sie gleich Nachtzeug mit, so weit liegen die Güter auseinander. Ich gehe jedenfalls freiwillig nie wieder hin.«

Während Rußland behandelt wurde, wobei die Kürassierdamen etwas schieläugig bemerkten, daß es mit dem Adel jenseits des Leppohne wohl nicht sehr weit her sei, trat von der andern Seite eine Dame im Reitkostüm in den Stall. Es war Frau von Bussard, Ende der Vierziger, sehr schlank, mit großen grauen Augen von durchdringender Klugheit. Sie sah die Mädchen, hörte und lächelte.

Martha von Gadebusch sagte eben: »Axsils meinen wir damit natürlich nicht, Modeste! Axsils sind Grafen, und Grafen sind immer vornehm.«

Die kleine Meyners bemerkte dazu enthusiastisch: »Ja, Grafen, Grafen! Gnädige Frau heißt jede, aber Gräfin . . .«

Die Gadebusch hoben ihre Riesengestalten unwillkürlich höher.

»Mama war auch Gräfin, und sie hat sich lange nicht gewöhnen können . . . Das verstehen wir so gut! Marga und ich haben uns darum das Wort gegeben, nicht anders als standesgemäß, absolut standesgemäß zu heiraten. Er braucht nicht gerade Graf zu sein, wie Mama am liebsten wünschte, aber alter Adel. Darum ist uns auch, außer den Kürassieren und allenfalls noch den Allensteiner Dragonern, das Tanzen mit Leutnants gräßlich!«

Frau von Bussard kam leichtfüßig und ungesehen näher, klopfte der Sprecherin freundlich auf die Schulter, die erschreckt zusammenzuckte: »Ihr werdet schon billiger werden, Kinder, viel billiger! In fünf Jahren tut's dir und deiner Schwester bereits einer vom Ersten Regiment, und in zehn Jahren seid ihr vielleicht ganz zufrieden, wenn nur noch ein Dreiundvierziger käme . . . Ihr müßt überhaupt nicht solchen Unsinn sprechen! Wer Körbe austeilen will, muß doch erst Anträge haben, dann ist's ja noch reichlich Zeit . . . Ihr sitzt für meinen Geschmack viel zu viel zu Hause bei Rangliste und ›Kreuzzeitung‹ und tut sonst absolut nichts . . . Ja, ja, Marthachen, sieh mich nur nicht so entgeistert an! Ich war immer von etwas herber Ehrlichkeit . . . Man versumpft mit solchen Ansichten wie ihr . . . Ihr seid doch äußerlich noch recht junge Dinger, ihr solltet's aber auch innerlich sein. Was sind das für Marotten in euern Köpfen! . . . Ich habe mir die Gräfin sehr schnell abgewöhnt. – Du weißt, Bussards sind alles andre als Uradel. Und deine Mutter, liebes Kind, wird sich hoffentlich an die Frau von Gadebusch nun allmählich auch gewöhnt haben, obgleich das wirklich Uradel ist . . . Wenn zum Beispiel heute der junge Graf Sohme um Judiths Hand anhielte – verlaßt euch darauf, ich gäbe sie lieber dem ersten besten Inspektor, als diesem Majoratstrottel!« Das blasse Gesicht war rot geworden beim Sprechen, und die klugen Augen flimmerten in herber Ironie. – Jetzt erst schien sie Modeste zu bemerken: »Endlich wieder zurück? – Du warst recht lange weg! . . . Das Reitkleid steht dir übrigens ausgezeichnet. Du bist überhaupt eine kleine, vielleicht eine große Beauté geworden derweilen . . . Man hat sich in eure Gesichter so eingesehen, daß man wirklich nicht mehr recht weiß . . .« Modeste knickste mädchenhaft und wollte die Hand küssen. »Um Gottes willen,« wehrte die Dame. »Einen Reithandschuh küssen! Das fehlte noch . . . Na, überhaupt die ganze Handküsserei!« sie schlug verächtlich mit der Reitgerte in die Luft. »Mit nichts wird mehr gemogelt . . . Wem ich ehrlich die Hand gebe, der soll sie mir auch ehrlich wiedergeben. Am Druck merke ich dann auch gleich, wes Geistes Kind er ist. Aber dieser billige Handkuß, der in neunundneunzig Fällen eine infame Lüge ist . . . Dich meine ich natürlich damit nicht, Modeste, aber ich erlasse ihn dir, ich erlasse ihn dir wirklich!« – Die jungen Damen lächelten verlegen. »Und nun, Kinder, verratet mich nicht!« schloß sie lustig. »Ich habe mich heimlich gedrückt. Ich muß unter allen Umständen noch eine Stunde reiten.« – Sie saß rasch noch im Stall auf. Eine Minute später flog die elegante Reiterin im langen Galopp durch die Parkallee hinaus aufs Feld.

Die Mädchen blieben zurück.

»Du, Judith,« rief die kleine Meyners bewundernd, »deine Mutter sieht doch fabelhaft vornehm aus!«

Judith antwortete: »Sie ist aber auch die vornehmste Frau, die ich kenne.«

Dann schlenderten sie in den Wald. Voran die Tochter des Hauses mit den Gadebuschschen Damen, dahinter Modeste und Annie Meyners.

