Johannes Richard zur Megede
Modeste
Johannes Richard zur Megede

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

14

Die Gräflichkeiten waren nach Rußland zurückgekehrt, Frida wohnte in Königsberg. Der alte Lindt rechnete meist in seinem Arbeitszimmer. Wenn die Industriepapiere gestiegen, lispelte er salbungsvoll: »Es ist doch ein großer Segen um die ehrliche Arbeit, mein Kind!« Und wenn die Industriepapiere fielen, knurrte er giftig: »Lach nicht, Modeste, es ist eine Tränenwelt, weiter nichts als eine Tränenwelt!« – Modeste war's weder zum Weinen noch zum Lachen – nur langweilig. Keine Gesellschaften, keine Besuche. Die Gadebuschens, neuerdings »Elefantenkeuchel« genannt, beim Onkel General in Danzig zum Besuch – sie waren schon billiger geworden und interessierten sich für Artillerie. Die kleine Meyners mit einer Freundin sogar in Montreux – sie schrieb überschwengliche Briefe voll französischer Brocken. Bussards nahmen überhaupt niemand mehr an. Frau Murrmann sah sich darum auch genötigt, ihren Schatz falscher Fremdwörter anderswo hinzutragen, und verkehrte mehr in der Insterburger Gegend . . . Im Dorfe zu allem noch Scharlach. Es war höchst komisch gewesen, wie die drei Kletteraffen auf die Nachricht davon vom Barginner Whisttisch geflohen waren, um nur den alten Eller zurückzulassen, der aber auch heimlich nach der Uhr schielte. Er hatte für gewöhnlich keine übertriebenen Anschauungen von den Freuden des Paradieses. Selbst Erika verbat sich vorläufig alle elterlichen Briefe aus Angst für den kleinen Dagobert. Und Frida badete ihre Hände in Karbolwasser, ehe sie die Barginner Korrespondenz öffnete – sie war sehr besorgt für ihre Stimme.

