Johannes Richard zur Megede
Modeste
Johannes Richard zur Megede

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

21

Wenige Tage später trafen Axsils in Barginnen ein. Überhaupt drängten sich jetzt die Besuche bei Lindts – teils Neugierde, teils Neid. Die lieben Nachbarn sind nun einmal so geartet auf der ganzen Welt. Selbst unsre besten Freunde, die unsre Erniedrigung so ehrlich mitbeklagt haben, ertragen unsre Erhöhung nur stöhnend. Und so ging es auch Modeste mit den »Elefantenkeucheln«, mit Frau Murrmann, selbst ein wenig mit der kleinen Meyners. Nur mit dem Unterschied, daß die fremdwortfrohe Dame nach einer geradezu überschwenglichen Gratulation in Barginnen – bei welcher Gelegenheit beinahe der Gärtner Strauß noch einen Rührungskuß mit abbekommen hätte – auf der Heimfahrt zu den Gadebuschschen Mädchen schadenfroh bemerkte: »Wer oder was mag ihnen das wohl verschafft haben? – Vermutlich die Frömmigkeit! Mit der Frömmigkeit erreicht man viel . . . Dabei hat der alte Lindt sicherlich noch selbst Heringe gebändigt – ich weiß noch Schlimmeres ganz genau . . . Ja, wenn man so bedenkt! . . . Heutzutage ist offenbar kein Mensch mehr vor dem Adel sicher! Und ich wundere mich keinen Moment, wenn eines Tages der bewußte Märchenprinz auf der Bildfläche erschiene, um eure Freundin Modeste wegen ihres Geldes zu ehelichen!«

Die Kürassierdamen wehrten sich standesgemäß dagegen. »Freundin? – Durchaus nicht! . . . Mama findet solche Nobilitierungen im höchsten Grade plebejisch.«

Da fand es Frau Murrmann denn doch für nötig, die Elefantenkeuchel etwas zu dämpfen. »Aber, Kinder, einmal seid ihr doch auch bürgerlich gewesen!«

»Wieso?« sagten die Kürassierdamen, sich hoch aufrichtend. So weit reichte ihr litauisches Begriffsvermögen nämlich nicht.

Dagegen hatte die kleine Meyners auf der gleichen Fahrt etwas wehmütig zu ihrem Bräutigam gesagt: »Siehst du, Schatz, die haben, denen wird immer noch mehr gegeben! Modeste ist hübscher als wir alle und reicher als wir alle – nun heißt sie auch noch: Lindt von Barginnen – was nach viel mehr klingt als: von Meyners . . .« Als darauf der junge Windbeutel geistreich nichts erwiderte, fiel sie ihm gutherzig um den Hals: »Dafür hab' ich aber dich! Und glücklicher als ich kann doch eigentlich keine gut sein . . .«

*

Gegenüber der winterlichen Klosterstille gab es jetzt so viel bei Lindts an Ereignissen, daß alles Frühere verblaßte. Es galt zu erwägen, ob die neuen Visitenkarten mit oder ohne Krone, ob die Livreeknöpfe erlaubt fünfzinkig oder unerlaubt siebenzinkig herzustellen seien. Selbst die Wäschestickerei, die das kleine »v« unmöglich länger entbehren konnte, war ein Gegenstand eifrigster Debatte. Schließlich entbehrte sie aber doch des kleinen »v«, weil die Schwestern sich diesmal genau erinnerten, daß Falkner von Öd einmal erklärt hatte, die wirklich vornehmen Damen bedienten sich neuerdings des kleinen Bindewortes absolut nicht mehr, am wenigsten bei Briefunterschriften und Monogrammen – ja, eine Gräfin, die in intimer Korrespondenz als solche zeichne, sei sicher eben erst gegraft. Standesunterschiede auf Papier und Leinwand hielte er überhaupt für ridikül.

Alle diese Erwägungen waren im Grunde ridikül, aber sie wurden in Barginnen doch höchst ernsthaft genommen. Die Gräfin Axsil setzte sofort einen längeren Bericht an die Redaktion des Gothaischen Kalenders auf, zu dem der alte Eller höchst ernsthaft bemerkte: »Verzeihen Sie meine Unbildung, Frau Gräfin – aber wäre es nicht am End' praktischer, wenn gleich die Kron' oder das Wappen bei den adligen Herrschaften irgendwo eingebrannt würde, wie zum Beispiel bei den Trakehnern das Hirschgeweih . . . Da bestände doch gar kein Zweifel! – Nun hören Sie nur folgende Geschichte: Neulich sah ich in Königsberg so 'n Majoratstrottel – na, höchstens Kalkulator hätt' ich ihn geschätzt – wenn der nu vorn oder hinten seine Grafenkron', wie sich's gehört, eingebrannt gehabt hätte, was für 'n Glück für das Lumpengesindel wie mich wäre das gewesen! . . . 'nem dummen Menschen muß doch das klargemacht werden! . . . Ich hätt' gleich den Buckel krumm gemacht und gesagt: ›Herr Graf, geben Sie mir doch eins mit der Hetzpeitsch', damit ich weiß, wie unsereinem so um die Bauernkriege 'rum zumute war!‹ – So aber faßt' ich ihn am obersten Rockknopf – es war in der Junkerstraß' – und sagte: ›Mannchen, Sie haben mir so 'ne vertrauenerweckende Nas' – wo trinkt man jetzt eigentlich den besten Grog in Königsberg?‹ – Da wollt' sich der Kreth schief lachen . . . Nachher begegnet' ich 'm wieder mit dem Baron aus Eyselin. Da wußt' ich natürlich, was die Glock' geschlagen hatte.«

