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Immer mehr hatte der vorschreitende Herbst seine zerstörende Hand an die einfache Natur in Blechow gelegt, immer dichter fielen die gelben Blätter von den Bäumen, immer mehr senkten die Blumen im Garten des Pfarrhauses ihre Häupter unter dem scharfen Winde und den häufiger und häufiger bereits eintretenden Nachtfrösten, nur die alten Föhrenwälder allein zeigten das immer dunkler sich färbende Grün, das auch im tiefen Winter wie eine unzerstörbare Erinnerung an den Sommer sein Recht behauptet.
Ruhig und still war das Leben im Pfarrhause fortgeschritten. Zwischen dem Pastor Berger und seiner Tochter war der Gegenstand ihrer letzten Unterredung über die Aufhebung der Verlobung mit dem Herrn von Wendenstein nicht weiter zur Erörterung gekommen. Der alte Herr hatte diese ihm so schmerzliche und peinliche Frage nicht wieder berühren mögen, und Helene hatte über dieselbe geschwiegen, nicht weil Hoffnung auf Glück und eine freundliche Zukunft ihr Herz erfüllten, – diese Hoffnungen, welche bloß einen Augenblick leise aufgetaucht waren, hatten schnell wieder der traurigen Resignation Platz gemacht, in welche sie sich bereits seit längerer Zeit hineingelebt, aber sie hatte auch der treuen und freundlichen Vermittelung des jungen Bauern, der so aus vollem Herzen in ihr Schicksal einzugreifen verlangt, nicht entgegenhandeln wollen und deshalb auch ihrerseits den Gegenstand nicht weiter berührt, da sie gehört, daß Fritz Deyke abwesend sei, wie man sagte, um wegen der Abholzung eines Teils des Besitzes seines Vaters in Hannover geschäftliche Verhandlungen zu führen.
Die junge Frau Deyke war auf den Pfarrhof gekommen und hatte Helene das wirkliche Reiseziel ihres Mannes mitgeteilt, sie auch gebeten, seine Rückkehr zu erwarten, bevor sie irgendeinen Entschluß fasse. Sie hatte ihr mit soviel Liebe und Teilnahme Mut und Hoffnung zugesprochen, daß das junge Mädchen, wenn sie auch keine Hoffnung fassen konnte, dennoch sich durch die Teilnahme dieser einfach treuen Menschen innig beglückt fühlte.
Auch ihr körperlicher Zustand hatte sich ein wenig gebessert. Nach der großen, schmerzlichen Katastrophe, die sie durchgemacht, war gerade, weil sie kein Glück und keine Freude mehr erwartete, eine gewisse Ruhe in ihrem Innern eingetreten, welche ihren Nerven wohltat und auch günstig auf ihre Brust einwirkte.
Der alte Pastor sah mit stiller Freude diesen Schein von Genesung. Er schrieb die günstige Wirkung vorzugsweise dem erheiternden und tröstenden Zuspruch der Frau Deyke zu und bat dieselbe, täglich seine Tochter zu besuchen, – eine Bitte, welche die fröhliche, heitere und lebenskräftige Frau mit Freuden erfüllte, und so war in das Leben des Pfarrhofes wenigstens ein Sonnenstrahl wieder gefallen, zwar matt und kalt noch immer, wie die Sonne des Herbstes, welche erfreut und beruhigt ohne die belebende Kraft des Frühlingslichts – aber es war doch immer ein Sonnenstrahl, für den der alte treue Diener des Evangeliums in seinem stillen Gebet Gott auf das innigste dankte.
So saß Helene eines Nachmittags auf ihrem gewohnten Platz am Fenster, immer noch matt und zurückgelehnt in ihrem Stuhl, immer noch fast unfähig, eine jener kunstvollen weiblichen Arbeiten auszuführen, welche sonst ihre Freude gewesen waren. Über ihrem bleichen, krankhaft matten Gesicht lag eine gewisse stille, verklärte Ruhe. Sie erwartete die Zeit, zu welcher die junge Frau Deyke nach Besorgung ihrer häuslichen Wirtschaftsarbeiten zu ihr zu kommen pflegte.
Sie blickte mit ihren großen tiefen Augen hinaus in die Herbstlandschaft, welche heute noch einmal von einem letzten Scheideblick des Sommers beleuchtet schien, und fast mit Mühe mußte sie die Regung freudiger Hoffnung unterdrücken, welche wie unwillkürlich in ihr aufsteigen wollte.
Da öffnete sich leise die Tür, und in seiner gewohnten bescheidenen Haltung trat der Kandidat in das Zimmer; den Ausdruck inniger, wehmütiger Teilnahme auf seinen glatten Zügen, näherte er sich mit kaum hörbaren Schritten seiner Cousine, welche ihm mit leichtem Erstaunen entgegensah, und trotz des peinlichen Eindrucks, den sein Erscheinen jedesmal bei ihr hervorrief, ihn mit einem milden, freundlichen Lächeln begrüßte.