Modeste kam das alles lächerlich vor. Sie hatte keine Spur von Angst. Sie war überhaupt viel zu lebensfrisch und gesund, um sich den eignen Tod vorstellen zu können . . . Erst hatte sie der Gedanke an einen ganz einsamen Winter doch erschreckt, dann gewöhnte sie sich daran, zuletzt wurde ihr die Einsamkeit fast lieb. Es war schön, so durch die Winterlandschaft zu streifen, den braunen Unhold hinter sich, der auf der harten, knisternden Frostdecke seltsame Purzelbäume schoß und in den aufgewehten Schneewellen immer hilflos versank. Zuweilen wurde er müde, setzte sich, blinzelte die Herrin gähnend an. Sie nahm ihn dann auf den Arm, während er als echter Mann sich empört gegen diese weibliche Bevormundung wehrte, bis er sanft selig einschlief. Er war so groß geworden und so schwer, sie schleppte ihn nur mühsam. Aber die Egoistin freute sich der Last, dachte gar nicht an sich, nur an ihn. – Weite Touren hielt er noch nicht aus. Dann ging sie allein, rasch, elastisch, mit roten Wangen, voll Jugendlust durch die große, stumme Natur, die sich endlos überall weitete, die Schneewogen auf und ab wallend wie das Meer. Kein freudig Bild, nur ehrfurchtheischende Öde. Die Menschen auf der Chaussee wie schwarze Ameisen, der Klang der Schlittenglocken verhallend in der uferlosen Stille . . . Dann empfand sie wohl zuweilen die gewaltige Einsamkeit lastend, sehnte sich nach Leben, Wärme. Sie eilte, in den Eichenwald zu kommen, wo der scharfe Schlag der Axt dröhnte. Die Knechte fluchten, die Gespanne dampften. Der alte Knochenmehlhändler hatte nämlich um Weihnachten die stärksten Eichen hauen lassen. Damals hatte Modeste nur der Preis interessiert, um den man die Riesen totschlug nach endlosen Verhandlungen mit einem Königsberger Unternehmer. Jetzt tat ihr die wüste Blöße weh. Die Stämme, die so viel erzählen konnten von alten Zeiten, verstümmelt, gemordet, reihenweise hingestreckt – großen weißen Särgen gleich, die letzten Kämpen eines Riesengeschlechtes hier aufgebahrt. Rings grinsten die bleichen Stümpfe, Raben zogen über das Blachfeld . . . dazwischen die Instleute in ihren Schafspelzen, das Vlies nach innen, und die langen Holzwagen mit ihren klobigen Rädern. Die Hebelade krachte, die Männer keuchten, langsam hob sich der Riesensarg. Herr Romeit stand dabei mit Zollstock und Notizbuch. Neben ihm der jüdische Kaufmann, von Kopf bis zu Fuß eingehüllt in einen langen grauen Schuppenpelz, fuchtelte mit der Hand, schüttelte mit dem Kopf. Hinter seinem Rücken lachten breit die Knechte über den kleinen, beweglichen Mann. Die mageren Gespanne standen abseits, stumpfsinnig, kopfhängend – zuweilen senkte sich eine Nüster futtersuchend auf den Schnee . . . Das erstemal war Modeste in einem großen Bogen vorbeigegangen, von einer Gene erfaßt, die sie sonst nicht kannte. – Das nächstemal blieb sie in Hörweite stehen. Der Händler zeterte. Herr Romeit antwortete achselzuckend: »Wenn's Ihnen nicht schnell genug geht, verhandeln Sie doch mit dem Herrn! Sehen Sie sich die Kracken an und ob ich mehr laden kann . . . Wenn er befiehlt – gut. Freiwillig schinde ich aber die Gespanne nicht!« Dann trat Modeste wie zufällig heran. Die Herren grüßten, der Händler begann ein Gespräch. Herr Romeit stand finster dabei und sagte kein Wort. Das Fräulein ärgerte sich darüber, antwortete kurz und begriff nicht, was sie zu einer so unerhörten Vertraulichkeit jemals hatte veranlassen können. »Wenn der Mensch nur ginge! Wenn er doch heute schon ginge! Ich will ihn nicht mehr sehen . . .« Der Eichwald war ihr verleidet.

Sie ging jetzt lieber Chaussee nach Eyselin zu – am liebsten bei dickem, nebligem Licht, so daß sie das weiße Herrenhaus nicht sehen konnte. Herr von Falkner war nicht zu Haus, aber alles, was mit ihm zusammenhing, erfüllte sie mit unerträglichem Widerwillen. Wenn Eyseliner Leute vorüberfuhren, wandte sie den Kopf weg, um nicht wieder grüßen zu müssen . . . Dann fühlte sie sich auf einmal eingehegt, eine Gefangene inmitten dieser großen, freien Natur.

Nur die Gegend nach dem Ellerschen Hofe blieb ihr. Bauerngegend, kleine Gehöfte, am verschwimmenden Horizont ein stadtähnliches Dorf. Sie mochte diese litauischen Bauern nicht mit ihren steifen Nacken, mit ihrer kargen Höflichkeit, die roten Gesichter brutal, dummpfiffig . . .. Einmal – es war ein Nachmittag, träge, grau, von feuchter Schneeluft durchrieselt – krachten da drüben Schüsse. Treiber klapperten und schrien. Sie sah die Schützen ganz fern, schwarze, komische Punkte auf dem Schnee. Da kam plötzlich ein Hase über den gefrorenen Acker gehumpelt, gerade auf sie zu, schwer angeschossen, sie glaubte die blutige Spur auf der weißen Decke zu erkennen. Nach drei Sprüngen setzte er sich, humpelte dann weiter, setzte sich wieder. Drüben klapperten die Knarren lauter, die schwarzen Punkte wuchsen. Modeste ging auf den Hasen zu in dem unbestimmten Gefühl, ihn zu schützen, ihn zu retten. Das Tier war im Verenden, konnte nicht weiter, ließ sich anfassen, die Augen verglast, das Todeszittern in den Gliedern. Dies Todeszittern ging ihr durch und durch. Sie nahm den Sterbenden auf wie sonst den braunen Unhold, wollte ihn mit nach Hause nehmen. Die barmherzige Schwester war in ihr lebendig geworden, die hingebende Mutter. Sie wußte selbst nicht, warum sie auf einmal lief mit dem Tier, das sie in ihren Armen deutlich erstarren fühlte – aber sie mußte laufen, mußte. Endlich blieb sie keuchend stehen. Das Tier war tot. Sie ließ es auf den Schnee gleiten, sah es wehmütig an – und fühlte zum erstenmal vielleicht deutlich, daß sie doch keine Lindt war.

