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Die Hitze des Sommers hatte der Landschaft in Blechow im alten hannöverischen Wendlande früh eine herbstliche Färbung gegeben. Die hohen Bäume, welche das alte Schloß und Amtshaus umgaben, waren bereits mit zahlreichen gelblichen Blättern bedeckt und die Föhrenbäume im Walde hatten schon jenes tiefdunkle Grün angenommen, welches in der Zeit des Frühlings und des ersten Sommers lichteren Schattierungen Platz macht.
Die Bauern des Dorfes waren hinausgezogen, um die letzten Feldfrüchte einzuführen, – still lag das Dorf da im schräg herabfallenden Strahl der Nachmittagssonne, – und auf den weiten Feldflächen sah man die jungen Burschen und Mädchen in voller Arbeit unter Aufsicht und Leitung der älteren Bauern.
Das alte Amtshaus lag düster und ernst auf seiner leicht ansteigenden Höhe, – der Amtsverwalter Herr von Klentzin führte dort ein einsames und wenig abwechselndes Leben. Seine Gerechtigkeit, seine Verwaltungstüchtigkeit, sein freundliches Wohlwollen gegen jedermann, die Achtung, welche er stets für das früher Bestandene zu erkennen gab, hatten ihm wohl das Vertrauen und die persönliche Zuneigung der Bevölkerung eingebracht, – aber er war doch immer ein Vertreter der neuen Herrschaft, – die Erinnerung an die Vergangenheit, – an den alten Oberamtmann und sein fröhliches gastliches Haus war nicht so leicht verschwunden aus den Herzen der zähen Wenden, welche ihre alte Eigenart, ihren zurückhaltenden Trotz, hier auf dem niedersächsischen Boden nur noch verstärkt zu haben schienen. Man grüßte den Amtsverwalter ehrerbietig, ja freundlich, wenn man ihm begegnete, – man fügte sich willig seinen Anordnungen, deren Zweckmäßigkeit man anerkannte und für deren milde und schonende Form man ihm Dank wußte, – aber das war alles, – niemals fiel es einem der Bauern ein, sich – wie zur Zeit des Oberamtmanns von Wendenstein – auf dem Amte Rat zu erholen und das Wohl und Wehe des Hauses und der Familie seinem entscheidenden Urteil zu unterwerfen, – die ganze Verwaltung behielt den Charakter des Bureaukratischen, – jenes alte patriarchalische Regiment, welches nach den früheren hannöverischen Traditionen der alte Oberamtmann zu erhalten gewußt hatte, war verschwunden, – die neue Regierung ordnete das öffentliche Leben – und sie ordnete es zur Zufriedenheit der Amtseingesessenen, – aber sie blieb dem Herzen des Volkes fremd, – jene Gemeinsamkeit der Auffassungen – der Interessen – der Erinnerungen bestand nicht mehr, welche nur eine Frucht langjährig entwickelter, historisch erwachsener Verhältnisse sein kann.