Der junge Geistliche zog einen Stuhl neben das Fenster, setzte sich seiner Cousine gegenüber und begann mit jenem leisen, etwas salbungsvollen Ton, welcher auch im gewöhnlichen Leben ihm zur andern Natur geworden war:
»Ich habe zu meiner großen Freude gesehen, liebe Helene, daß du in der letzten Zeit etwas kräftiger und ruhiger geworden bist, und daß das böse und qualvolle Leiden, welches dein Leben bedrohte, durch Gottes Hilfe« – er faltete die Hände, indem er sein scharfes, stechendes Auge nach oben aufschlug – »von dir zu weichen scheint.«
»Ich fühle mich in der Tat etwas wohler«, sagte das junge Mädchen. »Aber«, fügte sie mit einem traurigen und ergebenen Lächeln hinzu, »ich glaube darum nicht an meine völlige Genesung. Die Krankheit hat mich zu tief ergriffen, meine ganze Natur ist zu schwer erschüttert, als daß ich das wieder überwinden könnte.«
»Bei Gott ist kein Ding unmöglich«, sagte der Kandidat. »Hat er nicht bis hieher geführt? Und so müssen wir glauben und vertrauen, daß er auch weiter alles zum besten lenken werde. Vielleicht war das alles nur eine Prüfung, um deinen zu sehr der Welt zugewendeten Sinn zu läutern und dem Himmel wieder zuzuführen.«
Helene sah ihn groß an.
»Ich glaube nicht, den Himmel jemals vergessen zu haben,« sagte sie, »Glück und Hoffnung hat mich stets an denjenigen denken lassen, von dem alles Glück ausgeht, und welcher allein alle Hoffnungen erfüllen kann. Freilich«, fügte sie tief aufseufzend hinzu, »führen uns vielleicht Schmerz und Kummer noch inniger zu dem liebevollen Herzen Gottes, um so mehr, wenn man, wie ich, so nah an der Grenze lebt, welche diese Welt von der Ewigkeit scheidet.«
Der Kandidat senkte einen Augenblick die Augen zu Boden, dann fuhr er immer in demselben sanften und leisen Ton fort:
»Ich habe in dieser ganzen Zeit vermieden, mit dir zu sprechen, – nicht darum, weil ich für das Leiden deines Körpers und deiner Seele nicht die innigste und tiefste Teilnahme empfunden hätte, – ich wollte es vermeiden, dich durch mich an jene schmerzliche Täuschung zu erinnern, deren Opfer du geworden, und welche aufzuklären der Himmel gerade mich zum Werkzeug gewählt hatte. Ich wollte dir Zeit lassen, um in eigener Kraft die Kämpfe durchzukämpfen, welche dein Herz bewegen müssen. Aber ich habe darum nicht nachgelassen, mit dem Blick eines treuen Freundes dich zu beobachten, und mit tiefer Freude, mit innigem Dank gegen Gott sehe ich, daß du zur Ruhe gekommen bist, und daß du die Kraft gefunden, nicht nur das Leid, das dich betroffen, zu ertragen, sondern auch dasselbe zu überwinden und, wie ich hoffe, zu erkennen, daß diese Prüfung zu deinem Besten dir geschickt wurde.«
Helene neigte leicht den Kopf. Sie schien nicht recht zu begreifen, was die Worte ihres Vetters bedeuten sollten, die im wesentlichen nur das enthielten, was sie sich selbst sagen konnte und sich selbst oft gesagt hatte.
»Da du nun«, fuhr der Kandidat fort, »deine innere Ruhe und Kraft wiedergefunden, das vergangene Leid überwunden hast, da ich nicht mehr fürchten muß, durch mein Erscheinen eine noch ungeschlossene Wunde in dir aufzureißen, da dein Sinn, wie ich hoffe, von allen weltlichen Richtungen sich wieder zurückgewendet hat zu dem engen, aber segensvollen Kreis eines einfachen christlichen Lebens, so halte ich es für meine Pflicht – für eine Pflicht meines Herzens,« fuhr er mit innigem Ton fort, »zu dir heranzutreten und dir abermals meine Hand zur festen Stütze für dein Leben zu bieten, das nach dieser heilsamen, aber schweren Erschütterung fortan unter der Leitung und dem Schütze eines liebevollen Freundes in ruhigem, stillem und bescheidenem Glück dahinfließen soll.«
Helene blickte erstaunt auf. Sie konnte sich über den Sinn der Worte ihres Vetters nicht täuschen. Langsam schüttelte sie schweigend den Kopf.