Beim Abendbrot erzählte sie das kleine Erlebnis, aber kühl, spöttisch, wie vor sich selbst geniert. Der alte Lindt, der von Jagd ungefähr so viel verstand wie ein Gorilla von analytischer Geometrie, aber aristokratische Vergnügungen bedingungslos hochschätzte, setzte sich langsam in Positur:

»Liebes Kind, die Hasen sind zum Abgeschossenwerden da. Und wenn ein krankgeschossener Lampe verloren geht, so ist das natürlich sehr ärgerlich für den Jagdgeber. Denn erstens mal ist die Strecke kleiner, und zweitens frißt den Krankgeschossenen unfehlbar der Fuchs, der ihn aber nicht fressen soll . . . Leute, die nicht weit her sind, empfinden dabei sogenanntes Mitleid. Aber gewöhnliche Leute flennen ja, wie du selbst weißt, bei jeder möglichen und unmöglichen Gelegenheit.«

Die handarbeitende Mutter nickte freundlich.

Aber Modeste, die den braunen Unhold wegen gewisser freier Gewohnheiten auf Salonteppichen im Turmzimmer hüten mußte, dachte an ihren Hund und wenn er auch einmal so krankgeschossen und todesmatt über den Schnee humpeln müßte. »Aber bei welcher Gelegenheit soll nur unsereiner Mitleid empfinden, Papa?« fragte sie achselzuckend.

»Liebes Kind, das kommt ganz auf die Umstände an. Vor allem nicht unnötig! Denn im allgemeinen liegt jeder so, wie er sich bettet. Ich habe in meinem Leben keinem Bettler einen Pfennig gegeben, obgleich mir manchmal das Herz blutete, weil ich mir eben verständig sagte, daß das einfach Unfug ist. Der Groschen wandelt in die Schnapskneipe, und der Vagabund verendet doch hinterm Zaun.«

Modeste stand hastig auf. »Wir denken vielleicht so. Aber wenn alle Welt so denken wollte . . .. Das Leben ist sowieso schon so entsetzlich leer!«

Er fuhr belehrend fort: »Ja, wenn nur alle Menschen so denken wollten! Es gäbe dann weniger Lumpen, aber mehr wohlhabende Leute. Im übrigen, liebes Kind, ist das Leben so reich, so ausgefüllt!« Er hatte allerdings ehrlich gewuchert mit seinen Pfunden, der alte Knochenmehlhändler.

Jedoch Modeste war heute nicht für diese bequeme Moral zu haben. Sie schwieg. Es war ja doch nutzlos . . .. Und wie der Schiffer in der Nebelnacht fiebernd nach dem Leuchtturm sucht, damit sein Fahrzeug nicht zerschelle, so hing sich Modeste eigensinnig an das komische Gleichnis des alten Eller von dem braunen Unhold und der alten Lehnstuhlquaste: »Herr Gott, zeig mir die Quaste, zeig sie mir! Ich will auch mit allen Kräften daran ziehen, bis ich sie loshabe . . .. Aber gib mir die Quaste, ich muß ja sonst verkommen!«

Es war keine Szene gewesen etwa. Kurzes Aufflammen bei ihr, ruhige Belehrung bei ihm. Und doch hatte das Schicksal bereits die Axt gehoben, das morsche Tau zu kappen, das den Stern von Barginnen mit dem Schloß Barginnen noch verband.

