Johannes Richard zur Megede
Modeste
Johannes Richard zur Megede

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2

Die Jagdgesellschaft war gleich nach Tisch vorgefahren – vorläufig nur die Jäger mit ihren Hühnerhunden, riesigen Flintenfutteralen und kleinen Koffern zur Dinertoilette.

Modeste überließ den Empfang gern den Schwestern. Herr von Falkner hatte auch zugesagt für den Abend. Seiner war man jedoch nie sicher. Der reitende Bote mit der Absage im letzten Augenblick galt als seine Spezialität. Modeste, obgleich sie unerträgliche Migräne gehabt hatte und zur großen Freude ihrer Schwester Frida nicht einmal zum Festessen erwartet wurde, schlich dennoch um vier Uhr aus ihrem Turmzimmer ins Freie hinunter.

Der Nachmittag war klar, kühl, die Luft so durchsichtig, daß man den Kirchturm der fernen Kreisstadt deutlich erkennen konnte. Im Park sanken die ersten bunten Blätter leise raschelnd auf die frisch geharkten Kieswege. Von Zeit zu Zeit klangen Schüsse, aber sehr ferne – die Jäger hatten wohl ein dezimiertes Volk bis an die äußerste Gutsgrenze verfolgt. Modeste, noch im Morgenkostüm, mied die breite Lindenallee, wo auf grüner Bank die hellen Sommerblusen ihrer Schwestern leuchteten. Sie gingen hinaus aufs Feld. Was sie während jener Nachtfahrt in Herzensangelegenheiten beschlossen, kam ihr heute kindisch und übereilt vor. Ihre Vorstellung sah den Auserwählten nur unklar. Dennoch erwartete sie sein Kommen mit nervöser Spannung.

Schloß Barginnen lag stumm und mittelalterlich im scharfen Herbstlicht. Ein schwerer, alter Backsteinbau mit zwei jäh vorspringenden Flügeln, der linke von einem eckigen Burgfried gekrönt. Hohe Stockwerke, aber häßlich niedrige Fenster. Die Vorfahrt ein tiefes Mauertor, in dem die Steintreppe zur Wohnung emporführte. Ringsum der Park, nicht groß, aber uralte Föhren drin, die bis zum Burgfried emporragten. Auch Rasenplätze mit spärlichen Blumenbeeten, verschlungene Wege – die dunkle Allee mächtiger Linden führte von der nahen Chaussee bis zum Schloß. Die Wirtschaftsgebäude lagen abseits, hinter einem Wäldchen schlanker, weißer Birken versteckt. Unregelmäßige alte Gebäude aus Feldsteinen aufgemauert, mit kleinen Luken und Schindeldach. Aber in unheimlicher Länge und Mächtigkeit dehnten sich die Scheunen aus geflicktem Holz. Noch weiter drüben begannen die Insthäuser – Lehmbaracken, verwahrlost, schmutzig, wie es Litauer Art. Hühner gackerten da, und angepflöckte Schweine grunzten. Modeste kehrte um, weil der Geruch von Jauche und Vieh aufdringlich und gemein heranzog.

Am Birkenwäldchen lag auch die Inspektorwohnung – ein kleiner weiß getünchter Bau. Die niedrig gelegenen Fenster des Wohnzimmers waren weit geöffnet. Modeste schaute keck hinein. Herr Romeit war wahrscheinlich nicht zu Hause. Aber wenn auch – sie hatte die naive Herrenüberzeugung, daß Inspektoren doch eine andre Art Menschen seien, deren Negligé ihr nicht einmal peinlich sein konnte. Auf dem plumpen Schreibtisch erblickte sie ein aufgeschlagenes Buch: »Der Tierarzt fürs Land«. Daneben lag ein halb aufgerolltes Bandmaß – in der Pferdegegend ein unbedingt nötiges Requisit. Im Hintergrunde das steinharte Wachstuchsofa und fichtene Stühle – auf einem ein halb geleertes Glas Buttermilch . . . Unter solch lastender Balkendecke, in einer Atmosphäre von Kalkdunst und Stiefeltran hausten diese Leute jahrelang. Der Hofmann mit dem klappernden Schlüsselbund der erste Morgengast – dann Knechte, die den Ziehschein wollten, oder klatschende Instweiber – wohl auch ein hübsches Scharwerkmädchen zuweilen, die, wenn sie in die Backen gekniffen wurde, dazu lachte. Und was für Düfte mitzogen von Stall und Schweiß und schmutzigen Körpern! Ob solche Menschen in solcher Umgebung auch einmal die Liebe überfallen konnte – die echte, die immer Verschwendung ist und von der nur die Dichter wissen? . . .