Modeste horchte auf, als nach der üblichen Chronique scandaleuse der Gegend das kleine Fräulein sagte: »Es wird dich vielleicht nicht interessieren – du kennst ihn wohl kaum –, aber der Falkner von Öd verkehrt jetzt sehr viel bei Bussards, eigentlich ausschließlich . . . Und bei unserm Sommerfest hättest du dabei sein müssen – er war auch da und hat auch getanzt, aber wieder nur mit Judith. Ich sage dir,« fuhr sie enthusiastisch fort, »ich hätte nie geglaubt, daß Judith so schön aussehen könne. Ja, schön! Es war nur eine Stimme . . . Und sie tanzte wie eine Königin! Selbst du hättest nicht mitkönnen, Modeste. Weißt du, ich habe dich furchtbar lieb – aber so vornehm kannst du nie aussehen . . . An dem Abend soll sie drei Körbe ausgeteilt haben – denke dir, drei! . . .« Und als gute Freundin tuschelte sie noch dazu: »Die beiden, Marga und Martha, waren so geschmacklos angezogen wie immer. Kein Mensch beachtete sie. Sie waren ganz grün vor Wut. – Als der Leutnant von Häwel sie endlich zu einer Polka aufforderte, da weinten sie beinahe vor Glück.«

Modeste machte ein ziemlich gelangweiltes Gesicht. Sie hatte sich sehr in der Gewalt. Nie waren ihre Augen kühler, als wenn ihr Herz heißer pochte. »Warum verloben sich denn die beiden nicht?«

»Falkner mit Judith? . . . Ich weiß auch nicht, Modeste. – Man wird nicht recht klug. Von ihm glaub' ich bestimmt, daß er gern möchte – von ihr nicht. Sie ist gegen niemand so zurückhaltend wie gegen ihn . . . Er soll ja auch schon das Denkbarste hinter sich haben! Und Judith denkt sehr streng . . . Ich weiß nicht . . . aber solche Männer sind doch eigentlich gerade die interessantesten . . . Ohne Grund wird man auch nicht so früh grau. Deswegen trägt er auch das Haar kurz, damit man's nicht sieht. Er ist wie alle Männer sehr eitel! . . . Übrigens weißt du, daß gerade jetzt weiße Haare modern sind, sogar bei Frauen?«

Modeste tat gleichgültig: »Ich finde das alles gar nicht so furchtbar interessant, Annie!« Und einer plötzlichen Eingebung folgend, rief sie zu den andern Mädchen hinüber: »Gehst du dieses Jahr wieder an die Riviera, Judith? – Ich beneide dich immer so um die wundervolle Reise.«

Die schlanke, reizende Gestalt wandte sich im Gehen, das Gesicht von einem rosigen Schimmer überhaucht: »Nein, ich gehe nicht – ich gehe ganz bestimmt nicht.«

»Auch wenn der Arzt wünscht?«

»Auch wenn der Arzt wünscht!«

Von da ab hatte die kleine Meyners eine sehr schweigsame Begleiterin.

Als die Mädchen nach einer guten Stunde aus dem Walde in den Park zurückkehrten, lockte sie das Borkenhäuschen. Es lag auf einem Hügel und beherrschte die Ebene. Sie standen und schauten. Vor ihnen ein weiches, träges Dunstmeer, am Horizont die blasse Sonne im Versinken. Der Wind fächelte eisig, Blätter raschelten. Über der Weite das dumpfe Schweigen, das Winterahnen. – Es war ein weher Zauber, den auch die Mädchen fühlten . . . Da tauchte auf dem Landweg, den Modeste geritten, etwas Dunkles auf, ein Wagen – ein Pferd – ein Mensch . . . Der Herbst trügt mit seinen schattenhaften Umrissen.

»Erwartet ihr Besuch?« fragte Martha Gadebusch.

»Eigentlich nicht,« antwortete Judith langsam. Aber, als wenn sie sich dieser halben Lüge schämte, fügte sie rasch hinzu: »Es ist Herr von Falkner.« Und sie wandte das Gesicht nach dem Herrenhaus, wo die ersten Lichter aufflammten.

Der Wagen kam mit Windeseile näher. »Es sind seine Jucker,« rief die kleine Meyners. »Jetzt erkenne ich ihn auch. Er kutschiert selbst.«

»Die Braunen traben wundervoll aus!« bemerkten sachlich die beiden Gadebusch.

»Wir könnten ihm entgegengehen,« riet Modeste. »Ich habe die Jucker noch nie ordentlich in der Nähe gesehen. Es ist doch auch nichts dabei. Woher weiß er denn, daß wir ihn schon gesehen haben?«

Die Mädchen standen unschlüssig, nur Judith antwortete nervös: »Ich tu's auf keinen Fall.«

»Ich tue es aber auf jeden Fall,« beharrte Modeste.

Und im Moment war Judith auch schon gegangen, rasch, ohne Gruß.

Die andern folgten langsam dem Stern von Barginnen. Aber noch ehe sie den Parkweg erreicht hatten, klang der scharfe Trab ganz nahe. Die Jucker sausten vorüber, Herr von Falkner grüßte mit der Peitsche. – Die Mädchen sahen ihn gerade noch. – Plötzlich parierte er kurz, sprang vom Sitz. Judith trat aus einem Seitengang. Modeste sah, wie das Mädchen ihm lasch die Hand reichte und wie er diese Hand küßte . . . Die jungen Damen kamen dazu. Er gönnte jeder ein höfliches Wort, den Handkuß keiner mehr.