*

Das Wetter hatte sich gewandelt. In den Chausseegräben schmutziger Schnee, auf den Feldwegen knietiefer Schlamm. Ein kalter Regen sickerte. Die Holzfuhren vom Eichwald versanken bis an die Achsen. Herr Romeit stampfte mit kotbedeckten Wasserstiefeln auf dem Hof umher. Alles trübe, grau, hoffnungslos. – Aber als Modeste das Fenster im Turmzimmer öffnete, strömte ihr der Hauch der Scholle entgegen, der schwere, dumpfe, verheißungsvolle Hauch, der den Frühling birgt. Und Modeste sog den Hauch ein wie etwas Köstliches. Er war wieder so herbe, so stark! Unter diesem Hauche weitete sich ihr die Brust. Frühling – Glück . . . Sie sah den Lenz schon hinter den Wolken lächeln. Eine unsinnige Sehnsucht durchzitterte sie – ein Hoffen, Wogen . . . Die Spatzen piepsten in den Dächern, der Park duftete. – Das Große, Unbekannte, das aus der Erde quillt, in den Lüften raunt – die heiligen Mutterwehen der Erde.

Modeste mußte hinaus! Die Weltfreude regte sich. Sie eilte frohgemut die Chaussee entlang und begriff den häßlichen Schmutz an ihren Füßen nicht, den grobkörnigen Schnee an den Böschungen. Aber den Frühlingswind verstand sie, der die dürren Äste zauste, die Fenster des Turmzimmers wild rüttelte. Wie war es köstlich, dies Wallen und Wogen in der Luft, das bis zum Sturm stieg, zum Orkan! . . . Die alte Scheune stöhnte kläglich, aber aus den Ställen drang lenzwitternd das helle Wiehern der Fohlen, das dumpfe Aufbrüllen der Rinder. Wenn sie in den Kutschstall trat, bäumte der Sommerrappe in seiner Box auf, schlug mit dröhnenden Hufen gegen die zitternden Holzwände. Der Schäfer stand pfeifend auf dem Hof und schnitzte Klotzkorken, und hinter ihm drängten die Lämmer ihre dummen Köpfe schnuppernd durch die Latten der Hürdentür. – Modeste war drüben bei Herrn Eller gewesen und wunderte sich, daß der alte Herr in einem dicken Schlafrock und in einer überheizten Stube saß. Er krächzte mißmutig über einem scharfen Grog. Modeste wollte sofort wieder hinauslaufen: »Sie haben ja noch vollkommen Winter hier, und draußen ist es doch schon Frühling!«

»Ja, Frühling, Frühling!« echote er verdrießlich. »Bei Ihnen vielleicht – bei mir nicht! Vor vier Wochen kann noch keine Ochsenzoch aufs Feld.«

Sie ging bis Eyselin, freute sich über den Wind und das trügerische Sonnenblinzeln. Der böse Zauber schien von ihrer Seele gewichen. Ein Kuß im Winter – was ist er?! . . . Aber ein Kuß im Frühling, ein Frühlingskuß! . . .