»Du weißt,« fuhr der Kandidat ruhig fort, »daß ich in Übereinstimmung mit den Absichten meiner Mutter und deines Vaters den innigen und treuen Herzenswunsch hege, dir als meinem christlichen Weibe die Hand zu reichen und dir eine segensvolle Lebenstätigkeit zu bereiten, nach welcher du als die Tochter eines Dieners des Herrn besonders tüchtig und vorbereitet bist. Dein Herz hatte dich nach anderer Richtung hingezogen, das jugendliche Herz ist ein törichtes und ungestümes Ding, ich habe damals mit Schmerzen gesehen, daß seine Wallungen dich hinauszogen aus dem Kreis, in welchem dein Leben erwachsen war. Aber ich habe mich schweigend zurückgehalten, bereit, auch auf dem Wege, auf welchen deine Liebe dich hinführte, mit meinen treuen Gebeten dich zu begleiten. Gott selbst hat dich schwer und schmerzlich aus dem Traum erweckt, in welchem du befangen warst. Die Hoffnungen deines Herzens sind zerstört, deine Liebe ist getäuscht worden, vielleicht aber bist du darum um so tüchtiger, um so mehr ausgerüstet mit Glauben und Ergebung, um alle die Pflichten zu übernehmen, welche auch die Gattin eines Geistlichen, eines Dieners Gottes, eines Verkündigers des Evangeliums zu erfüllen hat. Ich verlange und erwarte von dir nicht jene stürmische Liebe, welche wie ein betäubender Rausch die Sinne erfüllt und mit ihrer Glut die Seele auch in Unklarheit und Unruhe stürzt, du hast gesehen und empfunden, wohin jene Liebe führt, du wirst um so mehr das einfache, treue und warme Gefühl schätzen können, welches ich dir entgegentrage, und du wirst mehr und mehr auch imstande sein, dieses Gefühl erwidern zu können. Es ist ein Sturm über dieses Haus hingegangen, Helene,« fuhr er fort, »ein Sturm, der es leicht hätte zerstören und uns alle unglücklich machen können. Ich hoffe und vertraue, daß die Hand Gottes diesen Sturm überwunden hat, laß uns jetzt eine neue, stille und glückliche Zukunft erbauen. Reiche mir deine Hand zum christlichen Ehebunde – dein Vater wird uns segnen, du wirst die letzten Tage seines Lebens mit Freude und ruhigem Glück erfüllen. Du wirst mich glücklich machen und selbst in deinem schönen und segensreichen Beruf Vergessenheit aller vergangenen Schmerzen finden.«
Er reichte ihr die Hand hin, während seine Blicke scharf und forschend auf ihr ruhten und ein mildes, freundliches Lächeln auf seinen Lippen lag.
Helene hatte mit niedergeschlagenen Augen dagesessen, während die Fingerspitzen ihrer in den Schoß gesenkten Hände leicht zitterten.
»Ich habe mit dem Leben abgeschlossen,« sagte sie, »alle Hoffnungen, die ich einst gehegt, sind verschwunden, alle Gefühle, die in meinem Herzen lebten, sind abgestorben, außer dem einen, meines Vaters Leben zu verschönen und, soviel ich kann, mich dem Dienst meiner Nebenmenschen zu weihen.«
»Und kannst du nicht beides an meiner Hand ebenso gut, besser noch, als wenn du allein stehst? Gott kann deinen Vater abrufen aus diesem irdischen Leben, und dann bedarfst du des stützenden und leitenden Führers.«
Helene richtete sich empor und heftete den Blick groß und klar auf ihren Vetter.
»Mein Leben,« fagte sie, »solange dasselbe noch dauern mag, gehört den Pflichten gegen meinen Vater und gegen alle Leidenden auf Erden. Mein Herz aber gehört der Erinnerung, die ich nie in ihm werde ertöten können, die ich nie in ihm ertöten will. Um dir meine Hand zu reichen, wie du es wünschest, dazu gehören Gefühle, die ich mit jener Erinnerung im Herzen dir niemals geben kann.«
»Die Zeit –« sagte der Kandidat.
»Keine Zeit,« erwiderte Helene schnell, indem ihre Augen heller glänzten, »kann das verwischen, was ewig und unvergänglich ist. Und ewig und unvergänglich ist die Erinnerung an meine Liebe. Mag sie auch ihre grünen Ranken um eine tote Urne winden,« fügte sie mit Ernst hinzu, »zwischen uns kann kein anderes Band bestehen, als das der Freundschaft naher Verwandter. Und dies Gefühl,« fügte sie mit mildem Ausdruck hinzu, indem sie ihrem Vetter die Hand reichte, »dies Gefühl sollst du stets bei mir finden, in diesem Gefühl wollen wir uns verbinden in gemeinsamem Wirken christlicher Liebe.«
Der Kandidat ergriff wie mechanisch ihre Hand. Aber trotz der Gewalt, welche er über den Ausdruck seiner Züge hatte, erschien auf seinem Gesicht eine zornig feindliche, fast hämische Bitterkeit, und mit kalter, schneidender Stimme sprach er:
»So hat also selbst die Verachtung deiner Liebe, von der ich dir die Beweise gebracht, den unwürdigen Gegenstand derselben nicht aus deinem Herzen reißen können?«