Die Gräfin Erika, die eigentlich nur noch Schlafrockfigur war, drehte sich entrüstet um; der alte Lindt räusperte sich sehr würdig: »Wenn des Königs Majestät geruht hat . . .«

Modeste aber brach in ein unbesiegliches Jugendlachen aus: »Ellerchen, Sie haben ja so recht! Kenne ihn von der Königshalle, den Majoratstrottel – höchstens Kalkulator – höchstens!«

Graf Axsil, der nur halb hingehört hatte, sah sich etwas verwundert um, stimmte aber dann in das Lachen seiner Schwägerin herzlich ein. »Wo hast du übrigens deinen Hund, Modeste?«

»Er ist beim Förster in der ›Benehme‹.«

»Magst du ihn denn nicht mehr?«

»O doch . . . Gewiß . . . Aber was mir viel mehr leid tut, mein Sommerrappe ist schulterlahm. Ich muß ihm neulich die falschen Hilfen gegeben haben, als es so im Renngalopp um die Ecke ging . . . Übrigens, da kommt unten der Kutscher mit der Posttasche!«

Leichtfüßig sprang sie die Treppen hinunter. Sie wachte die letzten Wochen argwöhnisch über dieser Posttasche. Aber irgendeine Nachricht von Herrn Romeit war nicht gekommen. Eigentlich kein Wunder, nachdem sie damals so sang- und klanglos geschieden! Modeste verwunderte es dennoch. Sie hatte geschrieben, wie sie gefühlt – und er kam nicht sofort mit glückselig lachenden Augen? . . . Erst tat es ihr weh – dann ärgerte sie sich – jetzt war es ihr allgemach gleichgültig geworden. Nur die Angst vor Frida ließ sie immer noch auf die Posttasche lauern.

Herr von Mieritz, dem der Urlaub verlängert, war jetzt fast täglicher Gast in Barginnen – immer gewandt, immer elegant. Er galt als Modestes ausgesprochener Courmacher. Und das schöne Mädchen, das ihn mochte und nicht mochte, wie das so in der Lindtschen Natur zu liegen schien, wo nur Vernunft oder Sinne sich engagierten – hatte das dunkle Gefühl, daß sie eines Tages als Freifrau von Mieritz aufwachen würde, entweder in Insterburg bei den Kosaken oder in Berlin bei der Garde, nachdem der Onkel mit dem Geldmajorat das Zeitliche glücklich gesegnet hatte. Wer entgeht schließlich seinem Schicksal? – Niemand. – Sie hätte ja ganz gern ein andres Ende gewollt – etwas mehr Wärme, etwas mehr Poesie, dazu etwas Kampf, wie es in Romanen steht. Aber um Gottes willen keine allzu schweren Proben! . . . Sie nahm, was das Schicksal eben beschlossen . . . Und jetzt, wo die letzte reine Liebesregung nutzlos verglommen, fühlte sie nur den Wunsch, endgültig die Vergangenheit zu vergessen. Der Ulan heiratete sie nicht aus Liebe, sie heiratete ihn nicht aus Liebe – aber sie mochten sich, würden sich mehr und mehr mögen als kluge, kühle Gesellschaftsmenschen, denen der Lebensweg immer glatt und gefahrlos, weil sie die plane Landstraße nie verlassen . . . Es geschah ja auch besser so. – Die einzelnen Etappen dieser Verlobung kannte sie so ziemlich genau. Es war eigentlich nur noch eine. Morgen war des alten Lindt Geburtstag. Sie würde Herrn von Mieritz' Tischdame sein – wie natürlich; sie würden etwas länger an der Tafel sitzen, etwas mehr Sekt nippen, etwas leiser sprechen. Und dann entweder im Park die letzte Rose und das entscheidende Wort – vielleicht auch im Stall bei dem Sommerrappen, den sie doch nicht mehr hatte reiten können. Sie beide liebten Pferde und Reiten. Warum also nicht einmal eine Verlobung im Stall? Das wäre wenigstens originell.

Aber während sie das alles sich so vorstellte, ohne Poesie, aber bequem und nett – mußte sie auch an das »Nachher« denken. Vor dem Kuß – vor dem Kuß zitterte sie innerlich doch! . . . Es war gewiß töricht und einer Lindt ganz unwürdig, aber bei der Lüge dieses ersten Kusses bäumte sich in ihr etwas auf.

Trotzdem hatte sie das sichere Gefühl, daß morgen oder nie sich Großes ereignen müsse. Das lag so in der Luft.