Sie war auf der Eichenblöße, wo die Gespanne sich vergebens mühten, die letzten der hohen Stämme hinauszuziehen. Die Peitsche knallte, der Knechtsfluch dröhnte. Herr Romeit stand dabei und rief schließlich ärgerlich: »Wenn's eben nicht geht, dann geht's eben nicht, Leute!« Und seltsamerweise taten Modeste heute die keuchenden Tiere nicht leid, sie dachte nicht mehr an den toten Hasen – sie freute sich, wie der braune Unhold – jetzt groß und ungeschlacht geworden – hinter einer lahmen Krähe herjagte und sie beinahe erwischte. Die junge Lebensfreude, die sie in sich und um sich spürte, strömte wie eine Woge über das kleine Mitleid hinweg. – Herr Romeit war zu Pferde auf die Blöße gekommen. Sie erkannte nur mühsam unter dem Sattelzeug und dem Winterhaar den Sommerrappen wieder, ihren Rappen. Sein Reiter hielt ihn am Zügel und strafte ihn von Zeit zu Zeit mit einem leichten Reitgertenschmiß, wenn er Frühlingskapriolen machte. – Modeste sprach leicht und vertraut mit dem hübschen Menschen, der aber nur scheu und widerwillig zu antworten schien.

»Wie macht sich denn die Vierjährige, Herr Romeit?«

»Sie werden sie im Mai schon selbst reiten können, gnädiges Fräulein.«

Modeste ging zu dem Tier, klopfte es. »Sie mühen sich meinetwegen ab, Herr Romeit.«

»Ich reite sehr gern junge, rohe Pferde.«

»So reiten Sie mir etwas vor!«

Er zögerte.

»Aber Sie sollen reiten, Herr Romeit!«

Da stieg er langsam auf. Der Rappe knirschte ins Gebiß und wollte davonrasen, aber der Reiter ließ es nicht und ritt ihn mit festem Schenkel um einen Eichenstumpf in weitem Bogen herum.

»Sie sind doch sehr nett, Herr Romeit!« Sie streckte ihm die Hand aufs Pferd. »Nun steigen Sie ab und erzählen Sie mir etwas!«

»Ich erzählen, gnädiges Fräulein? . . . Höchstens, daß ich die Stämme über Winter doch nicht alle rausgekriegt habe. Und sonst . . .«

Ein Windstoß fuhr über die Blöße. Der schmale Streifen Stangenholz, der sie rückwärts säumte, begann sich zu neigen, zu wiegen. Die schlanken Kiefern schwankten wie Halme, knarrten leise. Zuweilen erhob sich ein klagender Ton, ein wehmütiges Singen.

»Was ist das?« fragte Modeste.

»Es sind die beiden Bäume, gnädiges Fräulein, die so nah zusammenstehen. Seit Herbst haben sie sich förmlich umschlungen. Bei leichtem Winde singen sie – und wenn's stürmt, seufzen sie . . . Es klingt manchmal ganz sonderbar!«

»Das ist sehr interessant!« rief Modeste.

»Ja, ich hab's auch gern und möchte nicht, daß sie wieder auseinandergingen im Frühling. Sie haben mir die ganze Zeit über Freude gemacht. Sie wanken und schwanken und singen genau, als wenn sie lebendig wären . . .«

»Das ist merkwürdig . . .«

»Ja, das ist merkwürdig.«

»Die toten Bäume . . .«

»Ja, die toten Bäume.«

Sie gingen näher. Es waren zwei hohe schlanke Kiefern, deren Stämme wie zusammengewachsen standen. Modeste legte das Ohr an den einen Stamm und sah dann auf.

»Ob die sich liebhaben am Ende?«

»Ja, ich habe auch schon so gedacht, gnädiges Fräulein. Vielleicht haben sie sich lieb . . .«

Da lachte sie wieder. »Sie sind doch auch ein Phantast, Herr Romeit!«

Aber Herr Romeit antwortete nicht.

Sie gingen zurück. Das Pferd, das Herr Romeit führte, begann zu tänzeln und zu schnauben. »Es wird sich noch losreißen! . . . Steigen Sie nur getrost wieder auf!«

»Gnädiges Fräulein, ich muß. Auf dem Vorwerk wartet ein Händler.«

Als das Pferd im wiehernden Galopp ansprang, rief sie ihm nach. »Wir müssen das Reiten wieder anfangen!«

