Johannes Richard zur Megede
Modeste
Johannes Richard zur Megede

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9

Ein strahlender Nachmittag grüßte. Die Ebene schneeweiß, glitzernd. Von dem Schulhause stieg der Rauch kerzengerade in die Winterluft. Die Krähen im Park krächzten laut und flatterten heftig. Es war schneidend kalt. Nur ein Rabenvater saß bedächtig auf der Spitze der höchsten Fichte und hielt Umschau. Als er mit kurzem Flügelschlag davonstrich, rieselte ein Schneeregen von den schwerbeladenen Ästen.

Modeste stand am Fenster des Turmzimmers, freute sich über den Raben, den Schneeregen und empfand dabei wohlig die Wärme des knisternden Ofens. Es war gegen vier. Die beiden Mädchen zogen sich zum Ball an – nicht lachend, plaudernd, wie sonst Schwestern tun, sondern schweigend und mit einem gelegentlichen Seitenblick. Die stichelnde Feindschaft der Schwestern war zum gefrorenen Haß gediehen seit der letzten Aussprache. Im Bösen vergaß auch Modeste nie.

Die Ältere stand vor dem Stehspiegel und nestelte an den Taillenhaken. Sie war schon im Staat, das Haar gebrannt, auf den Wangen ein leichter Puderhauch. Das hellgrüne Kostüm machte das blaßblonde Gesicht noch welker. – Modeste hinter ihr, halb angekleidet, Arme und Schultern nackt. Wie sich die beiden Gestalten widerspiegelten – das Blühen und das Welken nebeneinander, wie zum Hohn – trafen sich auch die Augen der Schwestern. Frida runzelte die Stirn, die Hand knöpfelte nervös. Und Modeste in dem Hochgefühl siegender Jugend und Schönheit lächelte fein, bog wie im Spiel den schlanken vollen Körper mit dem koketten Reiz einer Tänzerin. Die Arme leuchteten weiß, über den Hals floß es rosig, die Haut schien zu duften. – Der Älteren riß eine Öse. Modeste lächelte höhnisch.

Da wandte sich Frida mit mühsamer Selbstbeherrschung um:

»Du bist doch wieder schamlos!«

»Nein du, liebe Schwester. Denn du hast nie ertragen können, daß eine andre hübscher ist als du.«

»Ach du!« zischte Frida.

»Ach du!« echote achselzuckend Modeste.

»Ich werde mich unten weiteranziehen.«

»Das wollte ich dir eben raten, liebe Frida.«

Die ältere Schwester ging. Der fade Puderhauch zog mit ihr.

Modeste verbeugte sich graziös im Spiegel und grüßte mit der Hand. »Adieu, adieu!«

Frida ließ die Türklinke, die sie schon gefaßt hielt, wieder los und kam zurück. »Du bist schlechter als schlecht!« rief sie mit bebender Stimme. »Aber wenn du dir übrigens einbildest, ich wüßte nicht, auf was du schon seit Monaten spekulierst!«

»Auf was spekuliere ich?« fragte Modeste sehr ruhig zurück.

Die Schwester trat ganz nahe und zischelte nur noch: »Den Falkner willst du heute einfangen – den Falkner! . . . Den Xaver Kajetan Falkner von Öd, Freien Panierherrn zu Eyselin. – Das paßte dir so – jawohl! . . . Aber der für dich Interesse haben – der? . . . Der eine Lindt heiraten – der? . . . Das ist kein Graf Axsil! Der braucht kein Geld . . . Und dich braucht er noch viel weniger!«

Modeste sah die Schwester unverwandt an – sehr blaß, aber die Augen brannten. »Bist du nun fertig? – Du bist ja weiß Gott besser orientiert als ich über mein Inneres! . . . Aber das kann ich dir sagen: wenn ich wollte, wenn ich ernstlich wollte . . .« Sie hob den schönen nackten Arm. – »Dieser Finger hier genügt, dieser kleine Finger! Ich brauche ihn nur auszustrecken. Heute abend noch – heute abend noch! . . . Aber ich strecke ihn nicht aus.«