Sie traten in das Haus.

Mit diesem Hause verbanden sich für Modeste die schönsten Jugenderinnerungen. Da war alles warm, abgetönt, vornehm. Die ganze Zimmerflucht bewohnt – im Sommer lauschig kühl, im Winter prickelnd gemütlich. Eine freundliche Ordnung, ein lächelnder Reichtum. Überall der Duft nach Heimat, Familie. Oh, Modeste war nicht immer treulos gewesen, berechnend! Sie gedachte so gern eines Geburtstages hier – es war einer ihrer besten Tage im ganzen Leben gewesen. Judith hatte den Keuchhusten gehabt, schien kaum genesen, die andern Kinder mieden das Haus, nur Modeste kam allein, ohne Furcht, das Herz voll Erwartung. Im Kamin flackerten die großen Scheite. Die beiden Mädchen saßen davor und freuten sich, wie die Tannenäpfel zischten, die sie in die Glut warfen. Daneben der Geburtstagstisch mit der Miniaturküche, der Torte. Modeste hielt andächtig eine Riesenpuppe, die fast größer war als sie. Auf dem Teppich ging Frau von Bussard auf und ab, rasch, leise, wie es ihre Art. Damals noch eine sehr hübsche Frau mit warmen Augen . . . Die Kinder jauchzten, die Puppe schrie Mama. Und schließlich rissen sie der Unglücklichen vor lauter Liebe die blonde Perücke ab, saßen darauf wie versteinert, bis die Mutter, deren Geist wohl in vergangenen Zeiten lustwandeln mochte, endlich lächelnd hinzutrat: »Das schadet gar nichts, Kinder! Verbittert euch nur nicht wegen einer Puppe den schönen Tag.« . . . Und sie brachte selbst Himbeerlimonade und Baumkuchen. Dann leimten sie gemeinsam der Puppe den Schopf wieder fest. Sie wurden dabei alle so lustig, daß sie in der Puppenküche noch Mandelkuchen zu backen versuchten und ganz warm davon aßen. – Modeste erinnerte sich niemals mehr so köstlich gegessen zu haben! – Beim Abschied sagte sie dann treuherzig zu Frau von Bussard: »Ach Tante, bei euch möchte ich viel lieber bleiben!« Und Judith umarmte sie und bat auch. – Auf der Rückfahrt in dem geschlossenen Wagen war ihr so weh ums Herz, wie nie, und als die Mauern der Schloßeinfahrt dröhnten, weinte sie bitterlich.

Der Tag kehrte den beiden Kindern nicht wieder zurück. Sie wurden eben groß, die beiden Kinder. Was sie früher einte, das schied sie jetzt.

Aber auch als sie heute von dem Diener geleitet in die Wohnung traten, wurde Modeste der Unterschied zwischen Barginnen und Bussardshof schmerzlich klar. In allen Zimmern brannten festlich Lampen, die Möbel glänzten warm. Vor dem Kamin war ein Spieltisch aufgestellt. Herr von Bussard, die Murrmann, der Bezirksadjutant spielten ihre Partie. Der Hausherr streckte das umwickelte Gichtbein gegen die Flammen – ein alter, griesgrämiger Mann mit rollenden Augen und emporgesträubter Tolle. Niemand hatte seinerzeit begriffen, daß die reiche, reizende Komteß gerade diesen Mann wählte, ohne zu fragen oder zu sagen. Verlobung und Hochzeit überhasteten sich. Das große Gut verschuldet, der Besitzer ein zänkischer Reaktionär, von dem man sich gern erzählte, daß sein Vater, seligen Angedenkens, im Revolutionsjahr auf den Krugtisch des Dorfes gesprungen war und, kirschrot vor Begeisterung, geschrien hatte: »Wir brauchen keinen König, wir wollen auch keinen König haben!« – Der Sohn sah dem Vater verzweifelt ähnlich, nur daß er lieber Demokraten hängte, als Könige . . . Der alte zornmütige Herr, der eben gegen den Leutnant sehr ausfällig gewesen war, machte einen Versuch aufzustehen, als Modeste kam: »Geht nicht, geht wahrhaftig nicht.« Er zog furchtbare Grimassen. Und Frau Murrmann, mit ihren falschen, warmen, braunen Augen, mußte beruhigend sagen: »Aber Herr Baron! Das ist doch nun einmal nicht anders! Sie sind ja bei sich zu Hause. Meinem Mann ist der Pantoffel direkt das Universum.«

Die Mädchen zogen sich nach dem »Universum« schleunigst in ein Nebenzimmer zurück, um unter verzweifeltem Gekicher Bildermappen zu besehen.

Von Zeit zu Zeit hörte man den Alten knurren: »Wo ist die Lindt geblieben? Bildhübsche Marjell geworden. – Soll bißchen herkommen!«

Herr von Falkner promenierte derweilen schweigsam durch die Zimmer.

Eine Viertelstunde später kam die Hausfrau, frisch und angeregt vom Ritt, zurück zu den Mädchen. »Habt ihr denn auch alles, Kinder?« Und sie inspizierte die Teetassen. »Falkner von Öd soll ja auch da sein, Judith! . . . Du weißt doch, er trinkt keinen Grog.« . . .

»Ich habe schon Mosel bestellt,« antwortete die Tochter.