Modeste mußte bei diesem Gedanken lächeln. – Liebe? – Sie hatte ja selbst keine Ahnung von dem Gefühl. Und eigentlich sollte sie das mit neunzehn Jahren doch schon durchgemacht haben. ›Liebe – Liebe‹ . . . Und sie dachte an die Sperlinge, die liebestoll in den Dachrinnen piepsten, an die gurrenden Tauben im Wald, an die plumpen Schäkereien in der Küche, die sie zuweilen belauscht hatte. Das verstand sie alles gar wohl. Das waren die Sinne, der Trieb. – Aber das große Gefühl? – Wer besaß es? – Besaß es überhaupt einer? . . . Und dabei war sie sich darüber ganz klar, daß Naturen wie die ihre eigentlich nur des Triebes fähig waren und wohl daran taten, wenn sie den in der Konvenienz der Ehe vernünftig verrinnen ließen. Dennoch bäumte sich in ihr etwas gegen diese Konvenienz auf – selbst wenn diese Konvenienz Xaver Kajetan Falkner von Öd hieß und noch Jugend genug besaß zur Liebe . . . Modeste wurde nachdenklich. Vermochte sie denn überhaupt irgend etwas auf dieser Welt mit dem uneigennützigen, starken Gefühle zu lieben – oder kam das bei ihrer Sorte erst mit dem Kinde? . . .

Sie war weit ins Feld gegangen, während sie so träumte, und ohne es zu wollen, den Jägern nach. Die Herren sah sie wohl. Aber sie waren noch viel zu weit zum Gruß. Sie blickte ihnen nach, wie sie über die Stoppel schritten hinter den wedelnden Hunden. Die Jagd interessierte sie wenig. Dennoch blieb sie stehen . . . Aber es ereignete sich nichts. Und als sie so die blassen Augen über die uferlose Ebene hinschweifen ließ – nichts als gelbe Stoppel und helle Wiesenflecken und welkendes Rübenkraut, weiter hinten die dunkle Linie der Staatswaldung – da wußte sie, daß sie doch etwas liebte. Das war eben diese uferlose Ebene, wo das Auge müde wurde vom Schauen über fahle, weite Herbstflächen, oder sich ängstlich an jeden Baum klammerte, an jedes kümmerliche Gebüsch. Den Fetzen Eichenwald, der sich im Osten fast heimtückisch heranschob, bis fast ans Gut, begrüßte sie wie eine Oase . . . Und gerade die Ebene, wie sie jetzt war, so groß, so starr, so schwer, liebte sie. Sie liebte sie mehr als Wald und Schloß, weil sie ihr doch eigentlich Heimat war, Jugend, weil mit jedem einsamen Haus, jedem Baum, jeder Gebüschgruppe sie irgendeine Erinnerung verband, nach der sie sich auch in der Fremde sehnte, wie nach etwas Lebendigem. Das Gefühl war Modeste nicht immer da. Wo Vergnügen winkte, schwand es sofort. Im Winter haßte sie sogar diese tote, riesige Schneefläche, über welche die Raben mit lautem Flügelschlage dahinzogen. Aber heute war es stärker als je, weil sie ihre Erinnerungen in Rußland so lange und so nutzlos entbehrt.

Die Jagd kam näher. Ihr scharfes Auge unterschied den einzelnen genau. Die Herren waren wohl schon etwas müde und schritten langsam, die gespannte Flinte unter dem Arm. Den Graf-Schwager vorne sah sie am deutlichsten. Er ging auf so aristokratisch ausgemergelten Beinen, und mißvergnügt ging er auch. Ja, ein Aristokrat war er, aber ein sehr matter! . . . Zuweilen standen die Hunde – die Herren hielten bewegungslos. Dann ging das Rebhühnervolk in schnarrendem Fluge auf, rasche Schüsse krachten, und schwer flatternde Vögel fielen herunter . . .

»Such! . . . Apporte! . . .« Die Herren waren jetzt so beschäftigt, daß sie Modeste im Eifer gar nicht bemerkten. Nur einer, der ganz hinten ging und scheinbar selten zu Schuß kam, zog die Mütze. Es war Herr Romeit. Er war der frischeste von allen, und Modeste fand seinen federnden Schritt für einen Inspektor fast zu elastisch. Wenn er auch eine andre Menschensorte repräsentierte, etwas war doch dran – der Mann.

Auf dem Rückwege begegnete sie in der Lindenallee den Schwestern – die Gräfin faul, Frida pikiert über die gesund gewordene Modeste. Auch sie war der blaßblonde Lindt-Typus, aber die zehn Jahre mehr markierten sich häßlich scharf neben Modestes Jugend. Die Schwestern wußten das beide.