»Weil du ihn dir verbrennen würdest, ihn dir vielleicht schon verbrannt hast! Ha, ha! . . .«

Sie ging, um noch einmal zurückzukommen und durch die Türspalte böse zu wispern: »Weißt du, wozu du ihm höchstens gut wärst? . . . Zu . . . zu . . . Ja, tu nur möglichst unschuldig! – Es ist ein französisches Wort und fängt mit dem M an. Die Pompadour war auch eine . . . Aber ich glaube, du wärst ihm nicht einmal dazu gut genug . . .«

Modeste tippte nur an die Stirn. Der Pfeil traf wirklich nicht! Sie liebte ja den Namen, nicht den Mann . . . Aber während sie sich allein weiteranzog, langsam, sorgfältig, immer den Blick im Spiegel, da hatte sie angesichts der schönen Gestalt, die das weiche Blau so reizend umfloß, das trunken überquellende Siegergefühl, daß heut oder nie ihre Jugend allmächtig sei.

Das Stubenmädchen klopfte: »Gnädiges Fräulein, die Herrschaften warten schon!«

Modeste hüllte sich rasch in den Pelzmantel und stieg die Treppen hinab, das hübsche Gesicht unverschleiert, wie stets.

In der Schloßeinfahrt die Schlitten. Der kleine russische – Frida saß schon tief vermummt drin, neben dem Inspektor im grauen Fahrpelz. Und der schwere geschlossene – die Bombe genannt –, der an Böschungen gern umzukippen pflegte und mit seiner Matratzenluft leicht Seekrankheitsanwandlungen heraufbeschwor. Modeste haßte ihn. Aber sie hatte keine Wahl. Die Eltern saßen bereits im Fond. Der alte Lindt brummte – er war ein ungewöhnlich pünktlicher Mann . . . So fuhren sie in die lichte Schneedämmerung hinein. Modeste zählte auf ihrem Rücksitz die Minuten. Dann klang hinter ihnen ungeduldiges Schellengeläute. Als sie vor der Ressource der Kreisstadt hielten, parierte auch ein zweites Gespann. Ein Herr stieg aus, ging grüßend vorüber und sagte aus seinem hochgeschlossenen Pelzkragen, nicht übermäßig verbindlich: »Ihre Litauer haben die ungarische Geduld auf eine harte Probe gestellt, Herr Lindt! Meine Jucker sind kochgar, aber nicht vom Laufen.« Es war Herr von Falkner, in Zivil. Modeste wunderte sich. Sie hatte sich eigentlich auf seine Gardeuniform gefreut.

Das Haus war festlich erleuchtet. Schwankende Tannengirlanden, kräftiger Harzgeruch. Auf den ausgetretenen Stiegen ein Gewimmel vermummter Gestalten. Oben an der Treppe empfing der Bezirksadjutant, unendlich höflich mit dienstlich zur Seite geneigtem Ohr.

»Guten Tag, Herr Hauptmann . . .«

»Gnädigste Frau suchen Ihren Herrn Gemahl?«

»Bitte, die Damen rechts, die Herren links.«

In der Garderobe schälten sich die Damen aus ihren Hüllen. Man drängte sich brummend, erkannte sich dann lachend. Es roch nach feuchter Schneeluft, duftete nach Parfüm. Hier glitt ein weißer Handschuh noch einmal liebevoll tastend über die Haarfrisur. Dort stampfte eine alte Dame zornig mit den Gummischuhen. – In der Herrengarderobe: Sporenklirren, Stiefelknistern. Die Atmosphäre von Stangenpomade, frisch gebügeltem Tuch. Laute Begrüßung. In einer Ecke der leise getuschelte neueste Mikoschwitz, dem wieherndes Gelächter folgte.

Seit vier Jahren der erste Reserveball wieder. Es war wahrlich ein Ereignis.

Modeste lachte und grüßte nach allen Seiten. Alle Freundinnen waren da, die hübschen, die häßlichen, vor allem die häßlichen. Dazwischen der Stern von Barginnen so übermäßig sicher und jung.