Der Pastor Berger und der alte Deyke, der noch immer mit Rüstigkeit und Energie die Würde des Baumeisters begleitete, waren die einzigen, welche dem Amtsverwalter näher getreten waren, welche seine politische Stellung vollkommen begriffen und dieselbe vollständig von seinen menschlichen Eigenschaften zu trennen wußten. Beide waren vollkommen durchdrungen von der Überzeugung, daß an den geschehenen Dingen niemals etwas zu ändern sein würde, und daß die zur Geschichte gewordene Tatsache zum Wohle aller so gut als möglich mit den früher bestandenen Verhältnissen in Einklang gesetzt werden müsse, damit wenigstens die künftigen Generationen wieder zum Genusse des inneren wohltätigen Friedens und des freien Vertrauens zwischen Volk und Regierung gelangen möchten, – aber auch diese beiden Personen standen mit ihren Gefühlen, mit ihren liebsten und teuersten Erinnerungen in der Vergangenheit, – von diesen Erinnerungen scheuten sie sich mit dem Beamten der neuen Regierung zu sprechen, und wenn sie das Amtshaus betraten, so war es ihnen unmöglich, den traurig schmerzlichen und peinlichen Eindruck zu verbergen, den das Wiedersehen dieser Räume unter so veränderten Verhältnissen in ihnen hervorbrachte. So war auch mit diesen Personen der Verkehr des Herrn von Klentzin ein seltener und immerhin ernster und trauriger geblieben, denn der neue Amtsverwalter achtete ihre treue Anhänglichkeit an die Erinnerungen der Vergangenheit, welche ihn sympathisch berührte, – und fühlte wohl, daß bei allem persönlichen Vertrauen diese Erinnerungen immer eine nicht zu übersteigende Scheidewand zwischen ihnen bilden müßten. Dazu kam, daß Kummer und Sorge in das stille Pfarrhaus eingezogen waren. Unverändert wie sonst blühten die Blumen auf den kleinen, sauber und sorgfältig gepflegten Beeten des Pfarrgartens, welche mit ihrer Einfassung von dunkelgrünem, glatt geschnittenem Buchsbaum so freundlich dalagen neben den geraden, mit gelbem Sand bestreuten Wegen. Aber der Geist der Heiterkeit und des Frohsinns, der einst diese bescheidenen Räume erfüllte, war aus ihnen gewichen.
Helene war zu ihrem Vater zurückgekehrt, nachdem sie mit dem Oberamtmann von Wendenstein in Wien gewesen war, – sie hatte sich zurückgesehnt nach der alten Umgebung ihrer Kindererinnerung, um mit ihren Gedanken sich auch an die äußeren Zeichen glücklicher, vergangener Tage anlehnen zu können, – auch hatten die Ärzte für ihren immer ernster und bedenklicher auftretenden Husten ihr die Landluft und die von Jugend auf gewohnte Lebensweise verordnet. Auf kurze Zeit war nach ihrer Rückkehr ins Vaterhaus auf ihrem bleichen, still freundlichen Gesicht wieder ein Schimmer kindlicher Heiterkeit erschienen – sie hatte die Pflege ihrer Blumen wieder begonnen, sie hatte ihre alten Lieblingsplätze auf den Wiesen und an den Waldabhängen wieder aufgesucht, – träumerisch, aber mit glücklichem Lächeln war sie einhergegangen, – sprachen ihr doch alle diese vertrauten Plätze von den harmlos fröhlichen Tagen ihrer Kindheit und von der allmählich aus den Tiefen ihres Wesens hervorkeimenden Liebe, welche sich endlich hier an dieser selben Stelle zu so schöner, beglückender Blüte entfaltet hatte, zu einer Blüte voll süßen, berauschenden Duftes, – die freilich wieder von den Stürmen der Zeit so hart getroffen war, darum aber nicht minder duftig und rein in ihrem Herzen weiter blühte.
Dann aber war jener flüchtige Schimmer von Gesundheit und Glück wieder verschwunden, – immer durchsichtiger wurde ihr blasses, von seinen bläulichen Adern durchzogenes Gesicht, – immer magerer und zarter erschien ihre Gestalt, – immer dunkler und brennender leuchteten ihre tief eingesunkenen großen Augen, – immer wehmütiger und trauriger wurde der leidende Zug um ihren Mund, und nur mit Mühe und oft anhaltend stieg sie nach ihren Spaziergängen die kleine Höhe zum Pfarrhause hinauf. Sie erhielt in ziemlich regelmäßigen Zwischenräumen Briefe von ihrem Verlobten aus Paris, – jedesmal, wenn der Landpostbote einen solchen Brief brachte – mit freundlich verständnisvollem Lächeln erwartend, daß ihm eine kleine Extrabelohnung für seine Botschaft gegeben werde, – flog ein Schimmer von Glück und Freude über das kranke Gesicht des jungen Mädchens, – sie eilte in ihr Zimmer, öffnete hastig den Brief und drückte das Papier, welches ihr Nachrichten von ihrem Geliebten brachte, an die Lippen. Wenn sie dann den Brief las, – jedes Wort mit den Blicken verzehrend, dann waren in der letzten Zeit oft trübe Schatten über ihr Gesicht gezogen, und die großen brennenden Augen hatten sich trübe in feuchte Schleier gehüllt.