Helene erhob den Kopf, ihre Blicke flammten, ihre eingefallenen Wangen überzogen sich mit Purpur, und ihre bleichen Lippen kräuselten sich. Mit stolzer Verachtung sprach sie:
»Wer sagt dir, daß meine Liebe verachtet ist? Der, dem ich mein Herz geschenkt habe, kann sich verirren, sich von mir abwenden, er mag mich vergessen können, aber verachten wird er mich niemals, das bin ich sicher.«
»Vielleicht wird jene schöne Dame,« sagte der Kandidat in kaltem, höhnischem Ton, »vielleicht wird jene schöne Dame, zu deren Füßen er auf dem Bilde ruhte, das ich dir gebracht, anders darüber urteilen, vielleicht hat sie von seinen Lippen den Spott gehört über die verlassene Braut, die er mit kurzem Liebestraum betört hat. Vielleicht ist das Lächeln, das um ihre Lippen schwebte, ein Lächeln des Mitleids über die Vermessene, welche es gewagt hat, ihre Blicke zu demjenigen zu erheben, den sie, die gefeierte glänzende Schönheit der großen Welt, ihrer Beachtung wert gefunden.«
Wie von einer Feder bewegt sprang Helene auf, sie stützte sich mit der Hand auf ihren Arbeitstisch, und indem sie den andern Arm gebieterisch gegen ihren Vetter ausstreckte, rief sie mit ihrer kranken, matten Stimme, welche durch die Anstrengung und Aufregung hohl und rauh klang:
»Ich habe auf deinen Antrag ruhig und freundlich geantwortet, ich habe ihn zurückgewiesen, weil ich allein und einsam den noch übrigen Weg meines Lebens gehen will. Ich habe dir nicht gesagt, daß mein Herz sich kalt und schaudernd von dir abwendet, von dir, der du so sorgfältig aufgesucht hast, was mich krank und elend macht. Ich habe dir das nicht gesagt, weil ich dir nicht wehe tun wollte, wie ich niemanden wehe tun will, – wer selbst so viel gelitten hat, wie ich,« fügte sie mit zitternder Stimme hinzu, »der scheut sich, andere leiden zu lassen. Aber du hast dich nicht gescheut, zu dem Kummer, dessen erste Kunde du mir gebracht, noch Spott und Hohn zu fügen und denjenigen herabzusetzen, den ich trotz des schmerzlichen Verhängnisses, das mir sein Herz entfremdet, noch immer hoch halte und hoch halten werde, solange ich lebe und atme. Das verzeihe ich dir nicht, denn das ist schlecht und niedrig, und fortan ist nichts mehr zwischen uns gemein, nichts, gar nichts, bleibe mir fern, wie du mir bisher fern bliebest, unsere Lebenswege sollen und werden sich nicht berühren. Ich bedarf deiner Freundschaft und deiner Stütze nicht. Sollte mein Vater vor mir abgerufen werden, so werde ich auch allein meinen einsamen Weg zu gehen wissen.«
Der Kandidat war aufgestanden. Er hatte diesen heftigen Ausbruch nicht erwartet. Sein Gesicht nahm wieder seine gewöhnliche Ruhe an. Er schlug die Augen nieder und trat einen Schritt näher zu seiner Cousine.
»Aber, Helene, ich bitte dich, welche Aufregung! Du weißt doch, wie ich nur an dein Wohl denke, und wie nur die Entrüstung über das Unrecht, das man dir getan, mich fortriß!«
»Ich will deine Teilnahme nicht!« rief Helene, immerfort den Arm gegen ihn ausstreckend. »Verlaß mich und bleibe fern von mir, wenn du nicht willst, daß ich meinen Vater um Schutz anrufe, damit er, da alles Glück von mir gewichen ist, mir wenigstens Ruhe und Frieden schaffe!«
Und langsam gegen ihn vorschreitend, den flammenden Blick starr auf ihn gerichtet, drängte sie ihn fast mit den ausgestreckten Spitzen ihrer Finger gegen die Tür hin, während er ganz erschrocken und fassungslos zurücktrat. Als er fast unmittelbar bis zur Tür gekommen war, öffnete sich diese schnell, und die junge Frau Deyke trat mit freudig bewegtem, glückstrahlendem Gesicht ein. Erstaunt blieb sie diesem sonderbaren Bilde gegenüber stehen und blickte ganz verwundert auf das vor Aufregung zitternde junge Mädchen, das mit zornflammendem Gesicht vor ihrem in sich zusammengebeugten Vetter stand.
Der Kandidat faßte sich schnell. Freundlich, mit ruhigem Lächeln grüßte er die junge Frau und sagte mit sanfter Stimme:
»Das ist schön, daß Sie kommen, meine liebe Frau Deyke, meine arme Cousine ist sehr aufgeregt und schmerzlich bewegt. Ihre Unterhaltung wird sie trösten und aufheitern, und die Heiterkeit der Seele wird auf den Körper heilend wirken. Es ist ein gutes, christliches Werk, das Sie tun – ich lasse Sie mit ihr allein.«
Und indem er mit geistlicher Würde den Kopf neigte, schritt er an der jungen Bauersfrau vorüber aus dem Zimmer hinaus.
»Was um Gotteswillen ist denn das?« fragte Frau Deyke, ihm erstaunt nachsehend, »was ist denn hier vorgegangen, was hat Sie so bewegt?« sagte sie, mit liebevoller Zärtlichkeit die beiden Hände Helenens ergreifend und diese sanft zu ihrem Stuhl am Fenster zurückführend.