Als sie in den Saal traten – der Bezirkskommandeur an der Tür, die Brust voller Orden –, überflog Modeste mit einem hellen Blick die festliche Menge. Ein wirres Durcheinander von Uniformen: Landwehr, Reserve, Linie. Vom Dragoneradjutanten, der bewundernd auf die tadellose Bügelfalte starrte, bis auf den Landwehrhauptmann mit der dicken Stiefelsohle – fast alles ostpreußische Regimenter. In Gruppen, wie natürlich. Die Kavallerie exklusiv, lascher, eleganter – der Adel. Die Infanterie mehr Kommiß, mehr Drill – die Bürgerlichen. Dazwischen versprengt die Artillerie, das leichte Geschütz zu Pferde – Kavallerieschick; die schwere Bombe – bürgerlich, gesetzt.

Modeste fand den Ballsaal reizend dekoriert. In den Ecken Tannenarrangements, von künstlichem Schnee glitzernd, die Wandleuchter mit wehenden preußischen Flaggen drapiert. Dazu das prickelnde Parfüm einer großen Gesellschaft, die schwüle Atmosphäre vieler Menschen.

Der alte Eller empfing sie zuerst – klein, grau, im altmodischen Frack, mit komisch gewellter Tolle: »Aber gnädiges Fräulein, Sie werden noch alle Männer heut verrückt machen! Die Landesirrenanstalt blüht.« Gleichzeitig fuhr er sich lachend über den Kopf: »Kommen Sie weg von den Kürassieren! Die wollten mich nämlich schon zum Fenster rauswerfen. Ganz freundlich, nicht wahr? Fragt mich da so 'n Rittmeister: ›Ob ich auch Soldat gewesen wär'.‹ – ›Nei,‹ sag' ich. ›Wo werd' ich? Ich bin zu schad' gewesen für den bunten Rock . . .‹ Aber da hätten Sie man sehen sollen, den Bos! – Ich streifte mich glücklich noch so durch. Den Zylinder hatten sie mir aber schon in aller Eile zerbolzt!« Dabei zog er Modeste an der Hand fort. »Gnädiges Fräulein, was haben Sie nur für 'n weiches Patschchen! . . . Sehen Sie doch mal den Tilsiter Dragoner, den Reserverittmeister! Vor der letzten Übung hat er wahrscheinlich keinen Bauch gehabt, jetzt hat er aber einen. Wie sich das stremmt! . . . Kommen Sie rasch weg, gnädiges Fräulein! Der Kerl explodiert uns am Ende noch . . . Und da der gute Wagner im Frack! Pisang bleibt doch Pisang. Nüchtern ist er schon seit heute vormittag nicht mehr.« Unter solchen Belehrungen ging es durch den Saal, bis sie plötzlich vor Herrn von Falkner standen. Der alte Eller rief: »Na, da haben wir Sie ja endlich, Herr Baron! Der Herr hier, gnädiges Fräulein, sehnt sich nämlich sehr nach Ihnen. Tun Sie ihm doch den Gefallen und gönnen Sie ihm den Kotillon!«

Herr von Falkner verbeugte sich etwas steif. »Tanze überhaupt nicht, lieber Eller. – Nicht wahr, das ist auch heute nichts für Zivil, gnädiges Fräulein?« Er zeigte dabei auf seinen eleganten englischen Frack, aus dessen Knopfloch ein gelbes Ordensband leuchtete.

»Rettungsmedaille! Das ist doch noch ein Mann!« lobte der alte Eller.

Modeste lachte. »Da tanzen Sie eben nicht!« Ein leichter Reif fiel auf ihre Ballstimmung. Er verging bald.