Die Briefe enthielten wenig, gar so wenig über das Leben des jungen Mannes, das sie doch so gerne in seinem ganzen Gange täglich und stündlich verfolgt hätte, – er schrieb ihr zwar, daß er aus Besorgnis, seine Briefe könnten in falsche Hände geraten, sehr vorsichtig in seinen Mitteilungen sein müsse, – aber sie sagte sich, daß er ihr doch mehr über sein rein persönliches Leben, seine Eindrücke, seine Gedanken und Empfindungen mitteilen könne, – und dann fühlte sie aus seinen Briefen nicht mehr jene innige Liebe, jene Herzlichkeit heraus, welche sich oft in wenigen unwillkürlich gewählten Worten deutlicher und verständlicher ausdrückt, als in ganzen wohlstilisierten Sätzen. Es wehte sie aus den Worten, welche sie mit der glühenden Sehnsucht ihrer ganzen Seele las, eine gewisse Kälte, ein fremder Geist an, – sie sah zwischen den Zeilen nicht das Antlitz ihres Geliebten, wie er in ihrer Erinnerung lebte, – sie sah fremde Züge, und oft schloß sie die Augen, um sich das geliebte Bild, wie sie dasselbe vor sich gesehen, wieder hervorzurufen; aber durch die geschlossenen Augenlider drangen, erst langsam perlend, dann stärker und stärker hervorbrechend, heiße Tränen und fielen auf das Papier nieder. – Es ist eine eigentümliche Sache um einen Brief, der einem einsamen, stillen Leben Nachrichten von fernen Lieben bringt. Diejenigen, welche im bewegten Treiben der Welt und ihrer Zerstreuungen leben, denken nicht daran, welche Wohltat sie einem Herzen, das den ganzen Tag mit seinen Gefühlen, mit seinem Sehnen allein ist, durch einen ausführlichen, herzlichen Brief machen, – und wie die Stunde, welche sie dazu verwenden, tagelang Freude bereitet und das dunkle einsame Leben vergoldet. Jedes Wort gewinnt da seine Bedeutung, jede Zeile wird wieder und wieder gelesen und ausgelegt, – und wenn das sein und verständnisvoll empfindende Herz darin den magnetischen Zug der Liebe fühlt, so trägt sie Sonnenschein und Wärme in die traurige Einsamkeit. – Um so erkältender, schmerzlich verwundender wirkt aber auch die Gleichgültigkeit des langersehnten, endlich anlangenden geschriebenen Wortes, – und wie nach dem Glauben der Orientalen ein Engel jeden Wassertropfen in das Buch der Verdienste aufzeichnet, den man über eine verschmachtende Blume gießt, – so wird gewiß der Genius der Liebe und Barmherzigkeit jedes freundliche, herzliche und liebevolle Wort verzeichnen, das einem einsamen, sehnsuchtsbangen Herzen Kunde und Gruß von denen bringt, die im Getümmel der Welt dahingetrieben werden.
Der Pastor Berger war stark gealtert. Sein Haar war mehr und mehr erbleicht, seine Haltung gebrechlicher geworden und auf seinem früher so frisch und fröhlich blickenden Gesicht hatte die Trauer über die Zeitereignisse ihre tiefen schmerzlichen Linien eingegraben. Dennoch blickte sein gutes, treues und offenes Auge in stiller und ergebener Heiterkeit in die ewig gleiche Natur hinaus und zum Himmel empor – dieser großen und unerschöpflichen Quelle der Tröstung über alles vorüberziehende Leid des irdischen Lebens. Nur wenn er das leidende, bleiche Gesicht seiner Tochter sah, wenn er ihren quälenden Husten hörte und ihrem unsichern, matten Gang folgte, – dann richtete sich sein sorgenschwerer Blick wohl mit schmerzlicher, fast vorwurfsvoller Frage nach oben, – bald aber erschien wieder der Ausdruck frommer, gläubiger Ergebung auf seinem Gesicht, und mit liebevoller Sorgfalt suchte er seine unruhige Bekümmernis vor seiner Tochter zu verbergen.
