Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Noch einmal lohte purpurn der Herbst.
Modeste war früh aufgestanden. Über dem Park lagen noch Morgennebel – die Fichtenkronen schwammen in weichem, flatterndem Gewölk. Die Blutbuchen im matten Tauglanz, der gelbe Kies feucht schimmernd. Von den Bosketts sanken leise raschelnd die welken Blätter. Aber die Astern blühten und leuchteten. Das alte Schloß schaute verschlafen aus warmem, nassem Moderhauch. – Von dem Gutshofe her tönte das Summen der Dreschmaschine. Männer, die Säcke trugen, schwatzende Mädchen. Der Geruch nach Stall und Arbeit.
Modeste hatte in dem Park promenieren wollen, aber sie ging in den Hof. Den Hof hatte sie seit Monaten kaum betreten – jetzt in der Morgenstimmung zog das Landkind das Land . . . Von der Küche schauten sie dem Fräulein nach. Sie trug eine Jockeimütze und gelbe Schuhe.
Aus dem alten niedrigen Pferdestall wurden eben die aufgeschirrten Arbeitspferde geführt: »Ho! Ho! Warscht Judsche!« . . . Es war der träge, stockende Schritt alter Arbeitstiere. Die Knechte unwirsch, in schmierigen Jacken, trappenden Klotzkorken – Litauer, mit der schwülen Witterung von Fusel und Schweiß. Das Fräulein sah die Tiere und die Menschen vorübergehen – sie kannte den ungelenken Gruß, den scheuen Blick – und dankte hochmütig wie stets. Dennoch heimelte es sie an.
Dann trat sie selbst neugierig in den leeren Stall. Ammoniakgeruch, fauliges Stroh, in der Ecke ein altes Pferd mit müdem Kopf, leise zuckender Haut. Modeste schlug dem Tiere vertraulich auf den Rücken. Es rührte sich nicht – nur ein Spatzenschwarm flatterte piepsend aus der Stalltür.
Der Hofmann schaute hinein und grüßte.
»Wie geht's Eurer Frau, Hofmann?«
»Ach, gnädiges Fräulein, da geht's nicht zu best! In der Doktorapotheke haben sie mir gesagt, ich möchte mir nur keine Hoffnungen machen. Die Lungen sind weg . . . Sie liegt jetzt immer ganz still, aber sie gahrt genau so wie 'n dämpfiges Pferd. Ich wollt' ja auch schon nichts sagen. – Aber die Marjell hat deswegen den ganzen Sommer nicht in die Arbeit gehen können . . . 's war 'ne schöne Ernte. Die Ferkel sind mir auch alle krepiert.«
»Wie ist eigentlich der neue Inspektor?« fragte Modeste kurz.
Der Mann lächelte breit und kraute sich mit dem Mützenschirm hinterm Ohr: »Bißche scharf. Gibt alles immer selbst raus auf dem Speicher.«
»Das wird wohl auch nötig sein, Hofmann!« Sie grüßte leicht und ging weiter.
Am Schafstall schaute sie durch die geöffnete Halbtür. Der muffige Wollgeruch schlug ihr entgegen. Zwischen den Hürden drängten sich die stumpfen Tiere und blökten leise. Tauben gurrten oben in dem braunen Holzgebälk. Der Schäfer stand schwatzend mit dem Schmied. Die beiden Männer bemerkten sie nicht. Der Schäfer in alten, schiefgetretenen Hausschuhen, ein grünes Käppchen auf dem Kopf, mit einem Schlächtermesser fuchtelnd, sagte gerade gemütlich: »Wißt Ihr, Schmied, wenn ich am Morgen mein Pfundchen Schnaps nicht haben sollt', da geh' ich gleich lieber direkt in den Hofteich. Morgens 'n Pfundchen und mittags 'n Pfundchen und abends 'n Pfundchen – und wenn mal was drüber ist . . . 'n guter Kornus schadet nie was!«
Modeste rief dazwischen: »Na vielleicht schadet's Euch doch mal was, Schäfer!«
Der Schäfer wandte sich bestürzt um – ein fettig-fahles Trinkergesicht, ein struppiger Ziegenbart. Er sprang mit einem dummschlauen Verlegenheitslächeln herzu. »Ach, gnädiges Fräulein, das war ja man so dammelig geredt! Wann trinkt unsereiner mal 'n Schnapschen? – Bei Hochzeiten und bei 'ner guten Leich' . . . Die Leich', das ist ja auch ein schönes Vergnügen.«
Modeste, die eine kleine Schwäche für den Schäfer hatte, weil er der Spaßvogel des Gutes war und ihr einmal als Kind ein Paar zierliche Klotzkorken geschnitzt hatte, drohte lächelnd mit dem Finger: »Ich rieche ja den Schnaps bis hierher!«
Sie wollte nach dem Kuhstall hinüber. Ein Wagen mit Grünfutter stand davor, und die Tiere brüllten dumpf. Als Modeste, gewandt von Stein zu Stein springend, auf dem schlechtgepflasterten Hofe bis zur Tür gekommen war, trat ihr Herr Romeit entgegen. Er trug einen hellgrauen Samtanzug und hohe Reitstiefel, die Plüschmütze tief im Nacken. Mit seiner geschmeidigen Sicherheit sah er fast elegant aus. Er wollte tief grüßend vorübergehen, zugeknöpft und schweigsam wie stets. Modeste war stehengeblieben: »Sind Sie's oder sind Sie's nicht?« fragte sie lachend.
»Ich bin's schon, gnädiges Fräulein.«
»Und warum so fein?«
Er wippte mit dem Reitstock gegen die Fußspitze. »Ich muß nachher hinüberreiten zum Herrn Baron von Falkner.«
»Und wohin wollen Sie jetzt?«
»Nach dem Vorwerk. Ich habe mir das Pferd dahin bestellt.«
Von der Ebene her blies frischer Morgenwind. Modeste überlegte einen Augenblick. »Gut, ich gehe mit.«
»Aber ich muß noch einen Umweg machen zu den Pflügern am Eichenwald . . .«
»Da gehe ich eben auch mit! . . . Sie meinen, es wäre zu schmutzig?« Sie lachte. »Sie denken wohl überhaupt, ich wär' 'ne zimperliche Stadtjungfer? Ich bin aber genau so vom Land wie Sie . . . Und wenn meine gelben Chevreauschuhe hier fleckig werden, so habe die Unbequemlichkeit nicht ich, sondern mein Stubenmädchen.«
Sie gingen an den Arbeiterwohnungen vorüber mit den blinden kleinen Fenstern, dem eigentümlichen Parfüm von grobem Brot und Torf – dem Leutsgeruch. Aus der Tür starrten schmutzige Kinder. Modeste sah kaum hin. Ein struppiger Hund fuhr heiser bellend hervor. Herr Romeit drohte mit dem Reitstock. – Am Ende des Dorfes lag die Schule, ein behäbiger Backsteinbau mit großen Scheiben, in einem freundlichen Garten. Drinnen plärrten die Kinder, und die undeutliche Gestalt des Lehrers bewegte sich langsam zwischen den Bänken. Diese neue Schule war Lindts ein Ärgernis. Fast zehn Jahre hatte der Kampf mit allen Mitteln zwischen Patron und Schulmeister gewährt. Der Schulmeister war Sieger geblieben – und der alte Knochenmehlhändler, der schon wegen der Steuern gern stöhnte, behauptete, daß der Bau ihn arm gemacht habe und krank. Jetzt ärgerten ihn wieder die Bienenkörbe hinter dem Staketenzaun, und die gelben Strohpuppen schienen ihn herausfordernd anzusehen.
Modeste runzelte die Stirn. »Er ist ein alter Sozialist, der Lehrer!«
»Mir schien er ein sehr verständiger Mann,« antwortete Herr Romeit ruhig.
Modeste ärgerte sich. Denn seit der neuen Schule hatte selbst der Gruß zwischen den Lehrertöchtern und dem Schloßfräulein aufgehört, obgleich sie als Kinder immer miteinander getollt.