Als sie unter den Kronleuchter trat, war sie sofort von Herren umringt. Und immer wieder konnte sie achselzuckend sagen: »Besetzt, besetzt! Vielleicht bekommen Sie später eine Extratour, vielleicht auch nicht.« Und dann sah sie sich kühl im Kreise um nach den Freundinnen, Bekannten, nach den jungen Mädchen, die sie heute herzlich liebte, weil sie häßlicher waren als sie. – Die Polonäse begann. Modeste am Arm des einzigen Gardekürassiers, der auf Jagdurlaub in der Gegend weilte. Sie war so froh, so glücklich! Und an der Wand so viel Mauerblümchen – so viel! . . . Ach, das Leben war doch so schön!

Einmal nur zuckte leicht ihr Arm in dem ihres Kavaliers. Da war ja auch Judith von Bussard mit ihrer Mutter. Sie standen gleich an der Tür. Judith in weißer Seide, so elfenschlank, so wunderhübsch mit der leuchtenden Haarkrone und der müden Vornehmheit! Sie war wohl im Ballkleid, aber sie tanzte nicht. Und instinktiv suchten Modestes Augen den Falkner von Öd. Er saß an der entgegengesetzten Seite, von einer Säule halb verdeckt, den Blick auf dem Chapeau claque in der Hand. Und wieder dachte sie übermütig: ›Wenn ich wollte, wenn ich wirklich wollte!‹ . . . Es war der köstliche Jugendrausch – der köstlichste heut, vielleicht auch der letzte.

Nach dem Tanz ging sie zu Bussards. Die Mutter empfing sie freundlich, die Tochter eisig

»Ich dachte, Sie wären schon an der Riviera, Frau Baronin.«

»Ja, wenn's auf mich angekommen wäre . . . Aber Judith geht nicht.«

»Warum eigentlich, Judith?«

»Weil ich nicht will, Modeste.«

»Und warum tanzt du denn nicht wenigstens?«

»Weil ich auch nicht will, Modeste.«

»Aber du bist doch im Ballkleid!«

»Ja. Und es ist sogar ein Pariser Ballkleid, auf das ich mich sehr gefreut habe.« Der Ton war so bitter, daß Modeste nur die Mutter ansehen konnte.

Frau von Bussard lächelte etwas müde. »Judith ist nicht recht wohl – mir ist auch nicht wohl.«

Da ging Modeste.

Und während die Musik tönte, die Füße wirbelten und der ganze törichte Ballzauber den Stern von Barginnen mit weicher Woge umfing, blieb Judith von Bussard auf demselben Fleck stehen und sah ins Leere. Es war etwas Suchendes, Flehendes in ihrem Blick. Plötzlich wandte sie sich zur Mutter. »Wir wollen gehen, Mama.«

»Ja. Aber tanz der Form halber wenigstens einmal 'rum! Ich werde dir deinen Vetter Mieritz schicken. Du weißt, er hat die Polonäse nur faute de mieux mit Modeste getanzt.«

»Ich tanzen, Mama? Ich? Wenn du das überhaupt für möglich hältst nach dieser Begrüßung vorhin!« Die Wangen waren ihr gerötet, und das Auge flackerte. »Ich habe dir alles gesagt, Mama.«

»Ich dir auch, mein Kind, das heißt später werde ich dir wirklich einmal alles sagen . . . Ich verstehe dich nur zu gut. – Aber es geht alles vorüber, alles.«

»Mama!«

»Judith?«

»Du verstehst mich doch nicht, Mama!«

Sie gingen beide ohne einen Blick zurück.

Wenige Minuten später stand auch Herr von Falkner auf und sagte zu einem aktiven Rittmeister, der ziemlich gelangweilt den Tänzern zuschaute: »Riewes, wir wollen mal denken, wir ständen beide noch in Potsdorf bei Berlin, und Vöros Miska spielte im Kursaal . . . Erinnern Sie sich noch?«

»Ob ich mich erinnere, alter Leichtfuß! Was wir damals mit den Weibern für Pommery getrunken haben – namentlich Sie . . . Heute will das nicht mehr.«

»Aber ich möchte nun einmal trinken, Riewes – viel trinken!«

Der Rittmeister zuckte die Achseln. »Sie sind doch der alte Leichtfuß geblieben. Seien Sie nur erst verheiratet! . . . Also denn los!«