»Es ist nichts«, sagte Helene mühsam und schwer aufatmend. »Mein Vetter berührte die Vergangenheit in einer Weise, die mich peinlich bewegte. Ich mag davon nichts hören,« sagte sie, die Hände schmerzlich auf die Brust drückend, »lassen wir die Toten ruhen.«
»Nein, lassen wir sie nicht ruhen,« erwiderte die junge Frau mit fröhlichem, beinahe jubelndem Ton, »lassen wir die Vergangenheit auferstehen, die Vergangenheit mit all ihrer Liebe, all ihrem Glück und all ihren Hoffnungen.«
Helene sah sie groß an.
»Die Gräber öffnen sich nicht,« sagte sie, – »ebensowenig die Gräber der gestorbenen Menschen, als die Gräber der gestorbenen Hoffnungen.«
»Doch,« rief Frau Deyke, »sie öffnen sich, sie öffnen sich vor dem Glauben, vor dem Ruf der allmächtigen Liebe, das wiedererstandene Glück, die wiedergeborene Hoffnung ist um so schöner, und Ihnen sollen sie sich öffnen. Mein Mann ist zurückgekehrt«, fuhr sie leiser fort, indem sie sich zu Helene herabbeugte und ihr tief in die Augen sah.
Helene ergriff angstvoll zusammenzuckend ihre Hände, tief erbleichend sah sie mit ihren kranken, fieberglänzenden Augen in das von frischer Gesundheit und froher Zuversicht strahlende Gesicht dieser Frau, die so oft in ihrem Kummer und Leiden sie zur demütigen Ergebung in den Willen der Vorsehung ermahnt hatte, und die jetzt so plötzlich vor sie hintrat, um ihr von Hoffnung und von Glück zu sprechen, welche in ihren Gedanken keinen Platz mehr hatten. Eine Frage zitterte auf ihren Lippen, aber sie hatte nicht die Kraft, sie auszusprechen.
»Mein Mann hat den Leutnant gefunden«, sagte die junge Frau weiter. »Er hat ihm alles erzählt, er ist zu seinem Herzen gedrungen, das bestrickt und betört war von falschem Zauber, und er hat in dem Abgrund seines Herzens noch die alte Liebe und die alte Treue gefunden. Der Zauber ist gebrochen, die Liebe und Treue sind wieder mächtig. Hoffen Sie, Fräulein Helene, alles wird wieder gut werden, alles wird sich wieder zum Glück wenden.«
»Mein Gott,« flüsterte Helene kaum hörbar, indem sie ihren Kopf leicht auf die Schulter der jungen Frau sinken ließ, »er hat ihn gesehen? – und warum kommt er nicht, um mir zu erzählen? – mein Gott, wie dies törichte Herz, das ich mit so vieler Mühe zur Ruhe gebracht, wieder zittert und bebt in neuer Unruhe!«
»Mein Mann wird kommen,« sagte Frau Deyke, »er wird gleich hier sein, er bringt –«
»Einen Brief von ihm?« rief Helene, – »o, fast fürchte ich diese neue Bewegung, fast sehne ich mich zurück nach dem Frieden meiner ruhigen Ergebung.«
»Er bringt keinen Brief«, sagte Frau Deyke mit vor Rührung zitternder Stimme. »Er bringt besseres, als kalte geschriebene Worte, die doch nicht alles ausdrücken können, was wieder zusammengefundene Herzen sich sagen können.«
Rasche Schritte ertönten durch die Stille des Abends auf dem Wege, welcher zum Pfarrhause hinaufführte.
Helenens Augen öffneten sich weiter und weiter, so daß das ganze Rund ihrer dunklen blauen Pupillen auf dem perlmutterweißen Grund hervortrat. Sie richtete sich auf, und die Hände auf die Schulter der jungen Frau gestützt, blickte sie starr nach der Tür hin, als sähe sie einer Geistererscheinung entgegen.
Fritz Deyke trat ein, ohne die Tür hinter sich zu schließen.
»Da bin ich wieder, Fräulein Helene!« rief er mit seinem treuherzigen Ton. »Ich habe wohl recht gehabt, wenn ich sagte, daß das alles sich aufklären müßte, wenn nur ein ehrlicher Mensch ein treues und aufrichtiges Wort dazwischenspräche. Ich kannte meinen Leutnant, er ist nicht schlecht, er mußte sich wieder zu richtigen Wegen zurechtfinden. Wollen Sie ihm helfen, ich habe das meinige getan, jetzt müssen Sie das übrige besorgen.«
Er trat von der Tür zurück, und langsam heranschreitend erschien die schlanke Gestalt des Leutnants von Wendenstein in dem Rahmen.
Helene stand fortwährend unbeweglich, die brennenden Blicke auf diese Erscheinung gerichtet; nun erhob sie langsam die Arme – wollte sie dieses Bild, das da so unerwartet vor ihr auftauchte, das ihr soviel Leid gebracht, abwehren, oder wollte sie ihre Hände dem wiederkehrenden Geliebten entgegenstrecken?
Der Leutnant von Wendenstein war einen Augenblick auf der Türschwelle stehen geblieben. Tief erschrocken blickte er auf diese magere Gestalt, auf diese leidenden Züge hin, welche kaum eine Ähnlichkeit mit der Erscheinung des jungen Mädchens darboten, die in seiner Erinnerung lebte. Dann brach ein Strahl tiefen, weichen Gefühls und inniger Liebe aus seinen Augen. Mit zwei großen Schütten war er bei Helenen.