Die freie Ebene lag jetzt vor ihnen – weit, mächtig, vom Morgentau überhaucht. Gelbe Stoppeln, mißfarbenes Kartoffelkraut hüben – mitten hindurch die weiße Chaussee, um deren Bäume noch der Nebel flatterte. Schwarze stumpfe Brachen neben jungem, grünem Klee drüben. Alles gerahmt von der meilenweiten Linie der fernen Staatsforst und dem leuchtenden Stück Eichenwald. Es duftete schwer, wie es nur im Herbst duftet: nach Erde und Stoppeln. Die Sonne hing rot verschleiert über dem Eichenwald. – Sie gingen einen schmalen Feldweg. Das feuchte Gras näßte Modestes Schuh. Sie merkte es nicht. Sie sog gierig die Herbstluft ein. Es war so ein starker Duft, der von Winter und Tod erzählt, aber auch wieder von Auferstehung und Frühling. Sie schritt leicht neben dem jungen hübschen Menschen, dessen schweigsame Höflichkeit sich immer gleichblieb.
Auf Augenblicke schien's, als gehörten die beiden zusammen.
»Sind Sie Kavallerist gewesen?« fragte Modeste kameradschaftlich.
»Nein, Infanterist.«
»Hat's Ihnen gefallen beim Militär?«
»Ja und nein. Ich war Einjähriger in Goldap, und der Kompaniechef mochte mich gern leiden. Bis zum Vizefeldwebel hab' ich's auch gebracht. Mehr wollte ich nicht. Für unsereinen, der wahrscheinlich immer Inspektor bleiben wird, hätte der Reserveoffizier gar keinen Sinn. Die meisten Prinzipale nehmen grundsätzlich keine Reserveoffiziere zu Beamten.«
»Warum eigentlich?«
»Wegen der Übungen, gnädiges Fräulein, und . . .« Über das offene, energische Gesicht glitt ein Schatten. »Und weil die Herren dem ›Herrn Leutnant‹ das nicht sagen dürfen, was sie unsereinem sagen dürfen.«
»Gott, so hochmütig!« rief Modeste und schaute mißbilligend auf ihren Begleiter.
»Hochmütig nicht! Ich hätte auch gar keinen Grund dazu. Mein Vater ist nur ein kleiner Besitzer, und ihm wurde das Einjährigenjahr schon schwer genug . . . Aber wenn man sich abgerackert hat in der Wirtschaft und getan, was man konnte, dann soll man sich auch noch ruhig gefallen lassen, daß einen der Prinzipal vor allen Leuten 'runterreißt . . . Es geht, wie gerade die Laune steht . . . Einmal soll ich sogar gestohlen haben.« Die Zornader schwoll ihm. »Ein Chef hat mir auf dem Felde bei der Ernte vor allen, die es hören wollten, gesagt: »Inspektoren und Hofleute stecken immer unter einer Decke, weil sie Spitzbuben sind« . . . Wir waren beide zu Pferde, und die Staker standen ringsum. Da bin ich auf ihn losgeritten und habe geschrien: »Herr, ich reiße Sie vom Gaul und würge Sie ab, wenn Sie noch ein Wort sagen!« Und ich hätte ihn abgewürgt! Aber die Leute warfen sich dazwischen.«
Modeste dachte an ähnliche Äußerungen ihres Vaters und verspürte ein gelindes Grauen. Dennoch stieg ihr eine widerwillige Hochachtung auf.
Herr Romeit fuhr mit mehr Ruhe fort: »Ich wäre beinah' deswegen ins Gefängnis gekommen – beinahe. Aber der Richter sagte noch zum Schluß, daß solche Prinzipale zu den Ausnahmen gehörten hoffentlich, und Ehre, Ehre sei wie beim Herrn, so beim Knecht . . . Ich war damals gerade vom Militär gekommen und außer Übung, jetzt bin ich viel phlegmatischer geworden. Wenn's mir gar nicht paßt, schnür' ich mein Bündel und lasse lieber den ganzen Gehalt im Stich . . . Es gibt viele Gauner in unserm Stand, aber dafür können doch die andern nicht. Und die Prinzipale sind auch selbst schuld . . .«
»Dann sind Sie also nicht gern Inspektor?«!
»Nein, Inspektor gewiß nicht, gnädiges Fräulein!«
Darauf ruhte die Unterhaltung lange. Herr Romeit mochte fühlen, daß er zu offen gesprochen hatte – Modeste, daß sie zuviel angehört. Sie bogen zu dem Eichenwaldfetzen ein. Die Blätter raschelten, ein Hase sprang auf und setzte in sonderbaren Kapriolen durch das feuchte, harte Waldgras. Ein rotes, kaltes Leuchten lohte zwischen den Stämmen. Es war nur ein Moment. Dann sank die Sonne wieder zurück in ihren herbstlichen Dunst . . . Bei den Pflügern blieben sie stehen. Die schweren Ochsenjoche furchten die fettglänzende Scholle – die mächtige Stirne gesenkt, der Schritt schwankend. Der Mann am Pflug schrie heiser. Dennoch ging alles gemächlich, ohne Hast. Die Tiere zogen an, die Stoppel brach. Wie Brodem stieg der Herbstgeruch auf, dumpf, herb, daß er Modeste fast betäubte. Ein Geruch voll geheimnisvoller innerlicher Kraft, die wohltat wie eine Verheißung. Modeste fühlte diese Kraft und starrte auf die schwarze Erde, der sie entstieg . . . Aus den Tiefen steigt's! . . .
Sie gingen wieder weiter, aber stumm. In dem Augenblicke hätte Modeste auch kein Wort gewünscht. Der alte Zwiespalt war ihr wach geworden zwischen Sein und Schein, der unbewußte Kampf, der eigentlich unser ganzes Leben ausmacht. Die Scholle liebte sie, und in die Ferne strebte sie . . . Sie durchquerten rasch den schmalen Waldgürtel. Als sie heraustraten, hatte die blutige Herbstsonne, die immer wieder aus dem Dunst sich herausrang und immer wieder im Dunst versank, sich endlich ganz frei gemacht. Mit einem tiefen, bösen Leuchten flutete sie über die Ebene, kalt, klar, voll herber Schönheit und Majestät. Die roten Dächer des großen litauischen Dorfes blitzten aus der Ferne, der Kirchturm zeichnete sich scharf am Horizont – die Stoppel ringsum gelbleuchtend, endlos . . . Und die stumme, gewaltige Purpurwelle rollte weiter. Der Altweibersommer, der die Brachen überspann, schimmerte silbrig, das Kartoffelkraut duckte sich trübselig . . . Und die Welle rollte weiter und weiter über Wald und Feld, Baum und Haus, die scheue Monotonie der uferlosen Ebene versenkend in ein Meer von Licht . . . Weit, weit drüben, wo Erde und Himmel ineinander wuchsen, verschwamm sie zu einem schmalen leuchtenden Streif. Das zuckte, gleißte, als vermählten sich die Wogen des Lichts mit den Wogen des Meeres, und die Brandung rauschte Hochzeitsmusik.
Die hellen freundlichen Gebäude des Vorwerks tauchten auf in nächster Nähe – ihr Reiseziel. Herr Romeit wollte etwas sagen, aber Modeste schüttelte hastig den Kopf. Dann schaute sie wieder den Lichtwogen nach, wie sie dahinrollten, die Ebene so heiß, so leidenschaftlich umarmend. Aber es war ja Herbst und das Leuchten kalt . . . Und es ist etwas Wunderbares um die Sonne im Herbst, etwas Tiefernstes, Heiliges – die siechende Natur in der großen, kalten Umarmung schauernd . . . Und der Wind hub an – erst raunend, flüsternd, weich singend, wie im Lenz – dann klingend, klagend – bis er endlich mit scharfem Schrei der Lichtwoge nachglitt wie ein Schatten. Die Blätter tanzten, die Gräser duckten sich, sein kalter Hauch erfüllte die große Weite, und aufheulend schien er jetzt die wehrlose alte Natur unerbittlich züchtigen zu wollen, die er einst im Prangen des Sommers so warm gekost . . . Modeste schaute und schaute. Es war wie damals auf dem Schiff – aber stärker, viel stärker . . .! Ja, sie liebte sie leidenschaftlich, diese östliche Ebene, ob jung, ob alt. Hier fühlte das flache Weltkind tief, gut war sie selbst. Und das schöne Geschöpf, das nicht Vater, nicht Mutter liebte, nicht die Schwestern, nur sich – hier fühlte sie es fremd, fast beklemmend, wie sie machtlos wurde, Kind, gegenüber der großen, reinen Heimatsliebe, die ihr emporstieg aus dem Brodem der Scholle, die sie umfing mit dem Tosen des Herbstwindes, die ihr wundersam herüberleuchtete auch von dem Purpursaum des Horizonts.