Die Tanzwogen gingen höher. Modeste war glücklich. Sie hatte fast nur mit Adligen getanzt. Der Gardekürassier führte sie auch zu Tisch. Es war ein eleganter, äußerst korrekter junger Herr mit einem etwas gelangweilten Zuge um den Mund. Er gefiel Modeste, er gefiel ihr auch nicht. Als sie mit dem Sektkelch anstießen, fragte sie leichthin: »Wer sah nach Ihrer Ansicht, Herr von Mieritz, heute am besten aus?«

»Meinen Sie vorhin oder jetzt?«

»Ich meine überhaupt.«

Er lächelte verbindlich: »Solange meine Cousine Judith Bussard da war, glaubte ich, sie wäre die Hübscheste heut. Jetzt weiß ich, daß Sie es sind, mein gnädiges Fräulein.«

Da gefiel Modeste der Gardekürassier gar nicht mehr. –

Dann kam ein Moment, wo Modeste eine leichte Übermüdung fühlte, die ihr gerade die Augen schärfte. Es war nach der großen Pause. Der Ballsaal verlassen, grau, stickig. Die Weingerüche vom Büfett her, die lärmenden Herrenstimmen aus dem Rauchzimmer; über einem geöffneten Fenster die fadenscheinig wallende Draperie. Der Stern von Barginnen stand an derselben Stelle, wo Judith von Bussard gestanden. Schwitzende Diener trugen Tische, hinter einer Säule goß heimlich die Kasinoordonnanz einen Weinrest hinunter. In einer Ecke alte Damen im eifrigen Gespräch: Frau von Gadebusch mit dem Schnurrbart und der Kürassierhaltung, als wenn sie sagen wollte: »Der Adel bittet nicht, er gewährt nur!« Die Töchter hatten wenig getanzt . . . Das Rauchzimmer lag gerade gegenüber, weit geöffnet, eine ekle Dunsthöhle, aus der nur die Uniformknöpfe hervorblitzten. Der dicke Bezirkskommandeur sagte gerade ölig: »Siebzehn Jahre war ich lanzenschwingender Kosak – aber den Napoleon habe ich noch zu Fuß aus Frankreich rausgejagt.« – Ein sehr geröteter Infanterist schrie überlaut. – Der Dragoneradjutant sah erst mißbilligend auf den Kameraden vom Lande, dann wieder befriedigt auf seine Hosenfalte. An einem Tisch spielten ältere Herren Skat – der alte Eller fuchtelte mit den Karten . . . Ein Lachen, Lärmen, Gläserklirren! Modeste interessierte das Bild. Wo's lustig zuging, schaute sie gern. – Und dennoch war es die Rückseite der Medaille, die sie hier sah. Sie fühlte das recht gut. Die Stallwitze, der Bierdunst, das behagliche Sichgehenlassen. Zwei Offiziere traten in den Saal. Der eine schlank und hübsch, ihr Tischherr; der andre behäbig, lächelnd, Falkners einstiger Gardekamerad.

»Es sind eben die bewaffneten Reservehorden der Provinz.«

»Pfui Teufel! Der Linieninfanterist da drin torkelte ja,« sagte der Schlanke laut.

Der Behäbige winkte lachend ab: »Ist ja zum Torkeln da, so 'n Tag! Aber sie werden schon genau so, wie Falkner früher war. Verrückter Kerl, der! Tanzt nicht, spricht nicht, sitzt mit 'ner Pulle Pommery allein in einem Zimmer. Natürlich alles nicht fein genug! . . . Ich finde es ganz nett. Namentlich die Mächens. Ganz schnittige Dinger, die litauischen Remonten, zum Beispiel die älteste Gadebusch: Gardedukorps, Chargenpferd, Gewichtsträger. – Die Jüngere geht hinten links nicht ganz korrekt. Verstellte Fessel . . . Aber die Lindt – ich meine natürlich die Remonte und nicht den Krümper – wie die sich beizäumt beim Walzer! Brillanter Halsaufsatz . . . Wissen Sie, lieber Mieritz, ich taxiere die Weiber auf Bällen immer genau so, wie die Bauern die Pferde auf dem Wehlauer Markt. Kommt damit am weitesten. – Fehler haben sie natürlich alle. Taugt der Rücken was, hapert's mit dem Gangwerk und umgekehrt. Bei Ihrer Cousine Bussard ist beides bißchen fein, bißchen sehr fein, aber sonst gut, soll dafür auf den Lungen pfeifen. Schade, daß sie weg ist! Blut bleibt doch Blut.«