Im Augenblick trat auch Herr von Falkner in das Zimmer. »Küsse die Hand, Baronin. Bin mit allem versorgt. Die Baronesse ist viel gütiger, als ich verdiene.«

Die Hausfrau reichte ihm die Hand und sagte gleich darauf: »Sie können wirklich noch immer keine Hand geben, lieber Falkner. Das ist doch kein ehrlicher Händedruck! . . . Wenn ich nicht fest zufasse, fällt Ihre einfach wieder 'runter. – Wissen Sie, daß das ein Charakterzeichen ist?«

»Ein gutes, Baronin?«

»Im Gegenteil! So geben Leute die Hand, die im Grunde ein sehr kühles Herz haben.«

»Vielleicht habe ich das auch.«

»Nein, das haben Sie nicht, Baron!« Sie musterte ihn lange. »Wie Sie jetzt so dastehen, erinnern Sie doch frappant an Ihren verstorbenen Onkel. Eine ganz andre Figur, ein ganz andres Gesicht – aber Sie haben den Familienzug.«

»Und der wäre?«

»Der Mund.«

»Nicht etwa ein besonders hübscher Mund!« fügte sie lachend hinzu, »aber ein Mund, von dem man nie weiß, ob er sehr hart ist oder sehr weich.«

»Herr von Falkner verbeugte sich mit halbem Lächeln. »Nicht gerade schmeichelhaft für mich, der Vergleich mit meinem Onkel. Denn wenn ich einen Menschen auf Gottes Erdboden nicht habe ausstehen können, so war es dieser alte Griesgram.«

Darauf die Frau ernst: »Tun Sie ihm nicht unrecht . . . Ich kannte ihn ganz gut . . . Er war eine unglückselige Natur, verbittert vor der Zeit, aber so vornehm im Empfinden wie einer, wenn sie nur die rechte Stelle trafen . . . Ich möchte sogar glauben: er ist unglücklich geworden nicht dadurch, daß er niedriger, sondern dadurch, daß er höher dachte als alle andern . . . Ich leide von niemand, auch von Ihnen nicht, Herr von Falkner, daß man diesen Mann so grundfalsch beurteilt. Niemand hat ein Recht dazu, denn niemand kennt ihn wirklich.«

Herr von Falkner schwieg mit einem leichten Achselzucken. Der Frau aber flammten die Augen einen Moment heiß und böse.

Auch das Nebenzimmer schien der Unterhaltung gelauscht zu haben, denn der Hausherr rief höhnisch: »Jawohl! Verkappter Roter. Kerl mir immer Vomitiv . . . Ganz Ihrer Ansicht, lieber Falkner. Trink' auf Ihr Wohl, auf Ihr ganz spezielles Wohl!«

Darauf sagte die Frau kalt: »Sie haben sich nie leiden mögen. Das hätte auch sonderbar zugehen müssen . . .«

»Bin auch stolz darauf!« rief der Hausherr wieder, »alter arroganter Ekel! Wollte immer was Besonderes sein. Ist ihm aber nicht geglückt, Gott sei Dank . . . Prosit, lieber Falkner! Tuckst mir zwar im Bein wie verrückt, aber so was muß begossen werden.«

Herr von Falkner sah die Frau an und tat nicht Bescheid.

Es war eine kleine Szene, wie sie bei dem galligen Temperament des Hausherrn häufiger vorkam. Dennoch mußte sie beiden heute tiefer gehen, denn Frau von Bussard zog sich stillschweigend in ihr Arbeitszimmer zurück, während Herr von Bussard das Spiel kurz abbrach. Er wurde zwar später wieder sehr aufgekratzt, erzählte Jagdgeschichten und kräftige Witze, so daß es Frau Murrmann für diplomatischer hielt, die Burgunderflasche heimlich außer Reichnähe zu schieben – dennoch war der Zwang auch bei ihm augenscheinlich.

Die Mädchen fanden sich wieder im Kaminzimmer ein, umringten den Leutnant. Sie wollten Gewißheit haben wegen des Reserveballs. Der Bezirksadjutant, der aus übertriebener Vornehmheit immer langsam sprach und noch langsamer dachte und sich auf die allerhöchste Adjutantur auch äußerlich vorbereitete, indem er das Ohr stets nach rechts neigte, wie um etwaige Ordres hoher Vorgesetzter möglichst dienstlich entgegenzunehmen – versprach, was er versprechen konnte, das heißt nichts. Das Kränzchen aber drängte, forderte Gewißheit. Es entstand ein lustiges Geplänkel. Frau Murrmann schwelgte in Fremdwörtern, Gekicher antwortete.

Modeste beteiligte sich nur halb. Herr von Falkner und die Tochter des Hauses waren nicht bei dem fröhlichen Kampfe. Wo waren sie? –