Er versah nach wie vor die Pflichten seines Amtes, – er predigte am Sonntagvormittag noch immer mit der alten kernigen, einfachen Kraft und Klarheit, aber seine körperliche Kraft wollte nicht mehr ausreichen zu den früher gewohnten Gängen in die Gemeinde, und einen großen Teil seines Hirtenamtes persönlicher Seelsorge in den Familien hatte er dem Kandidaten überlassen, der sich mit Eifer dieser Tätigkeit unterzog und unermüdlich war, die Häuser der Bauern zu besuchen und Trost und Rat den Bedürftigen zu bringen. Er sprach freundlich, würdevoll und verständig mit den einfachen, natürlichen Menschen, – er bekümmerte sich um alle ihre Verhältnisse, und wenn er seinem Oheim Bericht erstattete über das, was er gesagt und getan, so nickte dieser zufrieden und einverstanden mit dem Kopf oder sprach einige kurze Worte der Billigung, – dennoch wollte das rechte Vertrauen der Gemeinde dem jungen Geistlichen nicht entgegenkommen, und seit der alte Pastor seltener die Häuser der Bauern besuchte, kamen diese zahlreich und häufig zu ihm, um in seinem Zimmer vor seinem Lehnstuhl stehend, ihm vorzutragen, was sie bewegte und bekümmerte, – es dränge doch mehr zum Herzen, sagten sie, was der Herr Pastor zu ihnen spräche; – was der Herr Adjunkt ihnen sagte, das wäre wohl recht und gut, – sie verständen es auch, – aber es würde ihnen nicht so recht warm dabei.
Der Kandidat lebte ruhig und still in dem kleinen Kreise. Er besuchte die Gemeinde, – er predigte am Sonntagnachmittag, – er studierte in seinem Zimmer, – er las abends seinem Oheim vor und unterhielt sich mit ihm, – nur ehrerbietig und vorsichtig seine Meinung äußernd über die Gegenstände der Lektüre, – er war voll Aufmerksamkeit und liebevoller Rücksicht gegen den alten Herrn.
Mit Helene sprach er wenig, aber herzlich und freundlich – doch vermied er geflissentlich, mit ihr allein zu sein, – das junge Mädchen dankte ihm im Stillen für diese zarte Zurückhaltung und versuchte, trotz eines inneren Widerstrebens, das sie von ihm zurückhielt, ihm in ihrem ganzen Benehmen schwesterliche Freundschaft zu zeigen.
Er war nach einer Abwesenheit von mehreren Wochen aus Frankreich zurückgekehrt, und seine Rückkehr hatte erhöhtes Interesse und regeres Leben in den kleinen Kreis gebracht. Er hatte einige Tage viel mit dem Amtsverwalter verkehrt, – dann war er nach Hannover gefahren, um, wie er sagte, Begnadigungsgesuche einiger Emigrierten zu überreichen und zu befürworten, und dann hatte er sich mit Eifer und Anstrengung wieder der Erfüllung der Pflichten seines Amtes hingegeben.
Als er zurückkehrte, hatte er Briefe von dem Leutnant von Wendenstein mitgebracht, und auf die Frage seines Oheims – Helene hatte keine Frage an ihn gerichtet – kurz und einfach geantwortet, daß Herr von Wendenstein sich wohlbefinde, – dann hatte er viel von den Emigranten und ihrem Leben erzählt, – hatte den ernsten Geist gerühmt, der unter ihnen herrschte, – er beschrieb und schilderte klar und lebendig alles, was er auf seiner Reise gesehen hatte, und diese Erzählungen bildeten längere Zeit den vorzüglichsten Gesprächsstoff, wenn der kleine Kreis im Pfarrhause abends beisammen saß, der alte Herr behaglich im Lehnstuhl seine Pfeife rauchend und Helene mit einer Arbeit beschäftigt, die sie oft in sinnendem Nachdenken auf ihren Schoß niedersinken ließ. Bei allen Erzählungen des Kandidaten, bei allen Ereignissen, die er berührte, erwähnte er jedoch niemals des Leutnants von Wendenstein, und wenn der Pastor bei dieser oder jener Gelegenheit ausdrücklich nach dem Verlobten seiner Tochter fragte, so ging der Kandidat schnell mit einigen oberflächlichen Worten und mit einem eigentümlichen, halb beobachtenden, halb bedauernden Seitenblick auf seine Cousine über diese Frage hinweg.