*

Zum Geburtstag des neuen Edelmanns war nicht offiziell eingeladen worden. Man hatte nur sanft gewinkt von Barginnen. Es sollte auch nicht das landesübliche Abendessen sein, zu dem man in Litauen auf dem Lande bereits um fünf Uhr nachmittags erscheint, sich durch unendliche Grogs und Schinkenbrote auf das Eßereignis des Abends vorzubereiten – sondern ein Déjeuner dînatoire, das mittags Punkt ein Uhr beginnt und alle Delikatessen der Saison umfaßt. Noblesse oblige. Der alte Knochenmehlhändler hatte dabei die Gefühle eines Schützenkönigs, dem die neue Würde zwar sehr behagt, der aber die Kosten des Schützengelages noch Jahrzehnte später bebrummt.

Von zwölf Uhr ab rollten ohne Unterlaß die Wagen vor das Schloß. Zuerst kam der alte Eller, der als Freund des Hauses sich nicht an die Zeit band. – Dann der Reihe nach: der krumme Riese, der dicke Bezirksoffizier mit dem leuchtend weißen Dragonerkragen, die Kletteraffen. Selbst der alte Baron Bussard humpelte, auf die Schulter des Neffen gestützt, mit seinem Gichtbein die Treppen hinauf. Die letzten waren die Kürassierdamen mit ihrer Mutter und dem sicheren Überlegenheitsgefühle des alten Adels gerade heute. Herr von Falkner wurde, wie gewöhnlich, vergebens erwartet.

Der alte Lindt glänzte vor eitel Freude, drückte hier wohlwollend die Hand, dienerte dort untertänig. Die Gräfin Axsil unterstützte ihn besonders bei dem Empfang, jedoch erst, nachdem sie sich versichert, daß Inspektoren auf keinen Fall zu erwarten seien. Sie hatte sehr die Airs der großen Dame, behandelte den alten Eller mit flüchtiger Herablassung, während sie dagegen Frau von Gadebusch gerührt auf beide Wangen küßte, wie das bei gekrönten Häuptern schon lange Brauch.

Der alte Eller rächte sich sofort, indem er Modeste vor dem Volke besonders nahm und sie mit gottlosen Glossen überschüttete. »Sehen Sie doch nur, gnädiges Fräulein, wie der junge Regierungsrat dasteht! Vollkommen wie bedammelt. Überlegt gerade seine Red'. Wird sich schon was Rechtes zusammenstottern . . . Und Ihr Papachen? – Ganz wie 'n Prälat . . . Und Ihr verehrtes Mamachen, so beweglich und freundlich nach allen Seiten! . . . Aber nu gar erst die Schwester Gräfin! Ach Gott, ach Gott . . . wie sie mir vorhin die Hand gab – anderthalb Finger waren's ungefähr – da wurd' mir mit einem Male so ganz merkwürdig im Kopf. Als wenn der Papst den Gläubigen seine Babuschen zum Kusse hinreckt: so war mir ungefähr . . . Ich will nicht schänden – aber sagen Sie selbst, gnädiges Fräulein: Ist's nicht 'ne Dammligkeit, wegen so 'nem lumpigen ›von‹ so ein Aufhebens zu machen? . . . Als wenn Sie Lindts vorher unehrliche Leut' gewesen wären und mit dem Adel überhaupt erst anständige Menschen geworden . . . Das ist ja geradezu beleidigend!« Er warf sich mit komischem Ernst in die Brust: »Wenn der König mich alten Pisang adeln möcht', ich schlackerte man so mit der Hand und sagte: ›Adlig bin ich schon längst – wenigstens in meinen Augen!‹ Und wer das noch nicht gemerkt hat, der kann mir eben leid tun.«

Modeste, die auf dem Adelsohr durchaus nicht taub war, drohte ihm lachend: »Neid, Ellerchen, Neid! Im Grunde gönnen Sie uns das ›von‹ auch nicht.«

Er schüttelte darauf bedächtig den grauen Kopf; »Nicht gönnen? – Der Spaß ist gut! . . . Ich gönn' Ihnen 'ne Fürstenkron', so daß Sie zeitlebens keinen Menschen als Gottes Geschöpf ansehen außer sich . . . Aber,« fuhr er, Modestes Hand fassend, vertraulich fort, »aber eben, weil ich Sie gernhabe, Modestchen, und weil ich ganz genau weiß, daß in Ihnen mehr steckt als 'ne Modepupp' und 'ne Weltdam', möcht' ich Sie auch bewahrt haben vor all dem leeren Schein, der der ganzen Sippschaft hier doch allein den Kopf verdreht . . . Sie sind nicht wie die andre Schwefelbande hier – und Sie sollen's auch nicht werden!« . . . Dann kicherte er wieder schelmisch in sich hinein. »Und nun nehmen Sie mich gefälligst beim Ohr, mein gnädiges Fräulein Lindt von Barginnen, und sagen Sie: ›Eller, jetzt hast mal wieder so kreuzdammlig geschabbert, wie 'n halbes Hundert Apen zusammen!‹ . . . Da kommt übrigens der Herr Leutnant, den sie von der Garde weggejagt haben! . . . Darf man gratulieren?«

Modeste zuckte die Achseln: »Es ist ein sehr netter Mensch! . . . Aber muß man sich denn gleich immer verloben?«

»Man muß nicht, gnädiges Fräulein – aber man tut's.«

*

Der Stern von Barginnen hatte sich sofort verwandelt, als Herr von Mieritz in seiner Galauniform auftauchte.