Unbemerkt verlor sich darum der Stern von Barginnen gleichfalls in die andern Gemächer, blätterte zum Schein in einem Album des Salons, lugte ins Speisezimmer, wo der Diener gerade eine riesige Fruchtschale behutsam auf die Tafel setzte. Vor Judiths Boudoir, dem letzten der Flucht, deren Zimmer aber weit geöffnet waren, zögerte sie. Gedämpftes Gespräch. In einem Fauteuil Judith, die Hände im Schoß, die Augen niedergeschlagen. Vor ihr auf einem Hocker: Falkner von Öd, zu dem schönen Mädchen gebeugt. Er sprach allein. Das sonore Organ schmiegsam, weich. Zuweilen klang ein Wort deutlicher – nichts Gefährliches, nichts Intimes. Er erzählte von dem Süden. Aber Modeste hatte die Empfindung, daß er dem Mädchen so erzählte, als sei sie für ihn die einzige Frau auf der Welt. Sie glaubte in dem blassen, reizenden Gesichte zu lesen, wie der Ton dieser Männerstimme ihre Nerven sanft streichelte, ihre Seele zärtlich umfing. Sie fühlte beinahe selbst den Reiz, die Gefahr . . . Es war doch eine köstliche Einsamkeit, so zu zweien! – Sie wußte auch nicht recht, ob der Mann die Frau wirklich liebte, oder ob sich hier nur die Kunst des großen Verführers bewährte, der die Frauen kennt, ihre Herzen öffnet, nach dem Allerheiligsten hascht mit skrupelloser Hand. – Oder ob sie einen Traum träumten, alle beide? . . . Sie horchte noch eine Weile. Und dann wußte sie bestimmt, daß die Frau wenigstens den Mann liebte, daß sie nur die Augen niederschlug, weil ihre ganze Seele an seinen Lippen hing, daß sie nur darum die Hände krampfhaft im Schoße hielt, weil jede Fiber sich nach der Umarmung sehnte. – Modeste stand atemlos – zum erstenmal sah sie die Liebe, die ganze, große, reine. Und es ward ihr seltsam ums Herz. Sie spürte den heißen, schönen Hauch – wie fremd war der ihr doch! Sie fühlte den gewaltigen Strom – es war ein uferloser Strom! – Sie sah das Wunder der Liebe. Und sie begriff nicht . . . In ihr begann es zu wogen, zu drängen – heiße Instinkte, verworrene Gedanken. Die rote Scham trat ihr brennend ins Gesicht. – Sie würde niemals »so« lieben können, niemals – das ward ihr Gewißheit. Mit dieser Gewißheit rang sie, unter dieser Gewißheit stöhnte sie. Und sie fühlte deutlich, wie sie beim Schauen schlechter wurde, wie das Unheilige sie durchbebte beim Allerheiligsten . . . Und doch lag auch ihr eine unbedingt zwingende Macht in dem Bilde, das sie sah. Sie konnte sich nicht rühren, sie hätte niemals mit einem kühlen Lächeln zu den beiden hineingehen können, wie sie ja eigentlich gewollt, um lächelnd zu sagen: »Verzeihung, wenn ich störe . . .« Da rutschte ein Bilderrahmen auf der Etagere. Judith zuckte zusammen, Herr von Falkner sah sich ruhig um, sprach dann weiter. Beide hatten die Lauscherin gesehen.

Modeste ging zurück, ertappt, beschämt.

Die Debatte im Kaminzimmer hatte derweil ihr Ende erreicht, der Reserveball war gesichert. Später kamen Judith und Herr von Falkner dazu, als wäre nichts geschehen. ›Sie ist auch eine Heuchlerin!‹ dachte Modeste.

*

Das Abendessen war spät.

Herr von Falkner führte die Hausfrau. Die Unterhaltung floß spärlich.

»Nun, haben Sie sich endlich bei uns eingelebt, lieber Nachbar?« fragte Herr von Bussard.

»Das werde ich nie,« klang es kurz zurück.

Die Hausfrau lächelte freundlich: »Es ist eben nicht Ihr Land, Baron.«

»Nein, es ist ganz gewiß nicht mein Land . . . Aber ich wüßte auch nicht, was sonst mein Land wäre.«

»Arbeiten Sie, lieber Falkner! Die Arbeit hilft über alles hinweg.«

»Mir nicht, gnädige Frau. Zur Arbeit gehört Schneid, und den habe ich nicht, habe ihn wenigstens nicht mehr . . . Mir wird alles leid . . . Ich habe überall das Gefühl der Halbheit. Das ist Naturanlage, für die man nicht kann . . . Wen eben der Teufel höchst persönlich gesegnet hat . . .«

»Nicht weiter!« mahnte die Hausfrau.

Da lachte er wieder kurz. »Ja, wenn mich der Teufel wenigstens gesegnet hätte! . . . Was wollen Sie? Der Teufel ist ein Mann, mit dem sich paktieren läßt. Der Teufel hat noch keinen seiner Schutzbefohlenen im Stich gelassen. Der Kontrakt wird gezeichnet, gehalten . . . Wir sind die Feiglinge, die ihn immer brechen wollen, nicht er.«

»Versündigen Sie sich nicht!«

»Also brechen wir ab, gnädigste Frau.«

»Das möchte ich nun wiederum nicht,« antwortete sie ruhig. »Sie sind mir ein lieber Bekannter, ein sehr lieber Bekannter. – Sie könnten vom Leben so viel haben, wenn Sie wollten. Aber Sie wollen eben nicht! . . . Ich möchte Sie so gern dazu bringen, wenigstens zufrieden zu werden. Aber Sie haben Falknersches Blut. Das ist ein so furchtbar schweres Blut . . . Ich glaube, noch jeder Falkner hat sich sein Glück höchst eigenhändig verbaut . . . Sie verlangen vom Leben alles, darum bekommen Sie nichts . . . Sie vergessen, daß überall mit Wasser gekocht wird.«