»Na, du bist ja schnell wieder gesund geworden, Modeste . . . Wenn's Vergnügen gibt . . .«

»Ja, wahrscheinlich, Frida! In meinem Alter überwindet man so etwas noch schnell.«

»Dummes Ding!«

»Was hast du eigentlich, Frida? Bist du zufällig verrückt geworden? . . .«

»Ach, du weißt ganz genau . . .«

Modeste wußte allerdings ganz genau. Die leiseste Anspielung auf das Alter traf da drüben wie ein giftiger Pfeil. Die ältere Schwester zuckte stets dabei zusammen – und eine ganze, lange, traurige Geschichte lag darin, von getäuschter Hoffnung, siechem Ehrgeiz. Seit neben der welkenden die knospende Jugend emporwuchs, brannte dieser heimliche Zwist. Die Jüngere hatte längst und lächelnd begriffen. Und mit der kleinen Grausamkeit ihres Geschlechtes und ihrer Jahre schnellte sie den Pfeil oft und unnötig. Zuweilen tat's ihr leid, sie wollte begütigen, aber gerade dabei bäumte sich der andern Stolz zischend wie eine Natter auf. Modeste zuckte die Achseln. Wenn Frida den Krieg absolut wollte – um so besser . . . Aus weichem Holz war keine Lindt! Darum hatte sie stets ein herausforderndes Lächeln parat. Auch heut. Es war ein böses Lächeln.

So gingen die Frauen schweigend weiter durch den Lindengang bis zur Chaussee. Wo, zwischen gelber Stoppel und welkendem Kartoffelkraut, der schmale Streifen Eichenwald sich herüberreckte wie ein dunkler Arm, lag in der Ferne ein Gut. Ziegeldächer leuchteten, die weiße Front eines Herrenhauses ragte aus herbstlichem Grün. Man sah selten so klar wie heute.

Gräfin Erika hob das Stiellorgnon: »Das ist doch Eyselin?« lispelte sie.

Die Schwestern nickten.

»Wer hat es jetzt eigentlich?«

Sie waren alle stehengeblieben und schauten hinüber.

»Der Falkner . . . Du weißt doch . . .« antwortete Frida endlich.

Aber der älteren Schwester schien die Gräflichkeit starke Verheerungen im Gehirn angerichtet zu haben. Sie lächelte und schüttelte das schlecht frisierte Haupt . . . »Falkner – Herr Falkner – das könnt ihr wirklich nicht verlangen!«

»Aber Erika – er heißt doch Falkner von Öd, Freier Panierherr zu Eyselin!«

»Ach so! . . . Ach so!« . . . Das gräfliche Gedächtnis stärkte sich rasch. »Ja, natürlich! . . . Ihr habt mir ja von ihm geschrieben . . . Wie ist er eigentlich? Erzähle doch lieber von vorn.«

Frida berichtete, was sie wußte: früher Gardekavallerist in Potsdam – dann Weltbummler – jetzt Majoratsherr auf Eyselin. Sechsunddreißig Jahre alt, unverheiratet. Besondere Merkmale: hochmütig und unbeliebt. Das klang wie die Personalien eines Reisepasses.

Die Gräfin wurde trotzdem warm: »Aber Eyselin ist ein Riesengut, und der alte Baron muß doch viel Privatvermögen hinterlassen haben . . . Ich habe gar nicht geahnt, daß der noch irgendeinen Verwandten hatte.«

»Der Onkel und der Neffe sollen sich auch kindisch geliebt haben!« kommentierte Frida hämisch.

»Das ist ja nebensächlich,« fuhr die Gräfin fort . . . »Aber Kinder, das ist doch 'ne Partie, 'ne großartige Partie!« . . . Sie lispelte ganz begeistert.

Frida kniff die blassen Augen zusammen. »Hier ist man andrer Ansicht. Er paßt der Gegend nicht!«

Modeste, die scheinbar interesselos mit dem Absatz allegorische Figuren in den Chausseestaub gezeichnet hatte, wandte sich jäh um. »Sag lieber: die Gegend paßt ihm nicht!« korrigierte sie scharf.

Darauf Schweigen.