»So spät?«

»Allerdings, gnädiges Fräulein. Ich hätte eigentlich gar nicht kommen dürfen. – Mein Onkel ist gestorben.

»Der Erbonkel?« meinte Modeste unbefangen. »Da müßten Sie doch eigentlich erst recht froh sein!«

Herr von Mieritz lächelte etwas gezwungen: »Er hat mir zwar meine Versetzung nach hier indirekt besorgt – und eine Träne weine ich ihm auch nicht nach – aber er war doch schließlich mein Onkel. Ein vornehmer alter Herr, der mich auf seine Weise bekehren wollte . . . Vielleicht hab' ich mich auch bekehrt – freilich auf meine Weise . . .«

Die beiden jungen, hübschen, eleganten Menschen sahen sich dabei ins Gesicht. Es war in der großen Halle des Schlosses, die etwas Vornehm-Ritterliches aushauchte, namentlich heut. Die Sonne brach gerade mit gedämpftem Schimmer in den immer gruftkühlen Raum. Sie beide standen allein im Licht. Unwillkürlich hatte sich ein neugieriger Kreis gebildet; die Unterhaltung verstummte. Man erwartete täglich die Verlobung . . . Das Geldmajorat bei ihm, der Adel bei ihr: wenn je ein Lebensweg klar lag, so war das hier. – Aber man hält gern noch einmal Umschau, ehe man zu dem sicheren Gipfel emporsteigt . . . Es blieb ja auch nur noch ein Frage- und Antwortspiel übrig, dessen Ausgang nicht zweifelhaft. Das wußten die beiden sehr gut.

*

Das Tamtam ertönte. Das Dejeuner begann. Es war in dem festlich geschmückten Speisesaal, der einst der Kapitelsaal der Deutschherren gewesen war. Die angenehme Woge frohen Feierns umfing Modeste so weich, daß sie gern darin versank. Aber ein intimes Wort war nicht zu sprechen. Rechts lauschte freundschaftlich interessiert die kleine Meyners, die immerfort ihren Bräutigam anstieß; links horchten die Elefantenkeuchel, bereit, jede verdächtige Bewegung Frau Murrmann mit den Augen hinüberzutelegraphieren. ›Es bleibt tatsächlich nur der Pferdestall,‹ dachte Modeste mit ihrem sicheren Blick für unfreiwillige Komik. Auf einmal kam ihr die ganze Geschichte: das Verloben, wie das Heiraten überhaupt, so komisch vor! Sie wollte einen vornehmen Mann, er eine reiche Frau – sie hätten so genügend Gelegenheit gehabt, das erlösende Wort zu sprechen, und hatten sich immer feige daran vorbeigedrückt, als mißtrauten sie dem Glück. War's Instinkt, richtiger Instinkt – die innerliche Kluft, die die beiden Menschen trennte und die der beste Wille nicht überbrückt? – Und gerade jetzt, wo er ihrer nicht mehr bedurfte, weil er auch reich geworden war – und sie seiner nicht mehr bedurfte, weil sie auch vornehm geworden war: schien beiden dieses Gefühl stärker geworden, dieses innerliche Bangen, ihr Leben mit einem einzigen Wort in alle Ewigkeit zu ketten.

Als der Champagner in die Kelche perlte – diesmal ein schwerer, vornehmer Grand Imperial, wie es der Feier ziemte, gedachte Herr von Mieritz endlich den komischen Bann zu brechen. Aber da entstand auch schon eine feierliche Totenstille. Der alte Lindt hatte sich steifbeinig erhoben.

»Meine verehrten Gäste!

Es ist heute mein fünfundsechzigster Geburtstag. Ich sehe auf ein Leben zurück voll Arbeit, aber auch voll Segen. Und wenn des Königs Majestät in Gnaden geruht hat, meinen Lebensabend durch die Verleihung des erblichen Adels zu verschönen, so war das ein Akt wahrhaft königlicher Dankbarkeit für das bescheidene Scherflein von echter Untertanentreue und unerschütterlichem Gottvertrauen, das am Altar des Vaterlandes niederzulegen ich zeitlebens bemüht gewesen bin.

Und, meine Herrschaften, daß ich Sie alle an meinem Ehrentage so vollzählig hier versammelt sehe, gibt mir die frohe Gewißheit, daß meine Familie auch fest gewurzelt ist in diesem Lande Litauen, als ein junges Reis, gepfropft auf einen alten Stamm. – Barginnen ist ein Adelsschloß, und die alten Weißmäntel haben es ritterlich gehalten gegen manchen Polensturm – und ich gedenke es ebenso ritterlich zu halten gegen die vergifteten Pfeile einer neuen Zeit. – Ein Sohn ist mir versagt. Damit aber das Geschlecht der Lindts nicht binnen weniger Jahre fortgeweht werde von diesem Grund wie die Spreu von dem Wind, so beabsichtige ich ein Fideikommiß zu gründen, wonach dieses Gut nie geteilt werden darf, sondern immer der jüngsten Tochter der Familie zufällt mit der ausdrücklichen Bedingung, daß ihr Gatte von adliger Herkunft sein soll und den Namen Lindt von Barginnen neben seinem eignen zu führen hat. Wie das juristisch gehen wird, weiß ich noch nicht . . .