Er fuhr sich nach dem Kopf. »Um Gottes willen, Baronin, nicht dieses Wort! . . . Es stimmt. Gewiß! Es wird überall mit Wasser gekocht, sogar mit schmutzigem. Aber wenn es das Glück des Lebens ausmachen soll, mit derselben trüben Lehmsuppe vorliebzunehmen, mit der alles vorliebnimmt – was hat das Leben dann überhaupt noch für einen Sinn?«

»Lieber Falkner: den Lebenskreis auszufüllen, den man ausfüllen muß.«

»Gewiß. Nämlich, wenn noch etwas auszufüllen ist.«

»Sind Sie wirklich schon so alt, Baron?«

»Ja, das bin ich allerdings.«

»Aber Sie werden wieder jung werden, Baron!«

»Ich werde ganz gewiß nicht wieder jung werden. Ich werde weitervegetieren, immer zwischen Rausch und Katzenjammer, und werde das Schlechteste tun, wo ich das Beste hätte tun können.«

»Es ist unser alter Streit,« schloß sie.

»Und wird's wohl bleiben.«

Die Unterhaltung war leise geführt worden, gesellschaftlich. Zwei Menschen, die sich nicht verraten.

Als aufgestanden wurde und Herr von Falkner die Hausfrau in den Salon führte, sagte sie langsam: »Sie haben vielleicht doch recht. Sie können so wenig über sich hinaus, wie Ihr Onkel über sich hinaus konnte. Ihr Vorleben kenne ich nicht, möchte es auch nicht kennen – aber vom Leben haben Sie nie etwas gehabt, werden vielleicht nie etwas haben . . . Erst heute abend habe ich Sie ganz verstanden: Sie verbluten sich nutzlos für irgendein Phantom. – Das sind die schlechtesten Leute gewiß nicht, und meine guten Wünsche werden Sie stets begleiten . . . Das ist nicht etwa Phrase! – Ich hasse die Phrase . . . Glauben Sie vielleicht, daß ich glücklich bin? – Bei Gott, ich bin es nicht! . . . Aber ich trage ein selbstgewähltes Schicksal, und hoffentlich trage ich es anständig . . . Noch eins: es wird mir sehr schwer, es Ihnen zu sagen, aber es muß gesagt sein – muß gesagt sein, nach unsrer Unterhaltung heute bei Tisch. Ich werde stets Ihre mütterliche Freundin bleiben – wie gern wäre ich Ihnen mehr, viel mehr gewesen! – aber ich bitte Sie, unser Haus von heute ab nach Möglichkeit zu meiden, Herr von Falkner.«

Er trat befremdet zurück. »Ich verstehe nicht . . . Sie berauben mich des einzigen Ortes, wo ich wirklich gern gewesen bin . . .«

»Das weiß ich, Herr von Falkner. Aber Sie berauben mich dafür meiner Tochter.«

»Gnädige Frau!«

»Sie tun es in der Tat! Die Gewißheit war mir allerdings schon lange – aber erst heute weiß ich, daß es nicht sein darf. Judith verdient viel mehr, als Sie ihr je geben könnten.«

»Dann bitte ich um eine letzte Aussprache mit Ihrer Tochter.«

»Ich gewähre sie Ihnen nicht.«

»Sie sind hart!«

»Ich bin nur vernünftig.«

»Ihr letztes Wort, Baronin?«

»Mein letztes . . . Wir gehen diesmal schon vor Weihnachten nach der Riviera.«

»Nach der Riviera?« Er starrte einen Augenblick finster vor sich hin. »Sie haben recht, gnädige Frau . . . Es ist ein Phantom – aber ich werde niemals von diesem Phantom lassen . . . Ich danke Ihnen.« Er küßte ihr die Hand. Während er sich niederbeugte, wurde der Frau das Auge feucht.

»Leben Sie wohl, Herr von Falkner. Auch ein andrer konnte nicht von seinem Phantom . . . Und wenn Sie jemals im Nachlasse Ihres Onkels intime Briefe ohne Unterschrift finden sollten – sie sind von mir . . . Denn auch mein Schicksal hieß: Falkner von Öd.«

*

Es war lustig gewesen nach dem Abendessen. Musik, Tanz. Der Leutnant hatte gespielt, die Mädchen hatten gehüpft. Nur Herr von Falkner schien gar nicht bei Stimmung, er war auch der erste, der den Wagen bestellte.

Schon?« fragte Judith leise.

»Ja, gnädiges Fräulein.«

Die andern vermißten ihn nicht. Seine Art berührte sie immer fremd.

Frau von Bussard sagte en passant: »Ich hatte Ihnen eigentlich Modeste mitgeben wollen – ich finde gar nichts dabei – denn allein zurückreiten darf sie natürlich auf keinen Fall.«

»O bitte, Baronin. Ich bringe Fräulein Lindt sehr gern nach Haus, vorausgesetzt natürlich, daß sie will.«

Modeste wollte sofort.

Der Abschied war sehr rasch. Herr von Falkner drängte. Judith war mitgegangen vors Haus. Er schien es nicht zu bemerken. Erst auf dem Jagdwagen, als er schon die Zügel in der Hand hielt, besann er sich: »Verzeihung, Baroneß, ich vergaß . . .« Er stieg noch einmal ab und küßte dem Mädchen die Hand, ohne sie anzusehen. Dann fuhren sie ab in einem Trab, vor dessen Flüchtigkeit Modeste graute.