»Meine Cousine scheint mit dem Falkner etwas gehabt zu haben?«

»I wo, Mieritz! Der liebt und haßt nur par amour. Ehe wäre ihm, glaube ich, greulich . . . Ich weiß eigentlich nicht, warum er sich nicht der kleinen Lindt angenommen hat. War eigentlich sonst sein Genre.«

»Wohl sehr Parvenüs, die Lindts?«

»Wie Falkner sagt, sogar Halsabschneider.«

Modeste hatte kein Wort dieser Unterhaltung gehört – aber wie im Anblick des verödeten Tanzsaals ihr das farbenfrohe Bild des Tages verblaßte, stieg ihr wieder das Bild des Mannes auf, der ihr der Typ des blasierten Gesellschaftsaristokraten schien. Wo war er? Sie hatte ihn seit der Polonäse nicht wieder erblickt. – Sie schlenderte ohne bestimmten Wunsch weiter durch den Ballsaal, der sich langsam mit Tänzern füllte – die Toiletten verknüllt, die Gesichter ohne Frische. Das Fest ward ihr fast leid. – Sie streifte dabei Frida, wie eine völlig Fremde, erblickte Herrn Romeit in seinem unmodernen Frack auf der Galerie. Plötzlich befand sie sich in einem kleinen schwach erleuchteten Raum neben dem Damenzimmer. Ein einsamer Herr saß dort an einem Tisch – der gefüllte Sektkelch abgestanden, die Zigarette erloschen. So sehen müde, vom Jahrmarktstreiben des Karnevals angeekelte Gesellschaftsmenschen aus.

»Guten Morgen, Herr von Falkner,« rief sie dreist. »Schon ausgeschlafen?«

Er drehte sich langsam um: »Ach, Sie sind's, gnädiges Fräulein! Schon ausgetanzt?«

»Nein, ich will erst recht tanzen!«

»Und wer ist der nächste Glückliche?«

»Ja, raten Sie mal! . . . Ich will nämlich mit Ihnen tanzen,« rief sie lachend. »Es ist Damenwahl, und wenn ich Sie engagiere, müssen Sie einfach!«

Er stand auf und schnippte sich einen Aschenrest vom Ordensband. »Es tut mir unendlich leid, meine Gnädigste.«

»Ich habe Sie angeführt!« lachte sie wieder. »Meine Tanzkarte ist übervoll, und bei der Damenwahl wären Sie ganz gewiß der Letzte.«

»Das meine ich eigentlich auch, gnädiges Fräulein.«

»Haben Sie noch eine Zigarette?« fragte sie.

»O gewiß.« Er präsentierte ihr das zierliche Goldetui mit seinem Namenszug in Brillanten.

»Das ist wunderhübsch!« rief sie.

»Ja, es ist in der Tat wunderhübsch. Ein Großfürst hat's mir geschenkt, als ich einmal in Petersburg zum Ehrendienst befohlen war!« Er hielt ihr das Streichholz, während sie mit graziös gespitztem Munde zog.

»Ich bin nämlich gekommen, um mit Ihnen zu plaudern. – Dreist? – Geniert mich aber nicht weiter. Denn das Tanzen habe ich eigentlich satt . . . Sagen Sie, Herr von Falkner, ist das nun eigentlich ein Ball?«

»Soll wenigstens einer sein.«

»Ich kenne ja die Königshallenbälle auch. Aber das sind doch keine eigentlich vornehmen Bälle. Ich meine, sind die Bälle der großen Welt nicht ganz, ganz anders . . .? Also sagen Sie schnell!«

Er zuckte die Achseln. »Ja, da müßte ich Ihnen einen ganzen Vortrag halten.«

»Gut, halten Sie ihn!« Sie ließ sich auf einen Sessel gleiten mit jener koketten Anmut, die stets die Herren entzückt.