Herr Romeit hatte immer nach den Roßgärten hinübergeschielt am Vorwerk. Die jungen Pferde rupften da unwirsch die arme herbstliche Grasnarbe, sahen schweifschlagend auf, weideten weiter . . . An einer tiefen Stelle, wo noch eine Wasserlache stand, wälzte sich ein großer Sommerrappe mit wild ausgreifenden Hufen, daß der Schmutz ringsum hoch aufspritzte. – Die beiden kamen näher, schauten über den Drahtzaun – die Frau gleichgültig, nur im Vorübergehen, der Mann voll Interesse, die Arme verschränkt . . . Die Tiere hörten auf zu weiden, schnaubten, jagten heran, stoben davon auf dumpf dröhnendem Boden, neugierig und furchtsam zugleich, wie tollende Kinder. Der Sommerrappe wälzte sich gemächlich weiter. Wie so das Rudel mit stolz gehobenem Kopf und fliegender Mähne dahinglitt, war es ein frisches Bild von überschäumendem Jugendmut, schwellender Kraft.
Modeste, die noch unter dem Herbstbann stand, fragte ohne Interesse: »Sind das alles Dreijährige?«
»Nein, nur zwei, gnädiges Fräulein, sonst Jährlinge. Es ist nicht viel was. Die Remonten habe ich schon in den Stall genommen . . . Ho! Ho!« rief er gleich darauf zu dem ausgebleichten Sommerrappen hinüber und wehte mit dem Taschentuch. »Das ist nämlich ein zurückgebliebener Vierjähriger. Die Kommission hat ihn nicht genommen wegen eines Augenfehlers. Ein Jammer . . . Sie müßten ihn mal austraben sehen.« Er kroch gewandt durch den Drahtzaun. Das Rudel stutzte einen Augenblick, floh dann wiehernd weiter. Auch der Rappe hielt inne, wurde langsam hoch und sah sich verwundert um. »Ja, laufen sollst du!« rief Herr Romeit und wehte stärker mit dem Taschentuch. Das Tier besann sich, fing an zu traben, erst schwer, unlustig, dann flüchtig, federnd, bis endlich sich der schlanke, schöne Körper zu einem weitausgreifenden Galoppsprung streckte. So schoß er an dem Rudel der Jüngeren vorüber, sie im Augenblick überholend. »Haben gnädiges Fräulein gesehen?« fragte Herr Romeit, »das sind Gänge!« Die Augen glänzten ihm, und die Wangen waren ihm heiß, als er wieder durch den Zaun zurückkroch.
Modeste sah etwas verwundert auf den Mann, dem jede Bewegung schmiegsam geworden war und sicher, wie dem Ringer beim Kampf: »Haben Sie wirklich so kolossales Interesse für Pferde?«
»Ob ich's habe!« Die Zunge war ihm auf einmal gelöst. »Jeder Tag, wo ich nicht auf einem Pferde gesessen habe oder wenigstens ausgefahren bin, kommt mir wie verloren vor. Wenn wir exerzierten und auf demselben Platz die Kavallerie ihre Remonten anritt, war ich immer ganz wild. Ich kam aus dem Tritt, der Hauptmann schimpfte – das war mir aber ganz egal . . . Ach, gnädiges Fräulein können ja gar nicht wissen, wie das ist! – Ich hätte darum auch nie etwas andres werden wollen als Landwirt, ich hätte es gar nicht können. Ich wäre verrückt geworden hinter dem Ladentisch oder im Bureau . . . Ich muß Litauen und Pferde haben! . . . Und wenn ein Prinzipal auch noch so genörgelt hat, ich gehe zu meinen Remonten und habe alles vergessen . . .«
Modeste war eine Lindt, kühl, skeptisch, trotz ihrer Jugend. Und doch war hier der verwandte Zug – das warme Fühlen, das auch ihr von Zeit zu Zeit das nüchterne Leben vergoldete.
»Aber ich verstehe gar nichts von Pferden, Herr Romeit! . . . Ich weiß, was ein Trakehner und was ein Litauer ist, und daß unsre Kutschpferde vorn nicht mehr raus können – das weiß ich auch . . . Aber sonst . . . Als Mädel bin ich wohl aufs Feld geritten mit dem Gespann, auf dem Nebenpferd beim Knecht, und wenn der Leiterwagen so klapperte, habe ich immer gedacht: ›Wenn du jetzt 'runterfällst, so bist du geliefert unter den schweren Rädern.‹ Vom Felde auf dem vollen Fuder fuhr ich viel lieber zurück. Und da ging's mir allerdings nie schnell genug . . . Natürlich bin ich stets als Junge geritten und ohne Decke. Es muß zum Totlachen ausgesehen haben, wenn ich so hin und her schwankte . . . Nachher habe ich's wohl noch einmal mit dem Milchpferde versucht. Mir ist, als wär' es heute, als der alte Rappe vorne stolperte und ich über den Kopf weg in den Chausseegraben flog . . . Das war, glaube ich, das letztemal . . . Papa wollte nicht; ich hatte auch keine besondere Lust . . . Freilich, wenn man Sie hört, sollte man denken, Reiten gehöre so unbedingt zum Leben, wie die schmutzige Nase zum Dorfkinde . . . Jetzt wär's wohl auch zu spät. – Außerdem – eine alte Mähre will ich nicht, eine gute kriege ich nicht. Wozu soll ich mich also aufregen?«
»Aber gnädiges Fräulein müssen reiten lernen!« beharrte er. »Ich kann mir schwer denken, daß eine Dame auf dem Lande nicht mit Passion reitet.«
»Ich fahre Rad, Herr Romeit, das ist jetzt viel moderner.«
»Ach, Rad, gnädiges Fräulein! Das ist so was Städtisches. Kommt man an einen Sandweg oder einen Graben, muß man absitzen – und da fängt auf dem Pferde doch das richtige Reiten erst an . . . Wenn gnädiges Fräulein wollen,« fuhr er vertraulicher fort, »ich besorge Ihnen schon 'n Pferd. Sehen Sie, der Sommerrappe da hat nur ein ganz winziges Fleckchen auf dem Auge, das gar nichts schadet – aber Verkaufswert hat er eben darum nie . . . Er hat wohl auch 'n bißchen weichen Rücken. Aber daß gerade das Blutpferd ins Gespann geworfen werden soll und sich totarbeiten für die drei faulen andern, weil es zu edles Blut hat – nein, das möchte ich nicht! . . . Ich reit's Ihnen zu – das kann ich schon – Und Sie werden sehen, was das für 'n Vergnügen ist im Sommer! Denn reiten lernt man eins, zwei, drei – und Sie haben, wie alle Damen, eine leichte, weiche Hand, was viel ausmacht, gerade bei jungen Tieren.«
Modeste lächelte. »Und inzwischen?«
»Nehmen gnädiges Fräulein meinen Inspektorbraunen! Er soll schon früher als Damenpferd gegangen sein, in Bussardshof, sagt der Kämmerer.«
»Bussardshof? Das könnte nur Judith von Bussard gewesen sein . . . Die darf übrigens nicht mehr reiten.« – Sie war kühler geworden: »Also kurz und gut, Herr Romeit, es wäre ganz schön, aber es geht wirklich nicht!« Sie waren derweil in die Nähe des Vorwerks gekommen. Modeste zeigte auf ein gesatteltes Pferd, das ein Knecht im Kreise führte. »Da ist ja schon Ihr Brauner, Herr Romeit.« Schnippisch fügte sie hinzu: »Sie sollten längst fort sein! Der Baron liebt, glaube ich, das Warten nicht. Grüßen Sie ihn von mir! Ich werde hierbleiben und zusehen, wie Sie abreiten . . . Ist's mit der Reitkunst wirklich so weit her?«
»Das habe ich nie behauptet.«
Sie ärgerte sich über seine kurze Art. »Doch Pisang!« murmelte sie. Das häßliche Herrengefühl war ihr wieder wach geworden – der Parvenühochmut, der plebejische Bruder des Aristokratenstolzes.