»Es ist doch noch so schmutzig, gnädiges Fräulein.«

»Aber ich will, Herr Romeit, ich will!«

»Wenn gnädiges Fräulein befehlen.«

*

Seitdem begann das Reiten wieder, aber im Gelände. Modeste auf dem Inspektorbraunen, den sie erst immer in Galopp peitschen mußte – Herr Romeit auf dem Sommerrappen, der sich nur mühsam zügeln ließ. Aber es war doch für Modeste eine Lust, auf den Feldwegen dahinzujagen, während der Lehm hoch aufspritzte! . . . Der Frühlingswind kraute die ersten Weidenkätzchen, aus den Abzugsgräben schimmerte es hellgrün, über die Saaten flog ein lichter Hauch. Nur das braune Eichenlaub raschelte noch trübsinnig wie im Winter.

»Gnädiges Fräulein reiten schon sehr gut!«

»Ich habe keine Angst, das ist das ganze Geheimnis – ich habe nie Angst!«

»Gnädiges Fräulein werden den Sommerrappen bald reiten können . . .«

»Ich möcht' schon! Der Braune ist alt und geht schwer.«

»Es war aber einmal ein sehr gutes Pferd.«

»Ja, war einmal, Herr Romeit! . . . War einmal . . . Ich halte nichts von der Vergangenheit. Das tut man im Winter – aber im Frühling, da will man nur Zukunft.«

»Das glaube ich gern, gnädiges Fräulein.«

»Ich habe übrigens alles vergessen, alles . . . Sie haben hoffentlich auch alles vergessen, alles . . . Verstehen Sie?«

Er schwieg. Eine leichte Röte stieg ihm ins braune Gesicht.

Sie ritten weiter. Ein trüber Graben kam. Der Braune refüsierte, und die zacklige Remonte scheute zur Seite vor dem trüben Wasserglanz. Sie hielten. Ein mildes Sonnenlächeln koste gerade die helle Wintersaat. Die Ebene uferlos – aber von einer freien, fröhlichen Weite. Ein Vogelzug rauschte hoch in den Lüften. Auch Modeste wurde das Herz ganz frei . . . Der Sommerrappe drängte schnuppernd zu dem Kameraden.

Nach einer Weile sagte sie: »Sie denken wahrscheinlich, ich sei wankelmütig wie alle hübschen Mädchen und kühl wie alle Lindts? . . . Ich mag's früher einmal gewesen sein, aber ich bin's nicht mehr! . . . Sehen Sie, ich liebe diese litauische Ebene zärtlich. Im Augenblicke könnte ich weinen – ich weiß nicht warum, aber ich könnte wahrhaftig weinen! . . . Es ist dumm, nicht wahr? – Aber bis jetzt waren mir immer die schönsten Stunden, wenn ich töricht, so recht von Herzen töricht war . . . Und dann möchte ich auch wieder hinaus, ganz weit weg, in ganz andre Verhältnisse, zu ganz andern Menschen! Weggehen oder hierbleiben – was ist das Rechte nun?«

»Da kann ich gnädigem Fräulein wirklich nicht raten. – Aber für mich wäre es besser gewesen, ich wäre schon im Herbst gegangen,« schloß er hart.