Er war stehengeblieben. Und als ob er keinen Blick für diesen Jugendreiz hätte, sagte er nur affektiert langsam, wie es Modeste schien: »Große Gesellschaft ist schon an und für sich eine Lüge, ebenso wie gute, denn alle Gesellschaft ist klein und gemein.«

»Um Gottes willen, Baron!«

»Jede Gesellschaft ist außerdem ein notwendiges Übel.«

»Jetzt geh' ich aber wirklich!«

Er aber fuhr unbewegt fort: »Und Sie, meine Gnädigste, gehören in diese Gesellschaft mit Haut und Haaren. Das tut nämlich jede hübsche Frau, die sich gern gut anzieht. Pour le monde il n'y a que du monde.«

Im Ballsaal setzte der Faustwalzer ein, leicht, prickelnd. Die Schatten der Tänzer glitten unsicher an der Wand.

»Ihr Kavalier vom Dienst wartet, gnädiges Fräulein.«

»Mag er warten!« Sie blies den Zigarettenhauch in die Luft.

Herr von Falkner lauschte den Tönen.

»Tanzen Sie überhaupt, Baron?«

»Ich habe recht gern getanzt.«

»Und warum nun heut auf einmal nicht?«

»Weil ich nicht will, meine Gnädigste.«

»Und wenn ich nun wollte, Baron?«

Er sah an dem hübschen Mädchen mit einem eigentümlich schillernden Blicke vorüber. »Gelüstet es Ihnen so sehr danach? . . . Seien Sie vorsichtig! . . . Ich habe noch niemand Glück gebracht, am wenigsten Frauen.«

»Vielleicht bringen Sie es mir!«

Er horchte wieder auf die Musik. Plötzlich wendete er sich zu Modeste: »Sie wollten wissen, was eigentlich an der sogenannten Gesellschaft dran ist? Eh bien – tanzen wir also!«

»Aber natürlich nur zum Scherz und einmal 'rum, Baron!«

»Nein, den ganzen Tanz –«

»Meinetwegen auch den ganzen Tanz . . .«

Sie traten in den Saal. Falkner von Öd führte elegant, sicher. Und Modeste hatte sich noch nie so weich, so leicht hingleiten gefühlt. Es war ein Triumph – und sie genoß ihn.

Als die letzten Töne verklangen, schienen ihm die dunkeln Augen heiß geworden zu sein. Sie ruhten auf ihrem schönen Hals.

»Nun, gnädiges Fräulein, wie war's?«

»Sie sind der beste Tänzer hier, Herr von Falkner,« antwortete sie enthusiastisch. Sie wollte gehen. Es war ein ungewisser Instinkt. Aber er ließ sie nicht, führte sie wieder zurück in das kleine Zimmer. Dort konversierte er mit ihr, leicht, lustig. Und immer wieder fühlte sie den Blick auf ihrer Schulter. Sie hatte die Zigarette wieder angezündet, aber sie setzte sich nicht mehr.

Während des Gesprächs mußte sie immer denken: »Wenn er nun jetzt um mich anhielte? Und dann müßte ich ihn Du und Xaver Kajetan nennen. Xaver Kajetan, wie komisch! Der Name ginge mir nie über die Zunge . . . Aber wie sollt' ich ihn sonst nennen?'

Herr von Falkner zwang sie jetzt mit liebenswürdiger Beflissenheit auf den Fauteuil zurück. »Sie sind eine kleine Zauberin . . .«

»Daß ich nicht wüßte, Baron!« Ihr gefiel das heiße Gleißen in seinen Augen nicht.