»Man soll sich doch mit solchen Leuten nie einlassen!« Der ganze Spaziergang wurde ihr leid. Dennoch blieb sie stehen und sah, wie Herr Romeit langsam aufstieg und langsam durch den Hof trabte, ohne sich umzusehen. Hinter der Scheune kam der schlanke Reiter wieder in Sicht, und im langen Galopp flog der Braune den schnurgeraden Sandweg nach Eyselin entlang.
Modeste stand eine lange Weile nachdenklich. Dabei fiel ihr Blick auf den linken Chevreauschuh, der arg beschmutzt war. ›Das wäre so was für Frida!‹ dachte sie, ›den ganzen Tag hörte die Rederei nicht auf wegen meiner Unordnung . . . Ich bin nicht unordentlich, ich bin nur jung!‹ Und die Herbstsonne strahlte, und der Herbstwind pfiff. Es war kühl – der reine Hauch in Licht und Luft, den das Alter haßt, weil er sein welkes Blut erkältet, und den die Jugend liebt, weil unter ihm das Blut heißer wallt. Modeste wanderte weiter. Das Vorwerk mied sie. Das war auch ein Lindtsches Schmerzenskind. Denn den alten Lindt hatte das Rheuma zum erstenmal gezwickt in jener Nacht, als die vollen Scheuern niederbrannten.
Den ganzen Vormittag strich Modeste allein durch die Felder, vor sich hinsingend, träumend. Als sie ein verspätetes Maßliebchen jenseits des Grabenrandes erblickte, sprang sie mit raschem Sprunge hinüber. Darüber versank auch der rechte Fuß im lehmigen Boden. Die Blume vergaß sie. Für wen sollte sie eigentlich auch Maßliebchen zupfen? – Ihr Herz war so ganz frei! . . . Aber den Schuh betrachtete sie mit philosophischen Gefühlen. »Siehst du, mein Herzchen, so lange hast du dich rein gehalten – jetzt machst du's noch schlimmer wie dein linker Bruder. Was schmutzig werden soll, wird's doch! – Die dumme Frida . . . Jetzt gehe ich erst zu Papa und bin furchtbar nett mit ihm, und dann mag die alberne Marjell zu Mama klatschen, soviel sie will – recht bekomme ich doch!« . . . Sie sah sich nach allen Seiten um. In der Gegend kannte sie sich nicht mehr aus. Zwar dort drüben lag das große Kirchdorf, auch der Schornstein der Barginner Dampfziegelei lugte – aber es war hier alles so viel bäurischer, die breiten Lehmwege zerfahren, die spärlichen Weiden vermorscht. Männer kamen hinter ihr, schwankend, mit blöden Augen, einer schrie und winkte. Die litauischen Fuselgefühle kannte sie vom eignen Gut zur Genüge. Fern leuchtete der weiße Streif der Chaussee wie ein Retter. Auf den ging sie zu. Nicht schnell. Fliehen lag nicht in ihrer Natur. Und ein Mädchen, das läuft, reizt die rohen Sinne erst recht.
Modeste erreichte die Chaussee in dem Augenblick, wo sie den heißen Schnapsatem eines Burschen im Nacken fühlte.
»Na, was stehst nicht, Marjell, wenn man dir ruft!« Die Stimme lallte, das gedunsene Gesicht leuchtete stier.
Modeste drehte sich um: »Was wollt Ihr von mir?« Ihr war nicht wohl zumute. Da ratterten zwei Wagen vorüber – Bauern. Der zweite hielt. Ein vierschrötiger Mann drohte mit der Peitsche. »Was geht dich das Fräulein an? Lorbaß! – Du bist ja besoffen wie 'n Schwein – mach, daß du heimkommst!«
Der Bursche lallte zurück »Ich besupe? Na, wart!! . . .« Aber der Trupp trollte sich doch schimpfend über die Chaussee weg.
Modeste dankte. Der Bauer griff an die Mütze und fuhr weiter. – Jetzt wußte sie auch, wo sie war, eine Stunde von Eyselin, anderthalb Stunden von Haus. Der Richtweg schien näher, aber sie blieb vorsichtig auf der Landstraße. Eine litauische Chaussee, gerade, endlos, von tödlicher Monotonie. Wenig Menschen – es war bald Mittag. Ein Trödelwagen mit ausgemergeltem Pferd – der Jude grüßte devot . . . Der Weg schien dem Stern von Barginnen schrecklich lang. Dieselben dürren Bäume, dieselben gelben Sandhaufen, dieselben weißen Kilometersteine. – »Wenn ich ewig Chaussee gehen sollte, ich würde rettungslos stumpfsinnig!« murrte sie . . . Endlich tauchte etwas Schwarzes auf. Ein fauchendes Ungetüm – die Dampfwalze. Streckenarbeiter mit Gießkannen, zwei Reiter. Die Pferde tänzelten und schnaubten, wollten offenbar nicht vorüber. Herrn Lindts Braunen erkannte sie sofort. Der Fuchs war ihr fremd. Der Herr mit dem hellen Sattelzeug und den glänzenden Sporen konnte aber nur Herr von Falkner sein. –
Sie war ganz nahe herangekommen. Aller Augen hingen an den Reitern. Die Dampfwalze stand, der Führer schaute interessiert heraus.
»Herr Baron müssen das Pferd ruhig zurückreiten und dann im leichten Galopp vorbei. Meiner ist sehr bodenscheu. Aber es geht ganz gut. Sehen Sie!« . . . Herr Romeit setzte sich im Sattel zurecht, schnalzte mit der Junge. Die Stute sprang zögernd an, stutzte, folgte aber dann willig dem Schenkel.
Herr von Falkner rief ihm nach: »Sie haben gut reden! Ihr Brauner ist ein ausgerittener Schinder und mein Fuchs fünfjähriges Vollblut. Aber ich will's auf die Manier versuchen . . .« Darauf kurz zum Maschinisten: »Pfeifen Sie los!« Er nahm die Schenkel fest, und in den Bügeln stehend, vornübergebeugt wie ein Rennreiter, gab er leicht die Sporen. – Die Dampfpfeife pfiff schrill. Der Fuchs stieg kerzengerade und wollte sich überschlagen. Die Leute schauten ängstlich. Darauf verstummte die Dampfpfeife wieder, das angstvoll schnaubende Pferd kam zum Stehen. – »Sie sollen pfeifen!« rief der Reiter herrisch. »Es ist mein Genick, das ich riskiere, und nicht Ihres!« – Die Maschine fauchte, der Pfiff schrillte. Modeste sah, wie der Fuchs ansprang, mild, kopflos, gleich darauf im rasenden Satze wegbrach und, ausgleitend, den Chausseegraben mit seiner zitternden, zuckenden Masse füllte. – Die Leute schrien auf, auch Modeste stürzte zur Stelle. Aber der Reiter war nicht gestürzt – er mußte noch im letzten Moment die Bügel losbekommen haben – und stand neben dem Tier. Ihn schien nur das Pferd zu kümmern, das, von Schaum und Schmutz bedeckt, angstvoll wiehernd aufzukommen suchte.
»Laßt ihn zufrieden!« rief er den Leuten zu, »er wird schon allein hoch . . .«
Einen Moment später stand der Fuchs wirklich, zu Tode erschöpft, den Kopf mit dem zerrissenen Zaumzeug gesenkt, der Körper unter dem verschobenen Sattel bebend, naß. Von den geschundenen Knien sickerte Blut.