Und, meine Herrschaften, daß Sie mir bei dieser neuen Grundsteinlegung des alten Schlosses gewissermaßen als Eideshelfer beigestanden haben – dafür meinen tiefgefühlten Dank. Die Gäste von Barginnen, sie leben hoch!«

Der alte Knochenmehlhändler hatte sich mit Fleiß so tief in die Rührung hineingeredet, daß ihm die Stimme beim »Hoch« überschnappte, und Modeste, die ihn vor allen umarmte, gar nicht begriff, daß sie ihren herzensguten Vater je mißkannt. – Niemand war auf diese Wendung vorbereitet gewesen, die beiden älteren Schwestern zuletzt. Aber die tiefe Enttäuschung ihrer Herzen wurde sänftiglich hinweggespült durch die Begeisterungswoge, die jedem guten Toast nun einmal folgt.

Als sie verrauscht, sprach der junge Regierungsrat – stockend, langweilig, wie es der alte Eller vorhergesagt. Dann erhob sich der krumme Riese, der auf die litauischen Damen toasten wollte, dabei aber Modestes blaue Augen besonders aufs Korn nahm und schließlich auf die Bläue überhaupt zu reden kam, bis er über blaue Meerbusen und blaue Schweinestallfenster humorvoll hinwegirrend das blaue Tuch der Insterkosaken statt der Damen leben ließ, worauf der alte Eller ihn mit einem hörbaren Ruck an den Frackschößen auf den Stuhl zurückzwang.

Zuletzt sprach der alte Eller selbst, wie immer ein Gemisch von Bosheit und Güte.

»Meine Herren und Damen!

Wenn ein alter Bauer, wie ich, in einer so ausgewählten Gesellschaft überhaupt den Mund aufzumachen wagt, so tut er es aus dem einfachen Grunde, weil er ihn vor Erstaunen überhaupt noch nicht zubekommen hat. – Es freut mich zwar sehr, daß mein alter Gönner Lindt auf einmal ›von Lindt‹ geworden ist – denn so eine fünfzinkige Krone, gut auf dem Kopfe arrangiert, sieht natürlich reputierlicher aus als meine alte Pelzmütz' aus Marderfell, die neuerdings noch die Mäuse angenagt haben. Aber so recht klar bin ich mir doch noch nicht geworden, ob mit so 'ner Adelei eigentlich auch der ganze Mensch anders geworden ist. – Ich hoff': nei'! . . . Denn wenn unser alter, guter Freund Lindt, der, weiß Gott, ein neunmal gesiebter Schlauberger ist, damit ein richtiger Majoratstrottel geworden wäre – und wenn unser Fräulein Modeste, die immer die hübscheste und frischeste Marjell in ganz Litauen gewesen ist, sich jetzt nachträglich zu einer dummen und hochmütigen Pute wüchse: so hebe ich meine Hände auf und sage: Gott bewahre uns in Gnaden vor der fünfzinkigen Krone!

Und da bin ich denn glücklich bei dem eigentlichen Thema angelangt – nämlich unsrer Modeste.

Früher hatte ich immer so gedacht: das arme Mädel, die das Land so lieb hat und so gut aufs Land paßt, wird als Jüngste sicher einmal dazu verdammt sein, in irgendeiner Stadtwohnung zu verkümmern. – Und da war ich schon immer drauf und dran, zum Rechtsanwalt zu gehen und ihr mein Gütchen zu vermachen, damit sie wenigstens einen Unterschlupf hat, wenn die großmäuligen Berliner sie halb totgeschwatzt haben . . . Weil aber der Herr Lindt von Barginnen und eine weise Vorsehung anders beschlossen haben, so erhebe ich das Glas und rufe: Unsre Modeste von Lindt soll unsre Modeste Lindt bleiben – und als echtes Edelfräulein nie vergessen, daß unser Herrgott durch all den bunten Flitter hindurch ins Herz sieht. Und dieses Herz eben soll leben!«

Es war der gelungenste Toast des Tages. Die Sektkelche klangen hell, während der alte Vokativus lachend die Tafel entlang ging.

»Können ihr das Gut trotzdem vermachen!« rief der neugebackene Edelmann in angenehmer Weinlaune dem Vorübergehenden nach.

»Sie sind und bleiben doch ein Filou, Ellerchen!« drohte Modeste übermütig. »Jetzt, wo ich ein Schloß bekomme und ich Sie gar nicht beim Wort nehmen kann . . .«

Er tätschelte ihr darauf freundschaftlich die weiße Hand: »Gnädiges Fräulein, die Hauptsach' ist, daß Sie glücklich werden! In meiner Strohkabach' froh, ist besser als in dem feudalen Kasten hier traurig.«

Der Stern von Barginnen, der jetzt wirklich im Zenit strahlte, lächelte liebenswürdig nach allen Seiten, hörte aber kaum hin. Modeste hatte vielleicht zum ersten Male in ihrem Leben die angenehme Empfindung eines leichten Schwebens. Sie fühlte sich wie getragen von der trügerischen Glückswelle, auf der nur der Kork zeitlebens schwimmt.

Die Diener präsentierten Liköre und Zigarren. Die erste Riesenimporte glühte auf. – Eine satte Dinerstimmung begann den Raum zu füllen.