Die Gräfin-Schwester hob noch einmal das Lorgnon, schaute lange und seufzte leicht. Dann gingen sie alle zurück und plauderten Gleichgültiges. Im Schloßportal zögerte die Gräfin einen Moment, lächelte fein und faßte Frida zärtlich um die Taille: »Komm noch einmal in den Garten! Ich habe dir etwas zu sagen.«

Modeste sah ihnen nach. Sie begriff. Und halblaut murmelte sie: »Wenn ihr mich für so dumm haltet! . . .« – Sie wußte, daß ein Eheprojekt im Werden, und sie hatte nicht übel Lust, den Schwestern nachzurufen: »Der Jakob wird sich für die Lea schönstens bedanken!« – Daß sie die Rahel der Familie, war ihr gewiß.

Modeste ging hinauf ins Turmzimmer, um sich anzuziehen. Dort hausten die Schwestern. Ein großer, dumpfiger Raum mit kleinen Fenstern. Es roch nach Mandelkleie und Patschuli, und ein leichter Moderhauch schwebte über allem. Modestes Toilette dauerte nie lange. Der Lackschuh – das Atlaskorsett – die paar leichten Striche mit der Brennschere – das Kostüm rasch übergestreift. Und was sie dann im hohen Stehspiegel sah, war immer hübsch. Es lag an der frischen Jugend, den schlanken Formen . . . Heute ging es langsam. Sie saß lange vor dem Spiegel. Das tat sie überhaupt gern, sich am eignen Reiz eitel zu sonnen. Auch Gedanken zogen mit . . . Warum man sie hier oben eigentlich beide zusammenpferchte – sie, die nichts verband? Natürlich der Geiz, weil man im Winter kein unnötiges Zimmer heizen wollte. Töricht! – Für ein Fuder Holz ein Leben voll Qual, Neid, Schadenfreude. Zwei Pferde zusammengespannt, die nicht zusammengehörten – ein junger, schöner Renner neben einem alten, nervösen Gaul. Modeste dachte das Oftgedachte: Warum haßten sie sich eigentlich? Aber Grübeln lag nicht in ihrer Natur. Der Haß war ja auch schon so alt! . . . Nur das eine fühlte sie heute stärker als sonst: Los! Heraus! Sie sehnte sich aus der dumpfen Enge in frische Weiten. Die Fenster waren geöffnet, müde Sonnenlichter spielten, die Fichtenkronen nickten, der Herbsthauch rieselte ins Gemach mit schwerer Kühle, fauligem Duft. Wie gestern auf dem Strom wollte sie diese Herbststimmung einspinnen, aber ihre Jugend hob sich dagegen. Sie wollte nicht verkommen in diesem ewigen, trostlosen Herbst des Schlosses. Sie stand auf. Frida kam noch immer nicht . . . Wenn der jetzt Erika das unfehlbare Rezept mitteilte zum Männerfang? . . . Ob es überhaupt eins gab? . . . Dann lächelte Modeste. Sie ging gerade am Spiegel vorbei. Und halb bekleidet, wie sie war, hob sie lässig die weißen, schlanken Arme, streichelte liebevoll den vollen Hals, den Nacken . . . Arme Frida! – Wenn ich will – wenn ich ernstlich will, wo bleibst du! . . .

Und die Schwester mit ihrer welken Jugend tat ihr nicht leid. Ein Windhauch zog herein. Das Blondhaar zitterte, über den Nacken rann's kühl. Da wurde sie plötzlich mutlos. Was hat's eigentlich für einen Sinn, mit all dem Reiz der Jugend, suchen zu gehen, statt gesucht zu werden? – Und warum jetzt gerade und diesen hochmütigen Falkner von Öd, den niemand kannte? Was reizte sie an ihm eigentlich? . . . So dumm! – Ihr war ganz klar, daß sie nicht einen Schatten von Zuneigung für diesen Fremden empfand – nur kindische Eitelkeit, leerer Hochmut . . . Und dennoch – sie wollte ihn, sie wollte ihn ganz gewiß! Dabei kroch ihr ein Grauen über den Körper, ein Ahnen, daß mit diesem häßlichen Begehren sich ihr Schicksalsfaden zog – unsichtbar unzerreißbar. Es war ein eigen Gefühl.

Im Zimmer unten wurde es laut. Die Jäger zogen sich dort zum Diner um. Modeste lehnte sich neugierig aus dem Fenster, zu horchen. Halblautes Gespräch – das Glitschen der Seife – ein wiehernd belachter Witz. Sie wußte, wie Herren bei der Jagdtoilette sich unterhalten. Einer guckte jetzt heraus und hinauf zu ihr – ein häßlicher Graubart, eine stumpfe Glatze. Modeste fuhr rasch zurück. Er mußte ihre nackten Arme gesehen haben. Das war ihr eine widerliche Empfindung. Frida kam noch immer nicht. Modeste zog sich rasch an – das schwarze, hochgeschlossene Moireekleid.