Herr von Falkner schaute finster. »Führen Sie ihn ein paar Schritte!« Einer der Leute sprang hinzu; langsam, fast kriechend passierte das apathische Tier die Walze. – »Er markiert nirgends,« sagte sein Reiter nach einer Weile. »Bloß Schreck wahrscheinlich. Also wird's wohl auch nicht zum Sterben gehen . . . Aber bringen Sie ihn nach Eyselin und sagen Sie dem Herrn Oberinspektor, daß nach dem Roßarzt telegraphiert wird, und zwar sofort. Und nun weg!« Er schlug dem Tiere noch einmal leicht auf die Kruppe, dann wandte er sich zu Herrn Romeit, der sofort zurückgaloppiert war und jetzt etwas verdutzt dabeistand. Herr von Falkner lachte gezwungen. »Nicht der Rede wert! Es gibt leider Leute, die nie verständig werden, und zu denen gehöre ich . . . Nun läßt sich natürlich der Hengst ein gutes Vierteljahr auch nicht mehr mit dem Sattel in die Nähe kommen, ohne mir die Box zu zerteilen . . . Übrigens, das gebe ich Ihnen schriftlich: von Pferden und was drum und dran hängt, verstehen Sie mehr wie ich! . . . Jetzt aber haben Sie wohl die Güte, wieder aufzusitzen und nach Hause zu reiten, sonst schimpft wahrscheinlich der alte Herr in Barginnen. Grüßen Sie den Gentleman – oder grüßen Sie ihn auch lieber nicht! . . . Ihnen jedenfalls meinen herzlichsten Dank und daß Sie sich die Proposition noch einmal überlegen!«
Herr Romeit verbeugte sich und saß nachdenklich auf.
Modeste war in den Hintergrund zurückgetreten, im Schutz der Dampfwalze. Sie hätte sich jetzt am liebsten versteckt. Der Ton, in dem ihres Vaters Name genannt wurde, war gar nicht nach ihrem Geschmack. Aber im letzten Moment sah sich Herr von Falkner noch einmal um und bemerkte sie.
»Sie hier, gnädiges Fräulein?«
»Ja . . . ich habe gesehen . . .«
»›Das war kein Meisterstreich, Oktavio‹, dachten Sie gewiß?«
»Ich dachte gar nichts . . .«
»Sind Sie ganz allein?«
»Allerdings . . .«
»Nun, dann werde ich mit Ihrer Erlaubnis Sie wenigstens bis in die Nähe Ihres Schlosses begleiten.«
»Wenn Sie durchaus wollen.«
»Durchaus – nicht, gnädiges Fräulein. Aber ich habe vollauf Zeit . . . Ich lebe ganz englisch. Der Lunch liegt bereits hinter mir, und bis zum Dinner sind's noch sieben Stunden.« Artig fügte er hinzu: »In Litauen gibt's Langeweile und Schmutz die Fülle – aber wenig Geist und noch weniger schöne Frauen . . . Ich war gestern mal zur Abwechslung in Gumbinnen. Morddragoner, Idiotenchaussee: damit ist alles Interessante in dieser Regierungshauptstadt erledigt. Auch sonst ein merkwürdiges Land, Ihr Litauen, oder unser Litauen, wenn Sie wollen. Pferdeland. Selbst bei den Menschen werden hier die Knochen höher geschätzt als die Gehirnmasse.«
Modeste war diesem süffisanten, nachlässigen Konversationston nicht gewachsen und schwieg. Sie kam sich selbst ein wenig litauisch vor mit ihren schmutzigen gelben Schuhen.
Ein Stück waren sie schweigend gegangen, als Herr von Falkner stehenblieb. Der Purpurschein der Herbstsonne lag wieder über der weiten Ebene. »Geht's Ihnen vielleicht ebenso wie mir? – Ich muß hier immer an die Wüste denken . . . Dieses Landschaftsbild hat in der Tat etwas von der Wüste. Nichts, wo das Auge wirklich ausruhen könnte – nur Weite, Weite . . . Dazu eine eigentümliche Samumsstimmung. – Aber die Wüste liebe ich, Litauen liebe ich gar nicht . . . Ich ziehe es doch vor, in der Sahara zu verbrennen, als in diesem Osten zu versimpeln . . . Es sind nicht meine Leute hier. Sind's Ihre Leute?«
Modeste fragte darauf nur kurz: »Waren Sie lange in der Wüste, Baron?«
»O ja. Aber die Wüste ist durchaus nicht für jeden, ebensowenig wie Litauen . . . Ich bin sonst sehr Gesellschaftsmensch – in der Wüste habe ich gelernt, mir selbst die Gesellschaft zu sein . . . Die beste, wie ich mir einreden möchte, die schlechteste, wie ich aber weiß. Im übrigen steht ja der Satz fest, daß die sogenannte beste Gesellschaft immer die schlechteste ist. Die Männer brutal oder feige, die Frauen konventionell und feige auf jeden Fall. Gesindel! Aber von diesem Gesindel vermag man sich eben nicht zu trennen. Man liebt den Schmutz nicht an den Fingern, aber man verehrt ihn bei den Herzen . . . Können Sie mir als Frau vielleicht das Rätsel lösen: warum die äußerlich reinsten Menschen so oft innerlich die schmutzigsten sind?«
»Das verstehe ich nicht, Herr von Falkner. Ich verstehe Sie überhaupt nicht . . . Ich will Sie auch gar nicht verstehen.«
Er schlug mit der Reitgerte in die Luft: »Dann sind Sie genau in derselben Lage wie ich, meine Gnädigste . . . Kennen Sie sich?«
»Natürlich!«
Er lächelte. »Bleiben Sie bei dem Glauben! . . . Tut Wunder.«
Auf einem Feldwege, aber schon sehr fern, kam Herr Romeit auf seinem Braunen wieder in Sicht.
»Gefällt mir gut, der junge Mensch,« meinte Herr von Falkner. »Offen, ehrlich, mit einem Zusatz von Enthusiasmus und Bockbeinigkeit, die ihm beide ganz gut stehen . . . Sonst Mann, vernünftiger Mann, macht seinen Lebensweg, vielleicht mit Scheuklappen, aber macht ihn ganz gewiß . . . Das war mein erster Eindruck von ihm neulich bei Ihnen . . . Ich gebe viel auf erste Eindrücke. Halte ihn auch sonst für tüchtig in seinem Beruf. Habe ihm proponiert, er möchte zu mir kommen. Wer so viel auswärts ist wie ich, braucht anständige Beamte. Mein alter ›Ober‹ wirtschaftet mir, in allen Ehren, doch zu sehr in seine eigne Tasche . . . Eigentlich wechsle ich ungern, bin zu bequem dazu, zu gutmütig. Alle sogenannte Gutmütigkeit heißt natürlich besser Feigheit. – Ist dann die große oder kleine Szene, mit der so eine Kündigung einsetzt, glücklich vorüber, ist auch mein Interesse für den Mann vorüber . . . Kurz und gut – es ist eine kleine Gemeinheit, die ich vorhabe. – Bei Ihrem Herrn Vater bekommt Herr Romeit achthundert Mark, ich habe ihm fünfzehnhundert proponiert. Anständige Leute soll man anständig bezahlen . . . Jedenfalls wäre es für diesen Achtundzwanzigjährigen ein solcher Glücksfall wie für uns der Kohinur. – Aber wenn Sie etwa glauben, daß der Mann freudestrahlend zugesagt hat . . . Im Gegenteil. Will nicht! . . . Und das hat mir eigentlich am besten an der ganzen Affäre gefallen . . . das heißt« – er sah Modeste eigentümlich lächelnd ins Gesicht – »wenn nicht eine gewisse junge Dame in einem gewissen Gehirn gewisse Verwirrungen angerichtet haben sollte . . .«
»Bei einem Inspektor? – Ich danke.«
»Aber ich bitte Sie, mein gnädiges Fräulein, können Sie irgendeinen jungen Mann auf der Welt hindern, eine schöne Frau zu lieben? Nehmen Sie an, ich wäre bei Ihnen Inspektor. Meinen Sie ernstlich, ich würde mir dann meine Gefühle vorschreiben lassen?«
»Ja Sie!«
»Ja ich! . . . Meine Gnädigste, da kommen wir wieder auf unsre sogenannte beste Gesellschaft. Den Grafen liebt man nicht – aber man heiratet ihn; den Hauslehrer liebt man – aber man heiratet ihn nicht. Und das nennen Gräfinnen Moral.«
»Ach, Herr Baron, reden Sie doch nicht wieder so!« unterbrach Modeste spitz. »Ich werde weder unsern Inspektor lieben noch Sie heiraten.«
»Sehr vernünftig!« bestätigte er, »wenigstens was mich anbetrifft . . . Übrigens« – er zeigte mit der Reitgerte nach dem noch deutlich sichtbaren Reiter – »er reitet ausgezeichnet! Reiten Sie? Ich habe Sie wenigstens noch nie zu Pferde gesehen.«
»Ich reite allerdings nicht,« antwortete Modeste ärgerlich.