Draußen Novemberkühle. Ein schleichender Mond. Die Ebene im wallenden Grau.

»Es wird heute nacht reifen,« sagte Modeste.

»Es hat schon gereift,« erwiderte er.

Sie wußte nicht recht, was er meinte. Die Bäume schimmerten doch noch nebelnaß.

Es ging den Lehmweg entlang. Die Jucker schnaubten und drängten nach dem Stall. Er ließ ihnen die Zügel. Die Zigarette war ihm ausgegangen. Er saß vornübergebeugt, den Mantelkragen hoch, stumm und unbeweglich, nur zuweilen zuckten die Hände mit den braunen Fahrhandschuhen.

Auf der Chaussee parierte er plötzlich zum Schritt: »Können Sie zaubern, gnädiges Fräulein?« . . .

Sie lachte.

»Lachen Sie nicht! Können Sie mir fünf Jahre meines Lebens zurückzaubern, nur fünf?«

»Ich wüßte nicht, wie ich das anfangen sollte, Herr von Falkner.«

»Ich auch nicht, gnädiges Fräulein.«

Sie waren derweil in den Wald gekommen. Hüben und drüben die dunkeln Stämme, starr, nebelverhüllt. Zuweilen schüttelten sich die Fichten wie vor Nässe – es tropfte zögernd. Dann begannen die Nadeln zu singen, verschlafen, leise. Schwere, eisige Luft kroch heran. Modeste fröstelte. Es war so eine hoffnungslose Novembernacht. – Das schöne Mädchen blickte sich nach dem Kutscher um – der hohe Kokardenhut des Schlafenden wackelte.

»Er hat die ganze Nacht auf sein müssen,« erklärte Herr von Falkner, »Übrigens versteht er kaum ein Wort Deutsch . . . Galizier. Kam zugleich mit den Pferden.« Dann schwieg er wieder und griff nach der Peitsche herüber.

In dem Augenblick fragte Modeste leichthin: »Wie gefällt Ihnen Judith?«

Er ließ die Peitsche stecken: »Wie gefällt sie Ihnen?«

»Ich weiß nicht.«

»Ich weiß auch nicht.«

»Ist das wahr, Herr von Falkner?«

Er drehte sich langsam zu ihr und sah sie an. »Ich weiß nicht, das heißt, ich weiß, daß sie ein edles, großherziges Geschöpf ist, der wahrste Mensch, den ich jemals sah.«

»Sie fahren sehr oft hin, Baron?«

»Ja.«

»Werden Sie bald wieder hinfahren?«

»Nein.«

Modeste schüttelte den Kopf. »Wer's glaubt, wird selig.«

»Dann werden Sie wohl glauben und selig werden müssen, meine Gnädigste.«

Zu Vertraulichkeiten neigte Herr von Falkner offenbar nicht. Er pfiff nur leise, die Tiere zogen an, die Peitsche schwirrte leicht. »Haben Sie Angst?«

»Wovor?«

»Wenn ich die Schinder mal austraben lasse, was sie können.«

»Lassen Sie sie ruhig austraben!«

»Ich bin gerade so in der Stimmung . . . Hoffentlich kommt uns kein Fuhrwerk in die Quere, sonst gäb's ein Unglück.«

»Dann gibt's eben ein Unglück,« antwortete Modeste ruhig.

Er sah sie von der Seite an. »Sie haben Schneid, viel Schneid, meine Gnädigste . . . Also en avant

Der Stern von Barginnen hatte von diesem Augenblick an nur das Gefühl des Schwindels. Die Luft pfiff, die Bäume flogen. Kaum daß die weißen Chausseesteine rasch aufzuckten und wieder verschwanden . . . Es war eine Angst, es war aber auch eine Lust. So durchs Leben zu fliegen – wer das könnte!

Nach einer Viertelstunde waren sie aus dem Wald. Der scharfe Umriß des weißen Eyseliner Herrenhauses zeichnete sich nah – der graue Bergfried von Barginnen verschwamm, fern. Nachtwind war aufgekommen. Die Nebelschwaden wallten zerrissen über die litauische Ebene. Es wehte eisig kühl. Herr von Falkner mäßigte das Tempo. Die Tiere schnaubten und knirschten auf das Gebiß, das Blut war ihnen erregt, der Atem stieg wie Dampf aus den Nüstern.

»Fahren Sie immer so, Baron?«

»Daß mich Gott bewahre! . . . Aber zuweilen überkommt's mich wie eine Art Wut. Ich bilde mir ein, entfliehen zu können.«

»Diesem verhaßten Litauen natürlich!« warf sie ein.