Er schloß sie sanft in seine Arme, nahm ihre beiden zarten, durchsichtigen Hände in die seinen, lehnte ihr Haupt an seine Brust und blickte ihr lange schweigend in die Augen.
»Helene,« sagte er leise, »meine arme, meine liebe Helene, kannst du mir verzeihen?«
Sie antwortete nicht, aber aus ihren Blicken strahlte eine reine, klare Flamme zu ihm auf, sanft machte sie ihre Hände los, legte beide um seine Schultern und sagte:
»Du bist wieder bei mir, du liebst mich noch, was habe ich noch zu verzeihen, da Gott mir soviel Glück schenkt?«
Der Leutnant näherte leicht seine Lippen ihrer Stirn, als fürchte er, diese zarte, in seinen Armen schwankende Gestalt zu berühren, und lange standen beide schweigend aneinander geschmiegt, während Fritz Deyke und seine Frau glücklich und stolz zu ihnen hinüberblickten.
»Arme Helene,« sagte Herr von Wendenstein, sanft ihr Gesicht emporhebend, »wie sehr hast du gelitten! Warum hat man mir nicht früher geschrieben, wie krank du warst, ich hätte allem getrotzt und wäre sofort gekommen.«
»Ich habe gelitten,« sagte Helene mit mildem Lächeln, – »das ist jetzt vorüber – ich bin glücklich, und jetzt bitte ich Gott, mein Leben zu erhalten, mit dem ich schon abgeschlossen hatte.«
In düsterem Schweigen blickte Herr von Wendenstein vor sich nieder.
Helenens zarter Körper begann zu zittern, mit aller Kraft versuchte sie einen Hustenanfall, der sie erfaßte, zu unterdrücken, aber es gelang ihr nicht, in konvulsivischer Erschütterung erbebte sie, und sich schnell von ihrem Geliebten losmachend, sank sie in ihrem Stuhl zusammen, während röchelnde Töne aus ihrer schwer atmenden Brust hervordrangen.
Die junge Frau Deyke eilte heran und stützte sorgsam den Kopf Helenens mit ihren Händen, während Herr von Wendenstein einige Schritte davon auf seine Kniee niedersank und mit Blicken voll Schmerz, Angst und Liebe die Krisis verfolgte.
Herr Pastor Berger trat in diesem Augenblick in das Zimmer, hoffnungsvolle Freude strahlte von seinem Gesicht. Hinter ihm erschien die Gestalt des Grafen Rivero mit Fräulein Julia im dunklen Reiseanzug.
Alle drei blieben bei dem Anblick des mit dem Krampfhusten ringenden jungen Mädchens einen Augenblick in der Tür stehen. Tiefe Teilnahme erschien auf Julias schönen Zügen.
Der Pastor warf einen fragenden, sorgenvollen Blick auf den Grafen Rivero, welcher scharfen und forschenden Auges zu Helenen hinübersah und dann rasch zu ihr herantrat. Seinem gebieterischen Wink folgend trat Frau Deyke zurück. Er stützte den Kopf der Kranken in die eine seiner Hände und legte die andere auf ihre Brust, sorgsam die Bewegungen derselben beobachtend.
»Ein Glas Wasser!« rief der Graf.
Frau Deyke eilte hinaus und kehrte nach wenigen Augenblicken mit einem Kristallkelch voll frischen Quellwassers zurück.
Der Graf zog ein Etui hervor und ließ aus einem kleinen Fläschchen einige Tropfen in das Wasser fallen, welche dessen Farbe und Klarheit nicht veränderten. Dann näherte er das Glas dem Munde Helenens, so daß sie über dessen Inhalt hinatmen mußte.
Nach kurzer Zeit ließen die krampfhaften Hustenanfälle nach. Nach einigen tiefen, ruhigen Atemzügen lehnte sie sich bleich und erschöpft, aber freundlich lächelnd in ihren Stuhl zurück.
»Für diesmal ist es vorüber«, sagte der Graf, sich zu dem Pastor wendend, indem sein Blick tiefernst und sorgenvoll noch immer auf der Kranken ruhte. »Ich hoffe, wir werden bald dieser bösen Anfälle Meister werden«, fuhr er fort, indem er seinen Zügen einen heitern, zuversichtlichen Ausdruck gab. »Ich werde morgen eine ernste Kur beginnen, für heute ist nichts mehr zu besorgen, und die Freude des Wiedersehens wird das ihrige zur Hebung der gesunkenen Kräfte tun.«
Helene hatte sich mehr und mehr erholt. Mit einer matten Bewegung streckte sie Herrn von Wendenstein die Hand entgegen, welcher rasch aufstand und diese bleiche, abgemagerte Hand zärtlich an sein Herz drückte.
Dann zog man den Lehnstuhl der Kranken an den großen Tisch in der Mitte des Zimmers.
Frau Deyke, welche die wirtschaftliche Einrichtung des Pfarrhauses kannte, eilte hinaus, und bald stand der dampfende Samowar in der Mitte des Tisches, umgeben von allen jenen kleinen vortrefflichen kalten Fleischgerichten, an denen die ländlichen Wirtschaften Niedersachsens so reich sind.