»Aber das sollten Sie! Es gehört beinahe zu Ihrer Figur. Sie müssen sich brillant im Sattel machen . . . Kennen Sie nicht das arabische Sprichwort: ›Das Paradies der Erde liegt auf dem Rücken der Pferde, in der Gesundheit des Leibes und am Herzen des Weibes?‹ . . . Wenn Sie einen Lehrer brauchen – moi!«
»Sie würden ein schöner Lehrer sein, Baron!« scherzte Modeste.
»Ja, ein schöner Lehrer.« wiederholte er zerstreut. Er sah nach der Uhr. »Bei Damenreiten fällt mir ein, daß Fräulein von Bussard auch wieder anfangen will . . . Gut, daß ich daran denke! . . . Ich habe mich heute zum Frühnachmittag in Bussardshof angesagt . . . Leben Sie wohl, mein gnädigstes Fräulein.«
»Adieu, Baron, und vielen Dank.«
Modeste bog in den Feldweg ein, den Herr Romeit soeben geritten. Die Hufspuren waren noch ganz frisch. Sie hätte sich so gern umgesehen, ob Falkner von Öd ihr vielleicht nachschaue . . . ›Er gefällt mir doch!‹ dachte sie. ›Er ist so ganz anders als die andern Leute hier. Was er eigentlich meint, das weiß man nie. Und gerade das reizt – ja gerade das! . . . Ich möchte für mein Leben gern reiten können . . . Das wäre hübsch, wir zwei! Frida stürbe, glaube ich, vor Neid . . . Aber Papa tut's ja doch nicht.‹ –
Mit dieser trüben Gewißheit trat sie in den Schloßpark. Frida kam ihr entgegengelaufen, – die matten Augen lachten.
»Weißt du das Neuste, Modeste? – Neujahr gehe ich auf ein ganzes Vierteljahr nach Königsberg, darf Gesangstunden nehmen, in einer Pension wohnen.«
»Was ist denn eigentlich los?« fragte Modeste kopfschüttelnd zurück.
»Ach, du bist ja doch nur neidisch!«
»Was los ist, habe ich gefragt, Frida.«
»Nun, Papa hat doch in der Lotterie gewonnen! Vor einer Stunde kam die Depesche.«
Modeste war entschlossen: jetzt oder nie. Sie ging sofort in Herrn Lindts Arbeitszimmer: »Liebster, bester Papa, nun mußt du mir auch einen Herzenswunsch erfüllen!« Und sie trug ihr Anliegen in sehr beweglichen Worten vor.
Herr Lindt verdrehte die Augen und hielt sich instinktiv die Taschen zu. »Ein Pferd für dich allein? Das geht weit über meine Verhältnisse! . . . Und wer soll dir das Reiten beibringen?«
»Der Inspektor auf seinem Braunen – und die zurückgebliebene Remonte reitet er mir unterdessen zu.«
»Die mit dem Augenfehler?« fragte Herr Lindt milder.
»Ja die, gerade die, Papa!«
Der Augenfehler entschied. »Wir werden sehen, liebes Kind,« lispelte er. Und vielleicht zum ersten Male seit Jahren umarmte die Tochter den Vater voll Dankbarkeit und Glück, bis der Alte, ganz gerührt von der eignen Güte, nur noch flüstern konnte: »Ich kann eben keinem Menschen etwas abschlagen. Ich bin zu gut – viel zu gut!«
*
Seitdem longierte Herr Romeit regelmäßig jeden Tag den Schwarzbraunen an dem Birkenwäldchen. Die lange Peitsche knallte, das schnaubende Tier galoppierte unwillig im Kreis. Modeste stand oft dabei.
»Sie werden ihn nicht klein bekommen, Herr Romeit!«
»Und ich werde ihn doch klein bekommen, gnädiges Fräulein.«
In der Art des Mannes lag eine zielbewußte Sicherheit, der sie nicht immer zu widersprechen wagte.
»Er zäumt sich schon ganz nett bei,« fuhr er nach einer Weile fort. »Gnädiges Fräulein dürfen nur nicht ungeduldig werden . . . Und sehen Sie jetzt, wie er sticht und lang austrabt! – Die Knochen wie Stahl und die Sehnen goldklar . . .« Er wippte mit der Peitsche. »Und die Sprunggelenke! Es muß ein wahres Vergnügen sein, mit dem Gaul zu springen . . . Er wird Ihnen jede Jagd neben dem besten Hunter aushalten . . . Jetzt markiert sich die Sattellage noch etwas scharf – aber wenn er erst mehr auf den Rippen hat . . . Es wird wirklich ein Staatspferd!« Er sprach sachlich und doch warm und begleitete jedes Wort mit einem leicht surrenden Schwingen der Peitsche. Das Pferd wieherte und versuchte im Sprunge auszubrechen. Da traf es unerbittlich der kurze, strafende Schmiß. – Es war ein hübscher Anblick, wie sich allmählich die Bewegungen rundeten, glatt wurden, regelmäßig, bis endlich der federnde Trab eines Zirkuspferdes herauskam. Modeste sah voll Interesse zu. Diese konsequente Dressur war ihr etwas Neues, regte sie an. Sie begann unter diesem Lehrer erst das Pferd zu verstehen: die guten, die schlechten Linien des Körpers, die Fehler, die Vorzüge des Ganges. Sie bewies auch hier ein nüchternes Auge, einen scharfen Blick.
»Ich bin doch nun vom Lande,« meinte sie einmal kameradschaftlich, »und ich versichere Sie, Herr Romeit, ich habe bis jetzt bei einem Pferde höchstens zwischen Schimmel und Rappe unterscheiden können, oder wenn eins auf allen vieren struppiert war . . . Es ist eigentlich eine Schande, wie dumm und interesselos man durchs wirkliche Leben läuft.«
»Gnädiges Fräulein haben an so viel andres zu denken,« entschuldigte er höflich.
»Viel andres? – Das wäre eine gemeine Lüge! . . . Waren Sie einmal in Rußland, Herr Romeit?«
»Nein.«
»Na, da können Sie von Glück sagen!«
Weiter gingen die Vertraulichkeiten nicht. Der Hofmann kam und bat um den Speicherschlüssel.
»Ich komme selbst,« antwortete Herr Romeit kurz. Und zu Modeste gewandt: »Verzeihen Sie, gnädiges Fräulein, ich muß noch Hafer herausgeben.«
»Sie sind aber höllisch gewissenhaft!«
»Das muß man sein.«
»Dann werde ich Sie jetzt regelmäßig kontrollieren,« scherzte sie.
Ein Knecht führte das Pferd weg. Modeste und Herr Romeit schlenderten zusammen über den Hof.
Der Speicher lag etwas zurück im Hofkarree, ein gedrungenes Steinhaus mit vergitterten Luken im ersten Stock. Die Tür unten stand offen. Der lahme Stellmacher hauste da, inmitten eines tollen Gewirrs von alten Rädern, Leiterbäumen und unordentlich geschichtetem Schirrholz. Der blondbärtige Mann, die unvermeidliche Pfeife in der Mundecke, raspelte gerade emsig und ohne aufzusehen über einer neuen Radspeiche. Der feinsäuerliche Geruch nach frisch geschnittenem Eichenholz quoll durch die Moderluft des alten Gerümpels.
»Ist der Mensch eigentlich brauchbar?« fragte sie halblaut.
»Das sind sie hier alle, wenn man ihnen auf die Finger sieht.«
Dann stiegen sie die Speichertreppe hinauf. Das riesige Vorhängeschloß quietschte. Drinnen ein weißgedielter großer Raum – eine staubige Halbdämmerung – und der weich-kräftige Geruch nach reifem Getreide. In sorgsam geglätteten Haufen lagen unzählbar die hellen, rundlichen Körner des Weizens, der graudunkelnde, schmale Roggen; eine Ecke füllte, hochgetürmt, der schlaubige Hafer. Alles zierlich abgeschrägte Vierecke. Auf jedem ein phantastischer Zirkel in die Körnerflut geschrieben. Die plumpe Holzschaufel, die das tat, lehnte noch an der Wand.