Herr von Mieritz stand auf, lautlos, gewandt: »Verzeihen Sie! Ich muß meinen Onkel nach Hause geleiten. Die Gicht zwickt ihn furchtbar. Er schneidet mir bereits seit einer halben Stunde die fürchterlichsten Grimassen . . . Und wenn ich vielleicht morgen früh noch einmal zu Pferde vorsprechen darf . . . Sie wissen, Fräulein Modeste, wie sehr ich mich nach einem ungestörten Augenblick mit Ihnen sehne . . .« Er küßte Modeste darauf wie verstohlen die Hand, worüber Frau Murrmann sofort mit einem Aufleuchten ihrer klätschigen braunen Augen quittierte.

Modeste aber lehnte sich im Stuhl zurück wie im Traum. »Das ist also das Glück – das! . . .« murmelte sie immer wieder.

In den Halbtraum klang plötzlich Fridas Stimme: »Hier ist ein Expreßbrief für dich! . . . Die Hand kommt mir bekannt vor . . . Außerdem gratuliere ich herzlich. – Übrigens dein Hund ist auch zurück vom Förster – er soll nicht viel taugen. Jedenfalls jault er wie verrückt im Stall.«

Modeste sah gleichgültig auf die Adresse, zuckte aber innerlich zusammen.

Es war ein Brief von Herrn Romeit.

»Bin um vier Uhr nachmittags an den ›Bäumen‹ und werde dort eine Stunde warten. Otto.«

Modeste las die wenigen Zeilen mit geteilten Gefühlen: halb Gene, halb Bedauern. Die Zeit der Gefühlsduseleien war vorüber. Sie zerriß den Brief langsam in kleine Stücke und reichte sie dem Diener zum Verbrennen. Die Freundinnen schauten ihr verwundert zu. Dann horchte sie auf das dumpfe Rollen des Wagens, der gerade die beiden Herren aus Bussardshof entführte. »Armer Kerl!« Sie zuckte die Achseln.

»Armer Kerl . . . Wen meinst du?« fragte die kleine Meyners.

Modeste lächelte kühl: »Ich habe offenbar laut gedacht. – Ich meinte den Jagdhund. Er wird wohl recht mager geworden sein, der arme Kerl.« Und sie begann lustig von ihren Wintertouren mit dem Hunde zu erzählen – so lustig, daß die kluge Frau Murrmann stutzig wurde und der schnurrbärtigen Mutter der Elefantenkeuchel flüsternd ganz ungeheuerliche Dinge berichtete, von der Oberflächlichkeit und Herzlosigkeit der Lindtschen Töchter überhaupt und Modestes insbesondere.

»Meine liebe Frau von Gadebusch, trotz allen Geldes – es ist eine merkwürdige Gesellschaft, und den, der das Lindt von Barginnen hinter seinen anständigen Namen bekommt, beneide ich keineswegs . . . Wenn ich dagegen Ihre Fräulein Töchter ansehe – so etwas innerlich Gefestigtes, Reifes trotz ihrer Jugend. Oder die liebliche Judith, die lebendig aus Honnef nicht zurückkommen wird . . . Und wenn die Leute wahr sprechen – zwanzigtausend Mark soll er für den Kirchenbaufonds gezeichnet haben, und dafür haben sie ihn geadelt – warum auch nicht! – aber daß das Geld höchstwahrscheinlich armen Leuten abgenommen ist, darüber wird mit wahrhaft christlicher Nächstenliebe hinweggegangen.«

Der alten Gadebusch sträubte sich ob solcher Schändlichkeiten der Schnurrbart. »Ein Gadebusch war mal Schloßkomtur von Barginnen – und jetzt diese Leute! . . . Überhaupt wenn man so bedenkt. – Verlassen Sie sich drauf, in zwanzig Jahren gilt so was als Uradel, der Sohn wird Kürassier und so weiter . . . Die Kürassiere sind ja jetzt schon verseucht – Lehmann und Schulz, die sich haben umtaufen lassen . . .«

Frau Murrmann lächelte etwas überlegen. »Gnädige Frau, vorläufig ist die Verlobung ja noch gar nicht proklamiert, und wir sind bereits bei den erwachsenen Söhnen unsrer lieben Modeste.«

»Na, Sie werden ja das alles noch erleben – ich, Gott sei Dank, nicht, meine liebe Frau Murrmann!«

Die Wagen fuhren langsam vor. Gadebuschs, die zuletzt gekommen waren, verabschiedeten sich zuerst. Nur einige Skattische blieben zurück, in dicken Tabaksqualm gehüllt. Der krumme Riese erzählte, an seiner Zigarre kauend, gerade furchtbare Geschichten, und der Gatte von Frau Murrmann wieherte dazu.

*

Die Lindtschen Damen hatten sich in dem Salon niedergelassen, abgespannt von der Feier. Modeste ging sinnend den Teppich auf und ab. Plötzlich klinkte sie die Flügeltür auf.

»Wohin des Wegs?« fragte die Mutter freundlich.