»Ja, das Weggehen würde auch für mich das Richtige sein,« sagte sie träumerisch. »Es ist wohl überhaupt das Beste für jeden Menschen. Raus aus Barginnen, raus aus Ostpreußen! . . . Und dann denke ich wieder an den Frühling und wenn alles ringsum grünt und blüht – und sage mir: ›Du willst ja gar nicht weg – du wirst auch nie wegkommen, nie, nie!‹ – Es ist so eine dunkle Ahnung . . . Und doch sage ich Ihnen, es wäre ein großes, großes Unglück für mich, wenn ich nie wegkäme . . . Sie kennen mein Inneres gar nicht – ich kenn's auch nur halb – aber glauben Sie mir, ich bin über Winter eine ganz andre geworden. Mir selbst kommt's ganz wunderlich vor. – Ich sag's offen: ich hab' innerlich einen Ruck bekommen, einen ganz großen Ruck! . . . Ob's vorhält, das weiß ich noch nicht. Bei mir hat noch nie etwas andres vorgehalten als die Eitelkeit . . . Aber wenn's vorhält, dann bin ich eines Tages plötzlich weg, gegangen vielleicht in Nacht und Nebel. Und wenn ich einmal gegangen bin – in dem Punkte bin ich eine echte Lindt – dann bin ich auch endgültig gegangen – komme nie wieder zurück. – Ist's eben aus, dann ist's eben aus. Bedauern, Reue – nie! Denn im Grunde ist mein Charakter doch wohl hart. Ich wüßte auch nicht, wie er anders sein sollte.« Sie wandte das Pferd nach der Richtung, wo Barginnen lag, und blickte lange auf das alte graue Ordensschloß, das die freie Ebene einst geknechtet hatte und auch jetzt noch mit seiner steinernen Feudalität zu beherrschen schien. – Dann ritten sie im Schritt nach der Chaussee ab. Ein geschlossenes Coupé kam ihnen in scharfem Trab entgegen. Der Kutscher grüßte nicht. Es bog auf die Grandschüttung nach Eyselin ab. Falkner von Öd war also wieder daheim.

Als Modeste am Kutschstall abstieg, meinte sie finster: »Ich reise doch im nächsten Monat – und zwar nach Rußland.« Als Herr Romeit sie von der Seite ansah, fügte sie rasch hinzu: »Gehen Sie auch! . . . Es war eine Kinderei, daß ich Sie damals zum Bleiben zwang.«

*

Die nächsten Tage ging der Schloßherr brummend einher.

»Es ist und bleibt doch ein undankbares Gesindel. Wie die Knechte . . . Keine Anhänglichkeit, keine Dankbarkeit! Da futtert man so was den Winter durch, macht kostbare Weihnachtsgeschenke aus reiner, dummer Gutmütigkeit . . . Das Gut verwahrlost, die Pferde abgetrieben. Nicht mal die paar lumpigen Stämme aus dem Walde hat er weggefahren. Bestohlen bin ich selbstverständlich . . . Und dabei ein Größenwahn, eine Empfindlichkeit! Da kommt so was zu mir und kündigt, weil der Frühling seine Nase ins Land steckt und weil die Faulenzerei aufhören muß und weil ihn der Winterhafer sticht . . . Pfui, und abermals pfui! . . . Ich behalte ihm selbstverständlich vom Gehalt ein. – Das kommt aber alles von den verdammten Liberalen mit ihren neuen Schulen und ihren Freizügigkeitsgesetzen.«

Die häkelnde Schloßherrin antwortete darauf freundlich: »Inspektoren sind Schwefelbande . . . Im übrigen ist's mir ganz recht. So gemeine Umgebung macht selbst gemein. – Und Modeste, du wirst verständig sein! Das Zusammenreiten hört auf . . . Du kannst es ja schon sehr hübsch, wie ich vom Fenster aus gesehen habe; du brauchst also gar keine Rücksicht mehr zu nehmen . . . Wann geht eigentlich der Mensch, lieber Mann?«

»Den ersten Juli, Luise, wenn ich ihn nicht vorher rausschmeiße.«

Modeste saß dabei, als kümmere sie die ganze Unterhaltung nicht. Sie sah mit kühlen, hellen Augen bald auf den lispelnden Vater, der im Zorn auf und ab ging, bald auf die gemütlich häkelnde Mutter. Was kümmerten sie diese beiden Eltern? – Nichts! Und so morsch war das Gefüge dieser Familie, daß Modeste solche Wahrheit nicht einmal wehe tat. Sie war aufgestanden.

»Wo willst du hin?« fragte die Mutter.

»Reiten.«

»Hoffentlich allein.«

Modeste zuckte die Achseln und nahm die Türklinke. Sie ritt heute nicht, sie strich nur gedankenlos durch den Wald.



 << zurück weiter >>