War es ungewisse Scham, ein keusches Fühlen? Oder lehnte sich ihre Jugend auf gegen eine häßliche Schau ihrer Reize, einen unwürdigen Markt, dem sie dennoch entgegenging?

Modeste stieg hinunter. Auf der Treppe begegnete sie Frida. Die blieb verwundert stehen und sagte: »Ganz schwarz? Trauerst du um einen verflossenen Liebhaber?«

Modeste zuckte geringschätzig die Achsel: »Das tätest besser du, um einen nie vorhandenen.«

Und sie lachten beide hell und höhnisch auf. So verkehrten sie immer.

*

Auf dem riesigen Fliesenflur mit dem Kalkdunst und den Prunkschränken liefen geschäftig die Mädchen umher. Die Türen zum Speisesaal standen offen. Eine lange, weiße, nüchterne Tafel, die Stühle steif, die Herbstblumen in der Jardiniere trist. Herr Lindt klapperte mit Weinflaschen, und seine Gattin prüfte, den Kneifer auf der Nase, die Tischkarten und rückte hier und da einen Stuhl zurecht. Modeste schaute neugierig ins Zimmer. Sie hatte Feste gern, sie liebte Glanz, Fröhlichkeit, Wärme. Aber sie wandte sich sofort enttäuscht ab. Barginner Feste! – Über denen lag immer etwas von Kühle und Geschäft. Doch es paßte zu Lindts, vor allem zu den Eltern. Er: ein schlanker, steifer Sechziger, glatt rasiert, ohne Runzeln, mit kleinen stechenden Augen – am Gehrock das Ordensband. Sie: klein, zierlich, ganz grau, mit anmutigen Bewegungen, mit einem ruhigen Lächeln. Sie lebten beide sehr glücklich – zwei magere, würdige Menschen, korrekt, geizig, ohne Herz. Modeste trat zu ihnen, auch kühl, auch lächelnd. Der Vater sah von einer Weinetikette auf und nickte. Die Mutter sagte halblaut: »Leutnant von Häwel führt dich. Es ist dir doch recht, Modeste?« – Sie antwortete rasch: »Aber natürlich, Mama« – und schielte nach Fridas Platz, wo für Herrn von Falkner gedeckt war. Sie waren also auch im Komplott, die Eltern.

Dann ging sie wieder. Die Alten sahen ihr nach, wie die schlanke, schöne Gestalt lässig über den dämmerigen Flur schritt zu den Gesellschaftsgemächern hinüber. Es war eine große Flucht weiter, niedriger Räume; die Einrichtung etwas dürftig, mit dem leichten Moderparfüm eines alten Schlosses. Gewissermaßen die gute Stube des Bürgers ins Herrenhaus getragen. Ein glücklicher Einfall. Der Geiz hatte hier die Lindts vor der Protzerei bewahrt. Modeste liebte diese Zimmer nicht – so ohne Eigenart, ohne Gemütlichkeit, nur die Luft schwer und feudal. Im letzten blieb sie. Es war ein Eckgemach, hell, klein; durch die Lindenallee des Parkes schaute die weite, östliche Ebene hinein. Früher Erikas Boudoir, mit roten Plüschsesseln, einer gebrannten Truhe und einem wackligen Mahagonischreibtisch; an der Wand Photographien, auf einem Bücherbrett ungefährliche Klassiker, wie aus Zufall der Grafenkalender dazwischen. Es war die Familienbibel der Lindts. Modeste lächelte und nahm das dicke kleine zerlesene Buch. Diesmal blätterte sie nicht nach Axsils. Der gräfliche Ast der Falkner von Öd interessierte sie mehr. – Ein absterbend Geschlecht mit seltsamen Vornamen, die Töchter Klosterfrauen im Münsterland, der junge Majoratsherr der einzige Mann, aber unvermählt. Darunter die Notiz: Über den älteren Ast siehe im freiherrlichen Kalender 1893 . . . Das freiherrliche Taschenbuch gab's bei Lindts freilich nicht. Modeste fühlte den Hohn. – Es rann ihr warm über den Rücken. Nicht etwa Scham. Von der Lindenallee klang nämlich das Rollen eines herrschaftlichen Wagens. Er! – Und eine trunkene Freude überkam sie plötzlich . . . Wenn sie nun gefiele . . . und wenn . . . und wenn . . . Modeste Falkner von Öd, Freie Panierherrin zu Eyselin! –

Und hier auf demselben Fleck wollte sie stehen mit Erika und Frida und ihnen klarmachen, daß der freiherrliche Ast der Falkner von Oed älter und vornehmer als jeder gräfliche . . . Das Rollen klang näher.



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