»Aufs Feld. Ich möchte dem Hund doch ein Vergnügen machen.«

Wenige Minuten später schlenderte sie langsam, unschlüssig dem Eichenwald zu, während der Hund wohlerzogen hinterher trottete. Zuweilen warf der Stern von Barginnen einen vorsichtigen Blick zurück. Es ging zwar zu einem Abschied auf Nimmerwiedersehen – aber zuweilen spielt das Schicksal gerade in der zwölften Stunde seltsam. – Doch ringsumher nichts als gelbe Stoppeln, dürstendes Grün und der starre Umriß des alten Schlosses, unter einem rotglühenden, lastenden Horizont. Der Sommer war im Scheiden.

Am Eichenwald trat ihr Herr Romeit entgegen, in demselben grauen Reitanzug, den er bei jenem ersten Spaziergang damals getragen.

»Gnädiges Fräulein haben gewünscht . . .«

»Ja, Herr Romeit,« antwortete sie zögernd – hielt inne – fuhr dann aber rasch fort: »Nein, das ›Sie‹ ist Unsinn! . . . Nenne mich meinetwegen morgen so, wenn ›jemand‹ bei meinem Vater gewesen ist. Aber heute – nein! . . . Warum hast du mir erst so spät geantwortet? Ich wäre beinahe nicht gekommen.«

»Dann hätte ich eben die Stunde auf Sie gewartet und wäre wieder fortgeritten . . .«

»Ich will das ›Sie‹ nicht!« sagte sie herrisch.

»Und was hätte das ›Du‹ für einen Sinn noch? – Ich weiß ganz genau, daß Sie mit dem Ulanenoffizier aus Insterburg so gut wie verlobt sind. Ich hätte mich keinen Augenblick gewundert, wenn Sie nicht gekommen wären – im Gegenteil . . .«

Sie zuckte die Achsel. »Ich bin nicht verlobt.«

»Aber so gut wie verlobt . . .«

Einen Augenblick stand Modeste finster sinnend.

»Laß den Unsinn zwischen uns, Otto! Ich will's! . . . Ich bin hierher gekommen, um dir ein letztes Adieu zu sagen – aus gutem Herzen, wie du mir schon glauben kannst . . . Im übrigen hast du recht: ich bin so gut wie verlobt. Aber daß ich gerade überglücklich wäre in dem Bewußtsein, das wäre infam gelogen! . . . Wär' ich's, dann wär' ich sicher nicht gekommen – Mit ihm spiele ich – es ist nun einmal meine Natur so; mit dir habe ich nie gespielt – nie.«

Darauf sprach er leise, verbissen: »Du spielst mit jedem Mann. Du kannst gar nicht anders . . .«

»Aus dir kommt diese Weisheit nicht!« gab sie fast verächtlich zurück. »Das hat dir der Schurke, der Falkner, eingeblasen.«

»Den ich für den Tod nicht ausstehen kann, obgleich er's gewiß gut mit mir meint. – Ich hätte beinahe meine neue Stelle wieder gekündigt, weil ich hörte, daß er mich empfohlen hat . . . Er hat mir auch weiter nichts gesagt, als: ›Hüten Sie sich!‹ – Und das lange vor Weihnachten, ehe du an mich überhaupt dachtest . . . Aber ich selbst habe mir später klargemacht, daß das alles ein Ende haben müsse, und je eher, je besser. Ich bin nicht immer blind! – Du kannst Männer wie mich leicht verrückt machen vor Liebe – aber hast du sie glücklich so weit, dann ist's dir genug. Du stießest sie am liebsten mit den Füßen weg. Ja, so bist du! – Und dem Baron da drüben bist du nur gram, weil er es zu machen wagte wie du . . . Wenn ich gemein empfände, würde mich das nachträglich freuen. Aber ich bin nicht gemein! Mir ist er heut noch verhaßt, weil er dir einmal wehe getan hat . . . Darf ich jetzt gehen?«

Sie ging langsam auf und ab, den Kopf zur Erde.

»Ja, geh! . . . Nein, bleib! . . . Glaubst du mir, daß ich dich geliebt habe?«

»Auf deine Art vielleicht . . .«

»Nein, nicht auf meine Art! Das wäre so unwahr wie etwas . . . Ich mag alle Welt belogen haben – dich habe ich nie belogen. Ich mag mit aller Welt gespielt haben – mit dir hab' ich nie gespielt. Das ist ja eben das Unbegreifliche, daß ich dir gegenüber ehrlich sein muß, selbst wenn ich's nicht will . . . Ich habe nicht an dich schreiben wollen – aber ich mußte einfach an dich schreiben; ich habe heute nicht kommen wollen – aber ich mußte einfach kommen . . . Ich rede mir künstlich ein: du tätest mir leid, du wärst nur eine unbedeutende Episode in meinem Leben, eine unbegreifliche Verirrung meinetwegen auch. Alles, was oberflächlich und egoistisch in mir, eilt mir zu Hilfe, steht mir bei. Trotzdem kann ich von dir nicht los! Ich kann es so wenig, daß mir jetzt wieder der Gedanke an den Mieritz unerträglich ist . . . Und glaube dabei nicht etwa, das wäre eine ›gemachte‹ Sache! Er mag mich, ich mag ihn auch. Ich weiß genau, daß ich das Glück, was ich eigentlich wünsche, an seiner Seite sicher finden werde. Dennoch bin ich stets froher gewesen, wenn er ging, als wenn er kam . . . Und daran bist du schuld – du ganz allein! . . . Ich weiß nicht, welche Macht du über mich hast – aber du hast sie tatsächlich!«