Helenens Gesicht war von stiller Glückseligkeit verklärt. Herr von Wendenstein saß neben ihr. Julia hatte an ihrer andern Seite Platz genommen. Die beiden jungen Mädchen hatten wenig miteinander gesprochen, aber ein Zug tiefer Sympathie hatte vom ersten Augenblick an sie miteinander verbunden.
Der Pastor hatte darauf bestanden, daß Fritz Deyke und seine Frau, welche sich bescheiden hatten entfernen wollen, bei ihm blieben, und mit einer gewissen Verlegenheit, doch aber stolz und glücklich saß der junge Bauer da an dem Tisch, fortwährend mit liebevoller Teilnahme den Leutnant anblickend, den er wieder zurückgebracht, und dessen Erscheinen die lange Zeit des Kummers und der Sorge in diesem Hause so schnell geendet hatte.
»Ich weiß nicht, wie ich Ihnen danken soll, Herr Graf,« sagte der Pastor, »daß Sie aus der großen, glänzenden und bewegten Welt hier in diese stille, abgeschiedene Einsamkeit gekommen sind, um die Heilung meines Kindes zu unternehmen. Wenn Gott Ihr Werk segnet, so machen Sie viele Herzen glücklich, und dies Bewußtsein«, sagte er einfach und ruhig, »wird Sie höher belohnen, als mein Dank es vermag.«
Der Graf, dessen Blicke fortwährend prüfend und beobachtend auf Helene ruhten, drückte die Hand des alten Herrn und sprach mit tiefem Ernst:
»Ich bin der Freund des Herrn von Wendenstein, und ich habe gegen ihn eine ernste Pflicht zu erfüllen. Der Himmel gebe meinem Werk seinen Segen, denn ich würde«, fügte er, den Kopf auf die Brust senkend, kaum verständlich hinzu, »wohl schwer wieder Ruhe finden, wenn es mir nicht gelänge, dieses Leben zu retten. Doch,« fuhr er dann fort, »Sie müssen noch heute abend mit dem Herrn von Wendenstein zu dem Amtsverwalter gehen, um demselben die Ankunft unseres jungen Freundes anzuzeigen. Er ist in contumaciam wegen Hochverrats verurteilt, er hat ein Recht, seinen Prozeß wieder aufnehmen zu lassen, ich bin überzeugt, daß derselbe mit seiner Freisprechung oder Begnadigung endigen wird. Der Oberamtmann von Wendenstein, welchen ich in Hannover gesprochen, wird morgen hieher kommen und jede geforderte Kaution stellen, um seinen Sohn von der Untersuchungshaft zu befreien, von welcher man auch ohnehin, wie ich glaube, unter den gegenwärtigen Verhältnissen Abstand nehmen wird. Brechen Sie sogleich auf. Ihre Tochter bedarf ohnehin nach dieser Aufregung der Ruhe und Einsamkeit, um ihre Kräfte zu sammeln. Kann ich mit meiner Tochter ein Unterkommen in Ihrem Hause finden?« fragte er, »wir werden Sie so wenig als möglich stören. Herr von Wendenstein hat bereits in dem Hause unseres Freundes Deyke seine Wohnung aufgeschlagen.«
»Und er soll sie, so Gott will, nicht eher wieder verlassen,« rief Fritz lebhaft, »bis das junge Paar in seine eigene Häuslichkeit zieht, denn nun wird es ja mit der Genesung von Fräulein Helene schnell gehen, und wenn dann der unglückliche Prozeß beendet ist, werden wir eine Hochzeit feiern, so lustig und fröhlich, wie sie das alte Wendland lange nicht gesehen.«
Der Graf blickte bei diesen Worten trübe und schmerzlich zu Helenen hinüber. Dann stand er auf, der Pastor erhob sich ebenfalls. Der Leutnant nahm Helene sanft und vorsichtig in seine Arme und flüsterte ihr leise zu:
»Auf Wiedersehen morgen, meine Geliebte! Träume von mir.«
Dann ging er mit dem Pastor zu dem alten Amtshaus, in welchem noch immer Herr von Klenzin die Stelle versah, welche einst sein Vater seither innegehabt.
Mit eigentümlichen Gefühlen betrat der junge Mann den Vorplatz, auf dem sonst die alten Eichenschränke gestanden hatten, welche die Leinenschätze seiner Mutter enthielten. Tiefbewegt durchschritt er die Zimmer, welche damals so traulich und behaglich waren, an welche alle Erinnerungen seiner Kindheit sich knüpften, und die jetzt, nur notdürftig möbliert, fast leer standen, bis zu den ehemaligen Wohnräumen seines Vaters, in welchen der neue Verwalter des Amts sich installiert hatte.
Leicht wurde die geschäftliche Angelegenheit geordnet. Herr von Klenzin erklärte mit entgegenkommender Freundlichkeit, daß das freiwillige Erscheinen des Herrn von Wendenstein ihm Bürgschaft dafür biete, daß derselbe sich nicht durch die Flucht der Wiederaufnahme seines Prozesses entziehen werde, und daß er daher keine Veranlassung zu seiner Verhaftung finde. Er sprach in herzlicher Weise seine Freude darüber aus, daß der Leutnant wieder in die geordneten Verhältnisse seiner Heimat zurückkehre.