»Sie sind eine kleine Zauberin dennoch,« wiederholte er. »Sie haben mir Lethe gegeben. Wissen Sie, was Lethe ist? – Sie sollen mir noch mehr Lethe geben, viel mehr! . . . Hören Sie, viel mehr! . . .«

»Ich verstehe Sie nicht, Baron.« Aber es rann ihr heiß über Schulter und Gesicht.

Dann nahm er ihr Handgelenk. Das Armband klirrte leise. »Sie sind wunderhübsch, Fräulein Modeste, wunderhübsch! . . . Es ist keine leere Schmeichelei! . . .« Seine Stimme war ganz leise und heiser geworden. »So etwas brauche ich, Modeste . . .« Er hatte sich über sie gebeugt, so nah, daß ihr Stirnhaar unter seinem Atem zitterte.

Sie schlug die Augen nieder – es mußte ja der große Moment in ihrem Leben sein . . . Aber ein seltsames Empfinden durchpulste sie. Rausch, Ekel . . . Sie wußte nicht, was stärker.

Als er ihr jetzt den Arm hob und küßte, zuckte sie zusammen.

»Sie fiebern, Modeste,« flüsterte er.

Sie schüttelte nur den Kopf und preßte die Lippen zusammen.

»Du fieberst doch, Modeste . . . Oh, ich kenne euch – ich kenne dich sehr gut, du kleiner, lieber, blonder Schatz. Ihr wollt nicht, aber ihr müßt – ja, ihr müßt!«

Wie im Traum hörte Modeste die Musik herüberklingen . . . Sie schloß die Augen, sie fühlte einen Kuß auf ihren Lippen. Noch einen – noch einen . . . Da ertrug sie's nicht länger. Sie riß sich los, sprang auf mit leeren Augen und glühenden Wangen.

»Modeste, Vorsicht! Es könnte jemand . . .«

Da begriff sie.

»Herr von Falkner, Sie haben . . . Sie sind . . . Sie haben also gewagt . . .« Sie hatte es schreien wollen, aber sie konnte es nur zischen.

Da fühlte sie wieder seine Hand an ihrem Arm – der Druck kalt, zwingend. Sie taumelte förmlich in den Sessel zurück. »Bleiben Sie sitzen,« befahl er, »kein Wort, kein Laut! Es ist Ihre Ehre, um die es sich handelt, nicht meine . . . denn wenn Sie vielleicht wähnen, daß irgend etwas auf der Welt mich zwingen könnte, so irren Sie sich. Ich habe eben etwas getan, was ich natürlich nicht hätte tun sollen. Aber ich hab's nun einmal getan . . . Ich habe mich eben geirrt. Meine Geliebte hätten Sie sehr gut sein können – meine Frau: nie! Hören Sie – meine Geliebte! . . . Es ist ein häßliches Wort. Aber ich beschönige nichts. Ich kann eben nur eine Geliebte brauchen – nur eine Geliebte. Und wenn vielleicht an diesem Abend heute einem andern anbetungswürdigen Geschöpf das Herz gebrochen ist, so kann ich ihr auch nicht helfen. Ich kann nicht, ich kann nicht! Wenn Sie mich und mein Leben kennen würden, würden Sie mich vielleicht verstehen . . . Es ist ein Fluch, der auf mir lastet – aber ich wollte doch nicht leben ohne diesen Fluch. Verstehen Sie mich? – Ich verstehe mich zum Beispiel heute nicht . . . Wenn Sie also verständig sind, vergessen Sie diesen unglückseligen Moment, wie ich ihn vergessen werde! Nehmen Sie an, es war temporärer Wahnsinn von mir – vielleicht war er's auch . . . Aber wenn Sie irgend mal im Leben einen Freund brauchen, einen wirklichen Freund, so will ich's wettzumachen versuchen . . . Um Verzeihung bitte ich Sie nicht. Denn so etwas kann man nicht verzeihen.«

Er hatte leise und scharf gesprochen, mit jener Ruhe, die nur große Erregung gibt. Jetzt gab er ihren Arm frei.

Modeste stand langsam auf. »Sie sind ein Schurke – und ich vergesse nichts! Lassen Sie mich allein!«



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