»Nein, ganz jemand anders, meine Gnädige, er hat vielleicht sogar den Vorzug, neben Ihnen zu sitzen . . . Diese Einbildung dauert übrigens nie lange. Heute zum Beispiel löst sie der Galgenhumor ab. Ich hätte die größte Lust, noch nach Tilsit zu fahren, mir ein paar Leutnants zusammenzutrommeln und Pommery zu trinken die ganze Nacht – aber goût américain! Heut brauche ich etwas sehr Herbes und Starkes.«

»Tun Sie es doch,« riet Modeste kühl. »Ich bin bald zu Haus.«

Darauf verbeugte er sich halb mit einem eigentümlichen Lächeln. »Nein, das tue ich ganz gewiß nicht – hab's auch nie getan . . . das wäre so 'n gefundenes Fressen für Ihr Litauen: der Majoratsherr von Eyselin hat in einem Tilsiter Kruge so lange gezecht, bis er auf dem Sofa einschlief! . . . Lieber nicht. Ich habe nicht die halbe Welt darum nüchtern bereist, um mich in Tilsit, ausgerechnet in Tilsit, zu betrinken.«

Modeste lehnte sich im Sitz zurück. »Sie müssen doch eigentlich viel gesehen haben, Baron!«

»Aber ohne Profit.«

»Und viel Frauen kennen gelernt haben!«

»Auch das.«

»Wo sind die Frauen am hübschesten?«

Er lächelte. »Sie sind ungefähr die tausendste, gnädiges Fräulein, die das fragt . . . Aber ich kann Ihnen nicht antworten. Für mich ist immer nur das ›je ne sais quoi‹, was die Schönheit der Frau macht.« Er kniff die Augen zusammen. »Glauben Sie mir, daß ich die Frauen kenne?«

»O ja!«

»Und daß ich viele Teufeleien hinter mir habe?«

»Ob ich das glaube!«

Er zuckte die Achseln. »Sehen Sie, Sie junge Dame von noch nicht zwanzig Jahren! Sie verstehen nichts von dem, was ich da eben gesagt habe – Sie dürfen nichts verstehen, das heißt Sie verstehen alles so gut wie ich . . . Ich müßte Ihrer Unschuld verächtlich sein, aber ich bin Ihrer Jugend nur interessant . . . Sie möchten viel mehr hören, viel mehr. In Spanien, tausend und drei! – Das reizt! . . . Aber wenn ich Ihnen statt dessen versichern könnte, mein Leben wäre so rein wie diese köstliche Nachtluft – und wenn Sie mir's glauben müßten – ich wäre Ihnen plötzlich der gleichgültigste Mensch von der Welt! Woran liegt das? Ich zerbrach mir schon manchmal den Kopf . . . Ist's nur Wißbegier? Oder ist's nicht vielmehr die innerliche Sündhaftigkeit unsrer Natur? Wie langsam begreift ein Kind das erste Gebot und wie schnell lernt's den ersten Fluch!«

Modeste schwieg. Er lachte. »Ja sehen Sie, meine Gnädigste! Ich sagte Ihnen doch: ›Hüten Sie sich vor mir!‹ – Aber Sie hüten sich gar nicht vor mir.« . . .

Modeste sah, wie Barginnen näher und näher kam. Es war ihr lieb. Und doch wäre sie auch wiederum noch Meilen gefahren mit ihm. Es war eben etwas in dem Mann, das sie unbedingt abstieß und unbedingt anzog zu gleicher Zeit.

An dem Lindenweg hielt er. »Ich sehe, Barginnen ist bereits zu Bett. Nur so was wie ein Korridorlicht brennt noch. Ich möchte nicht stören. Die Eisen dröhnen so auf dem Steinpflaster.«

Modeste nickte: »Ja, mir ist's auch lieber so.«

Er warf dem Kutscher die Leinen zu, der sie stehend, die Hand am Hute hielt. Modeste sprang leicht hinunter – sie vermied instinktiv seine stützende Hand. Sie gingen durch den Lindengang. Als er einen dunkeln Schatten in der Einfahrt bemerkte, sagte er zurückbleibend: »Sie werden offenbar erwartet. Adieu. Und haben Sie die Güte, alles zu vergessen, was ich gesagt habe. Sie sind eine Dame ohne Nerven – das hat mich gefreut. Andre hätten aufgeschrien bei dem Jagen. Wird man Sie mal bald zu Pferde sehen? Sie sollen's ja schon ganz gut können!« Er gab ihr flüchtig die Hand. Unwillkürlich mußte sie an Frau von Bussard denken, es war kein Druck, es war ein gleichgültiges Hineinlegen.

Als sie rasch zu dem Schloßportal ging, trat ihr Herr Romeit grüßend entgegen.

»Sie noch auf, Herr Romeit?«

»Ja, ich war nochmal im Kutschstall. Es hätte etwas passiert sein können, gnädiges Fräulein.«

»Sehen Sie doch nicht Gespenster, Herr Romeit!« wehrte sie. »Es ging alles vorzüglich. Den Braunen bringt der Kutscher morgen in der Frühe.«

Sie trennten sich. Auf der Treppe war's ihr, als hörte sie unten einen scharrenden Pferdehuf. »Herr Romeit,« rief sie zurück, »es ist doch nicht etwa jemand zum Besuch?«

»Nein, gnädiges Fräulein, ich habe Ihren Sommerrappen da unten.«

»Sie wollten mir entgegenreiten?«

»Ja, das wollte ich.«

»Das wäre mir aber sehr peinlich gewesen,« sagte sie kurz und scharf. Sie hatte dabei eine unangenehme Empfindung. Inspektoren und Ritterdienste – nein!

Oben in der Turmstube dachte sie später mit dumpfem Kopf: ›Was liebt denn nun eigentlich Judith an ihm? Ist er ein ganz andrer, als er scheint – oder ist es nur dieser fremde Reiz? Ich weiß nicht recht . . . ich möchte und ich möchte doch nicht . . . Ich habe Angst vor diesem Menschen.‹

In der Tat ritt sie auch die nächsten acht Tage nicht.



 << zurück weiter >>