Modeste beugte sich über den Weizen und ließ eine Handvoll in goldig schimmerndem Bogen zurückrinnen. »Ich war lange nicht hier oben,« sagte sie, »und es ist doch ein starker, schöner Geruch, den ich als Kind so gern mochte.«
»Es ist der schönste Geruch für mich, den's gibt, gnädiges Fräulein, noch schöner als der Erdgeruch,« sagte er warm.
»Ja, ja,« meinte sie nachdenklich, »das mag schon stimmen. Sie sind ja auch Landwirt . . .« Dann richtete sie sich langsam auf. »Aber sagen Sie mal, Herr Romeit, genügt Ihnen das? Sehnen Sie sich nicht nach etwas anderm? Nach mehr?«
»Nein.«
»Sie sind eben noch nicht draußen gewesen, Herr Romeit.«
»Nein.«
»Es muß doch weit Schöneres geben!«
»Ich glaub's nicht recht, gnädiges Fräulein.«
Da lachte sie. »So eingekapselt sind Sie also schon?«
Er zuckte die Achseln. »Unsereiner hat den ganzen Tag zu tun. Und nach dem Abendbrot bin ich regelmäßig so müde, daß mir sogar die Zeitung aus der Hand fällt.« Er lächelte. »Da kommt man nicht auf ehrgeizige Gedanken.«
Modeste blickte an dem Mann vorüber durch die verstaubten Speicherluken ins Freie. Eine rote Sonne glühte kalt über der Ebene. – Sie verstand den Mann doch nicht!
Draußen auf der Holztreppe klappten Klotzkorken: der Hofmann und zwei Knechte, die Hafer zu holen kamen. Während die Säcke gefüllt wurden und von der Wage auf krumme Rücken schwankten, sagte das hübsche Mädchen mit einer absichtlichen Gleichgültigkeit: »Sie waren doch neulich in Eyselin, Herr Romeit – wie gefällt Ihnen die Wirtschaft dort?«
»Ganz gut, gnädiges Fräulein.«
»Versteht der Baron was von Pferden?«
»Ja.«
»Viel?«
Herr Romeit wartete, bis die sackbeladenen Rücken herausgeschwankt waren, und antwortete dann: »Nein.«
»Na, das werden Sie ihm auch nicht ins Gesicht gesagt haben!«
»Ins Gesicht allerdings nicht, gnädiges Fräulein. Aber ich habe ihm wenigstens gesagt, daß die Fohlen, die er selbst ausgesucht hat, meiner Ansicht nach wenig taugen.«
»Da wird er Sie in Zukunft wohl nicht mehr konsultieren!«
»Das weiß ich nicht, gnädiges Fräulein. Aber so viel weiß ich, daß er ein Herr ist, der auch Tadel verträgt von unsereinem . . . Er ist überhaupt ein sehr höflicher Herr und gar nicht stolz – viel weniger als sämtliche bürgerliche Prinzipale, die ich bis jetzt gehabt habe, und auch als die adligen Herren, mit denen ich in der Provinz zusammengekommen bin. Er hat mich zum Glase Sekt eingeladen und mir die beste Zigarre angeboten – unsereiner wird in dem Punkt wahrhaftig nicht verwöhnt! Ich kann auch nur sagen, daß er ein sehr kluger Herr sein muß, der sich unheimlich schnell in unsre Provinzverhältnisse eingelebt hat, obgleich er doch nicht von Hause aus Landwirt ist. Er hat mir so verschiedene Fragen vorgelegt, daß ich dachte: ›Donnerwetter, der weiß doch, worauf es ankommt!‹ Aber . . .«
»Aber?« fragte Modeste scharf.
»Ja, gnädiges Fräulein, was soll ich sagen? – Es liegt ihm doch wenig an unsrer Landwirtschaft.«
»Mögen Sie ihn sonst?«
Herr Romeit zögerte lange mit der Antwort: »Er ist keiner aus unsrer Provinz.«
In dem Augenblick fühlte das Schloßfräulein sehr deutlich, daß ihre Neugier zu weit gegangen war. Die hochmütige Solidarität mit der Aristokratie und der großen Welt stieg ihr auf. Sie fragte darum etwas von oben herab: »Sind Sie fertig hier, Herr Romeit?«
»Jawohl.«
Sie gingen. Unten blieb Modeste eine Weile vor der Schirrkammertür stehen. Durch eine Öffnung im Hofkarree schaute die Ebene herein: weit, klar, in rotes, böses Licht getaucht. Die Wüste fiel ihr ein und was ihr Herr von Falkner davon erzählt. So mochte die Sahara ausschauen, ehe der Samum sich erhebt. Und wieder begann sie magisch die Ferne zu locken und die große Welt.
*
Am nächsten Tage begann die Reitstunde.
Es war ein freier Platz bei der Scheune. Im Anfang gefiel der Unterricht Modeste gar nicht. Der Lehrer zeigte eine sehr kurze, energische Art, die von seiner eckigen Höflichkeit sonst bedenklich abstach. »Zügel nicht so krampfhaft fassen, gnädiges Fräulein! – Leicht sitzen! – Lassen Sie ihn doch ruhig austraben! . . . So werden Sie nie reiten lernen.« Er verzog dabei keine Miene und war ganz Despot. Wenn er nun aber gar mit der Peitsche knallte und der Braune mit gespitzten Ohren zu einem unregelmäßigen Galopp ansprang, faßte Modeste ängstlich in die Zügel und verspürte eine starke Neigung, den Pferdehals hilfesuchend zu umklammern. Darauf rief Herr Romeit fast ärgerlich: »Kopf hoch, gnädiges Fräulein! Das hilft nichts . . . Was wollen Sie eigentlich mit der Hand so weit vorn in den Zügeln?«
Sie war nicht empfindlich, aber diese kurze, befehlende Art eines Untergebenen schien ihr ein Übergriff. Sie wollte ihm das auch immer sagen. Jedoch wenn sie dann abgestiegen war und einige Minuten mit dem Gefühle herumwankte, als begäben sich die Füße auf ganz eigentümlich selbständige Pfade, von denen der übrige Körper nichts wußte, war sie anfangs wie betäubt in dieser linkischen Unbehilflichkeit, und dann mußte sie regelmäßig lachen über sich selbst.
»Ja, nehmen Sie mich nur scharf 'ran, Herr Romeit!« sagte sie in einer plötzlichen Wallung von Dankbarkeit und Erkenntnis.
»Ich muß wohl, gnädiges Fräulein, sonst dauert's Ewigkeiten . . . Und wenn einer, wie ich, beinahe zu Pferde auf die Welt gekommen ist, ist es ihm unbegreiflich, daß es noch Anfänger gibt.«
»Meinen Sie, daß ich Angst habe?« fragte sie rasch.
»Es scheint wenigstens.«
»Nun, so sage ich Ihnen, Herr Romeit, es mag ein unsicheres Gefühl sein – aber richtige Angst auf keinen Fall!«
Einmal – es war am Ende der ersten Woche – zeigte sich der Braune stätig und versuchte rückwärts zu treten.
»Na nu, das fehlte gerade noch!« rief Herr Romeit unwillig. Die lange Peitsche schwirrte, und das Tier begann zu steigen. Es dauerte nur einen Moment, doch das völlig ratlose Fräulein klammerte sich an die Mähne.
»Ja, wenn Sie wirklich jetzt noch Angst haben!«
Das Pferd stand.
»Ich Angst?« rief sie zurück. Und in derselben Sekunde zuckte die Reitgerte pfeifend auf die Hinterhand. Der Braune tanzte auf dem Fleck. – Ein zweiter Hieb – und das Tier schoß in Karriere davon. Die junge Reiterin schwankte dabei im Sattel wie eine Puppe.
Herr Romeit rief durchdringend: »Die Peitsche weg! Die Peitsche weg!« – und stürmte in langen Sätzen hinter dem Durchgänger her.