Er tastete darauf beinahe schüchtern nach ihrer Hand. »Ich glaub's dir ja auch, Modeste . . . ich bin dir so dankbar dafür . . . Aber einmal muß doch geschieden sein . . .«

Jedoch sie warf sich an seinen Hals und schluchzte. »Nein, du darfst nicht so gehen – du darfst nicht! . . . Im Grunde liebe ich dich ja viel mehr, als du ahnst, als ich ahne . . . Es schwebt ein Verhängnis über uns . . .«

»Modeste, liebe Modeste . . .« Er streichelte ihr das Haar, die Wangen.

Sie aber schluchzte nur noch leidenschaftlicher. »Nein, sprich nicht in dem Ton zu mir! Als wenn schon alles vorbei wäre, als wenn du mir nur den Abschied leicht machen wolltest . . . Ich liebe diesen Mieritz nicht, ich kann ihn nicht lieben! . . . Warum bist du nun nicht Offizier und heißt von Romeit? Es gibt von Romeits – ich hab's in der Rangliste gelesen . . . Wir könnten heiraten, später in Barginnen wohnen . . .« Sie unterbrach sich jäh: »Nein, in Barginnen nicht! Barginnen bedeutet nichts Gutes . . . Und warum muß denn alles so ganz anders sein, als man's möchte?!«

»Ja, warum?!« wiederholte er bitter.

Und Modeste hing an seinem Halse und küßte ihn und weinte dazu – und er küßte sie wieder.

»Wisch mir die Tränen ab!« sagte sie mit wehem Spott. »Morgen tut's vielleicht ein andrer . . .« Sie reichte ihm lächelnd das kleine Batisttaschentuch.

Der braune Unhold, der sehr gesittet der Szene zugeschaut hatte, hob die Nase und knurrte leise. Auch Herrn Romeits Pferd wandte die Nüstern. Der Mann horchte: »Es ist jemand in der Nähe« – wollte sich losmachen.

Aber Modeste ließ ihn nicht. »Und wenn's jemand wäre – was tut's!? . . . Ich habe keine Spur von Angst. Ich will keine haben! . . . Siehst du, wenn ich dich immer so lieb hätte wie in diesem Augenblick – ich fragte niemand – niemand . . .«

Der Hund beruhigte sich. Das Pferd zupfte weiter an den Eichenzweigen.

»Es war wohl auch nichts,« sagte er. »Aber ich denke an damals. Du ändertest im Handumdrehen deine Stimmung . . . Ich kam auf Gedanken . . .«

»Aber heute ändere ich sie nicht, Otto!« schwor sie. »Die eine kümmerliche Stunde, die wir vielleicht noch haben im ganzen Leben, die wollen wir doch nutzen! . . . Die Stunde ist so kurz – das Leben hinterher wahrscheinlich so schrecklich lang . . . Und nun erzähl mir von deinem Unfall neulich! Warst du von Sinnen oder das Pferd?«

»Ich, Modeste, ich ganz allein!« beichtete er. »Wie ich dich so an dem Wartesaalfenster sah, lächelnd, lachend – ja, du hast gelacht! – Und der Baron neben mir – dieser Kerl! . . . Und das Getrampel von den Fohlen und das Bremsengeschmeiß über den kitzligen Hengst her . . . Ich war schließlich meiner Nerven nicht mehr Herr und verwünschte euch alle miteinander – dich zuerst, Modeste! . . . Du weißt ja nicht, was ich für Zeiten durchgemacht habe . . .«

»Aber nachher, als du meinen Brief bekamst? Hast du dich denn da nicht gefreut? – Ein bißchen? – Sag!«

»Ich habe ihn zerrissen, Modeste. Und dann habe ich ihn mir wieder zusammengesetzt, kümmerlich, und schließlich die Fetzen doch weggeworfen und geschworen, daß ich nie kommen würde . . . Sei mir nicht böse! Aber ich kenne dich doch nicht . . . Du versprichst wohl – aber ob du auch hältst?«

Modeste sah ihm gerade ins Gesicht. »Ich habe dich lieb! . . . Und wenn ich anders wäre, als ich bin – wäre ich keine Lindt! Ich wüßte genau . . .«

»Aber du bist und bleibst eine Lindt,« sagte er ernst. »Leider . . .«

»Nein, ich bin keine Lindt – ich bin keine!« Und wieder umschlang sie ihn und drückte ihn an ihr heißpochendes Herz. »Otto, Otto – ich habe dich ja so lieb!«

In dem Augenblicke fuhr der braune Unhold wahnsinnig bellend aus dem Gebüsch. Keine drei Schritt von dem Paare ging eine Gestalt vorüber, langsam und mit abgewandtem Gesicht.

Es war Frida Lindt.

Da stieß Modeste den Geliebten von sich und schaute mit verglasten Augen der Schwester nach. »Sie hat alles gesehen . . . Reit sofort weg! . . . Ich schreibe dir . . . Ich will allein sein.«



 << zurück weiter >>