Dann begaben sich der junge Mann und Fritz Deyke zu dem Hause des Bauermeisters, wo ihm ein behagliches, mit allem irgend herzustellenden städtischen Komfort ausgestattetes Zimmer eingerichtet worden war.
Die junge Frau Deyke hatte inzwischen im Pfarrhause mit Hilfe der alten Dienerin zwei Zimmer für den Grafen Rivero und seine Tochter hergerichtet.
Als der Pastor zurückgekehrt war, um dem Grafen Rivero, der mit Julia noch bei Helenen im Wohnzimmer saß, den befriedigenden Erfolg seines Besuchs auf dem Amtshause mitzuteilen, trat der Kandidat, welcher nach seiner Unterhaltung mit Helenen in das Dorf hinabgegangen war, in das Zimmer, um, wie er zu tun gewohnt war, sich noch eine Stunde lang mit seinem Oheim zu unterhalten und demselben die Zeitungen und neuerschienenen Bücher vorzulesen. Er blieb erstaunt stehen, als er die Fremden erblickte, und hoch verwundert sah er den glückstrahlenden Ausdruck auf Helenens Gesicht, welche sich lebhaft und heiter mit Julia in französischer Sprache unterhielt.
»Mein Neffe und Adjunkt, wie ich hoffe, einst mein Nachfolger im Amt,« sagte der alte Pastor, indem er den jungen Geistlichen dem Grafen vorstellte, – »und hier der Graf Rivero und seine Tochter, – ein Freund des Leutnants, welcher mit diesem hierher gekommen ist, um durch seine Kenntnis der Medizin unsere liebe Helene zu heilen. Freue dich mit mir«, fuhr er fort, während der Graf sich artig verneigte, »über das Glück, welches Gott unserem Hause schenkt – der Leutnant ist wieder da, und wenn Helene nun wieder gesund wird, so wird all die schwere Trübsal vorüber sein, welche zu unserer Prüfung und Läuterung über uns verhängt wurde.«
Der Kandidat war einen Augenblick starr und unbeweglich stehen geblieben, kaum hatte er den Grafen und Fräulein Julia begrüßt.
»Der Leutnant von Wendenstein ist zurückgekommen?« stieß er heftig mit rauh klingender Stimme hervor, so daß Julia ihn betroffen ansah, während Helene ihre großen Augen mit kaltem und strengem Blick zu ihm hinwandte. »Das bestürzt mich,« sagte der Kandidat, indem sein Gesicht den gewöhnlichen ruhigen Ausdruck milder Freundlichkeit wieder annahm, – »Herr von Wendenstein ist wegen Hochverrats verurteilt, sein Erscheinen hier –«
»Alles ist in Ordnung,« rief der Pastor fröhlich, »er hat sich beim Amtsverwalter gemeldet und hat nichts zu besorgen.«
»Dann habe ich nur meine herzlichsten und innigsten Glückwünsche abzusprechen,« sagte der Kandidat, indem er vollkommen wieder gefaßt zu dem Tisch herantrat. »Möge Gott auch dem Herrn Grafen beistehen, damit es ihm bald gelinge, meiner teuren Cousine ihre volle Kraft und Gesundheit wiederzugeben.«
Bald trennte sich der kleine Kreis, da der Graf darauf bestand, daß Helene so schnell als möglich zur Ruhe gebracht werde, und Fräulein Julia ließ es sich nicht nehmen, ihre neue Freundin, für deren Schicksal und deren Leiden sie das tiefste Mitgefühl empfand, zu Bett zu bringen und ihr alle jene kleinen Dienste zu leisten, welche den von körperlichen Leiden ermatteten Kranken doppelt wohltuend berühren.
Und als sie sich dann in das kleine, für sie bestimmte, bescheidene Zimmer mit den weißen Gardinen und den einfachen Möbeln zurückzog und durch das Fenster ihre Blicke über die so stille und friedliche, von der zunehmenden Mondsichel beleuchtete Landschaft hingleiten ließ, da überkam es sie wie ein tiefer Frieden, hier in diesem stillen kleinen Hause unter den einfachen Menschen verschwand ihre Vergangenheit mit all' ihrem berauschenden Glück und all' ihren bittern Täuschungen wie ein ferner Traum.
Helene hatte ein ihr von dem Grafen bereitetes nervenberuhigendes und schlafbringendes Mittel genommen, sanft und leise lösten sich ihre Gedanken in den sie immer mehr und mehr umhüllenden Schlummer auf. Sie hatte die Hände über der Brust gefaltet und sprach leise, kaum noch die Lippen bewegend:
»Jetzt, mein Gott, laß mich leben, da mein Leben seine Blüte wieder gefunden hat.«
Dann wurden ihre Atemzüge tiefer und tiefer, und der feste Schlaf, dieser süßeste Balsam aller Leidenden und Unglücklichen, trug sie in seinen Armen fort in das Reich der Träume.