Diesmal lief's noch gut ab. Aber als der Lehrer seine unbotmäßige Schülerin endlich auf sehr tiefgründigem Sturzacker einholte, wo der Braune nicht mehr mittat, war er vollständig atemlos. »Wie konnten Sie nur, gnädiges Fräulein? Wie konnten Sie nur? Es war doch wahrhaftig nicht schlimm gemeint!«
Modeste lächelte etwas mühsam. Sie war todblaß. Der Lodenhut war ihr vom scharfen Ritte bis in den Nacken gerutscht. »Ich wollte Ihnen nur zeigen, daß ich keine Angst habe . . . Ich mag nicht viel taugen – aber feige – niemals!«
Sie sprach die Wahrheit. Das eitle, vielleicht schlechte Geschöpf kannte in der Tat die gemeine Feigheit nicht.
*
Zuweilen sah auch Herr Lindt dem Unterricht zu, sehr steif und kritisch, obgleich er sein Lebtag nie auf andern Gäulen als auf Kontorstühlen geritten hatte.
»Verstehen Sie denn wirklich etwas vom Reiten, lieber Romeit?« fragte die ölige Stimme verschiedentlich. »Ich möchte nicht gern, daß gleich zu Anfang alles verpfuscht wird.«
»Oh, er versteht schon seine Sache, Papa!« rief Modeste vom Sattel herüber, während Herr Romeit mit einem dunkelroten Schimmer im Nacken sich abwandt«.
»Na, das freut mich, lieber Romeit . . . Aber Sie wissen doch,« lispelte der alte Knochenmehlhändler wieder, »daß unter solchen kleinen Amüsements die Außenwirtschaft nicht leiden darf?«
»Ich war heute vormittag zweimal auf dem Vorwerk.«
Herr Lindt nickte befriedigt. »Das ist recht. – Im übrigen auch 'ne gute körperliche Übung für so 'nen jungen Menschen, wenn er sich die Beine mal ordentlich austritt . . . Nachher können Sie mir das Speicherbuch bringen.«
Herr Romeit verbeugte sich steif.
»Es stimmt doch hoffentlich alles? – Ich kontrolliere Sie ja eigentlich so gut wie nie. Das muß Ihnen ein ganz besonderer Sporn sein . . . Was Sie zuletzt gesät haben, lieber Romeit, gefällt mir, nebenbei gesagt, gar nicht. Und wie mir der Hofmann eben sagt, frißt das Viehzeug einen ja arm. Romeit, Romeit, wo soll das hin?! Die Pferde sind zum Arbeiten da und nicht zum Mästen – außerdem sind die Tage schon sehr kurz, und damit muß man rechnen. Ziehen Sie auf meine Verantwortung ruhig per Gespann zehn Pfund ab! Die Tiere laufen nicht zu ihrem Privatvergnügen 'rum, die sollen sich ebenso sauer und ehrlich ihr teures Futter verdienen wie ich mir mein kümmerliches Brot auf diesem von allen Inspektoren gleichmäßig schlecht bewirtschafteten Gute. – Da ist einer wie der andre: wo es ihn nichts kostet, wird unsinnig eingepfropft.«
Herr Romeit stand in verbissenem Schweigen.
»Ist das Wirtschaftsgespräch nun glücklich fertig, Papa?« rief Modeste und ritt im Schritt heran.
Herr Lindt nickte wieder sehr würdig: »Jawohl, liebes Kind.« – Darauf ging er ab, langsam und würdevoll, wie's einem Schloßherrn zukommt.
Herr Romeit machte zugleich eine Bewegung mit der Peitsche, die höchst unnötig war, wenn sie nicht zufällig in gedanklichem Zusammenhang mit Herrn Lindts Kehrseite stand.
Modeste, die alles angehört hatte, wunderte sich über diese Predigten längst nicht mehr. Inspektoren haben ja bekanntlich ein so dickes Fell! Aber die Bewegung mit der Peitsche gab ihr zu denken. – Es mußte wohl auch unter diesen Leuten anständige Menschen geben, Männer mit wirklichem Ehrgefühl, und vielleicht war Herr Romeit einer von denen.
Sie schieden heute beide auffällig rasch und ohne die hippologischen Gespräche, die sonst unfehlbar der beendeten Reitstunde gefolgt waren. Er half ihr aus dem Sattel und ging weg, und sie hatte heute besonders herablassend gegen ihn sein wollen.
Im übrigen nahm das Reiten auch nach dieser Inspektorlaune seinen ungestörten Fortgang. Am Ende der zweiten Woche kam das sehnsüchtig erwartete Reitkostüm aus Königsberg: schwarzes Kleid und schwarzer Zylinder. Als Modeste sich und den neuen Dreß zum erstenmal neugierig im Stehspiegel des Turmzimmers betrachtete, war es ihr eine eitle Freude, wie vornehm das schmucklose Schwarz ihr zu Gesicht stand. Die schlanken, schönen Glieder so geschmeidig, von dem weichen Stoff mehr markiert als kaschiert. Der Reithut mit dem Schleier saß keck auf dem flimmernden Kraushaar. Als sie durch den Park zum Reiten ging, schauten ihr die Mädchen aus dem Souterrain bewundernd nach, und auf dem Wirtschaftshof starrte sie ein Dorfjunge grußlos an, wie eine Erscheinung. Sie fühlte ihren Reiz selbst, und die biegsame Gestalt hob sich anmutiger.
Herr Romeit erwartete sie, das Pferd am Zügel, pünktlich wie immer. Eigentlich hatte sie sich auf seine Bewunderung besonders gefreut, auf die ungelenke Eloge, die sie wirklich verdiente. Aber der Mann blieb stumm. Beim Aufsitzen fragte Modeste darum spitz: »Nun, gefall' ich Ihnen nicht so?«
»O gewiß, gnädiges Fräulein.« Mehr sprach er nicht. Er schien zerstreut und sah immer an ihr vorüber.
›Er ist doch ein Bauer!‹ dachte sie.
Der Unterricht war überhaupt lascher geworden in den letzten Tagen, und mancher Fehler entging dem Lehrer – heute besonders. Modeste ließ sich absichtlich gehen, und der Braune verfiel unter ihrem heimlichen Sporn in einen argen Dreischlag. Es war ein Kardinalfehler – sie wollte den Mann ärgern. Er sah auch das nicht. Da ward sie des Reitens müde. Als er ihr die Hand zum Abspringen hinhielt, wie gewöhnlich, fühlte sie durch die dünne Sohle des neuen Reitstiefels hindurch, wie diese Hand vibrierte – und es war doch eine braune, sehnige, gar nicht nervöse Hand. Der Mann stand gebückt. Erst als sie aus dem Sattel glitt, hob er den Kopf. In seinem hübschen Gesicht lag etwas eigentümlich Gespanntes, und die grauen Augen schauten fahl, mit einem winzigen flackernden Leuchtpunkt ganz hinten. Er erschien ihr auf einmal fremd.
»Was ist Ihnen, Herr Romeit?«
»Wie meinten gnädiges Fräulein?« Die Stimme kam aus einer trockenen Kehle.
»Was Ihnen ist?« fragte sie lachend laut.
»Nichts, gnädiges Fräulein.« Er nahm das Pferd am Zügel, und Modeste ärgerte sich wieder.
Sie gingen zusammen nach dem Stall. Da sagte er auf einmal stockend und doch hastig: »Gnädiges Fräulein müssen mir versprechen, niemals wieder Ihr Leben so in Gefahr zu bringen wie neulich, wo der Braune durchging. Sie hätten wirklich stürzen und im Bügel hängen bleiben können . . . Ich wollte das gnädigem Fräulein schon lange sagen.«
Modeste sah ihn groß an. »Sie sind ein merkwürdiger Mensch! – Wenn ich mir den Hals breche, ist es doch nicht Ihr Hals, lieber Herr Romeit.«
»Ich meinte auch nur,« antwortete er zögernd. – »Und es wäre doch ein furchtbares Unglück.«
»Wir wollen's darauf ankommen lassen, lieber Herr Romeit. Unkraut verdirbt nicht.« Aber sie reichte ihm doch freundlich die Hand.
Begriff sie in der Tat, daß auch die größte Eloge über das Reitkleid ihrer Eitelkeit nicht so schmeichelhaft hätte sein können, als diese ungelenke Angst um ihr junges Leben?!