Helene fühlte diesen Blick, auch wenn sie die Augen auf ihre Arbeit gesenkt hatte, und ein wunderbar banges, angstvolles Gefühl überkam sie jedesmal bei der Erwähnung ihres Geliebten, – doch erklärte sie sich das Hinweggleiten des Kandidaten über ihn und alles, was ihn betraf, durch die früheren Vorgänge, welche natürlich ein peinliches Gefühl zurückgelassen haben mußten.
So war das Leben einförmig und ruhig dahingegangen, – die frischere Herbstluft hatte die Gesundheit des Pastors gekräftigt, während sie umgekehrt die Schwäche und Mattigkeit des jungen Mädchens vermehrt hatte, – der alte Herr ging öfter als früher in das Dorf hinab, um die einzelnen Mitglieder seiner Gemeinde in alter Weise zu besuchen – seine Tochter aber blieb mehr als sonst zu Hause, da ihr die Bewegung in der kühleren und schärferen Luft häufigere und schmerzlichere Hustenanfälle verursachte.
An einem Nachmittage, als der Pastor ausgegangen war, saß Helene allein vor ihrem Arbeitstisch am offenen Fenster des Wohnzimmers, sie saß auf demselben Platz, von welchem sie sonst vorzeiten, welche noch nicht so weit entfernt waren nach der Zahl der Wochen und Monate, welche ihr aber wie durch einen unausfüllbaren Abgrund von dem Heute getrennt zu sein schienen – hinausgeblickt hatte nach der Wendung des Weges am Waldessaum, mit unbewußt klopfendem Herzen spähend, bis aus dem Schatten der Föhrenwaldung der schöne Kopf und Hals eines Pferdes erschien, – dann eine blaue Uniform, – ein freundlich heraufblickendes, jugendfrisches Gesicht, – dessen Gruß sie schnell aufspringend mit glücklichem Lächeln erwidert hatte.
Auf diesem selben Platz hatte sie gesessen, als er zu ihr gekommen war, um aus ihren Augen die Antwort zu lesen auf die Frage, die aus seinem Herzen heraus auf seine Lippen trat, – hier hatte sie zum erstenmal seine Lippen auf den ihrigen gefühlt, zum erstenmal ihren Kopf in stiller Seligkeit an seiner Schulter ruhen lassen. An diese vergangenen Tage dachte sie in glücklicher Erinnerung, – diese ganze Umgebung, – die Natur in Wald und Feld war so unverändert sich gleich geblieben, – die Herbstblumen blühten so freundlich wie früher im kleinen Garten, und der gelbrote Schein der sinkenden Sonne lag so friedlich über dem ganzen einfach stillen Bilde, das sich vor dem geöffneten Fenster zeigte, daß sie auf Augenblicke völlig die Zeit vergaß, welche sie von den glücklichen Tagen der Vergangenheit trennte und wie damals den Blick nach dem Waldrande richtete, als müsse dort ein liebes Bild sich zeigen.
Dann aber rang sich ein tiefer, schwerer Seufzer aus ihrer Brust – das alles lag ja so weit zurück, – so fern, – und diese lichten Erinnerungen stimmten so wenig mit den Verhältnissen von heute, – es war wie der Strahl eines Sterns, der durch eine Öffnung dunkler Wollen zu uns herabschimmert.
Helene öffnete ein Schubfach ihres Arbeitstisches und zog einen Brief daraus hervor, den sie langsam durchlas, – das Papier zeigte, daß sie es schon oft in ihrer Hand gehalten, daß ihr Blick schon oft auf diesen Schriftzügen geruht hatte, – ihr Auge folgte mit trübem, schmerzlichem Ausdruck den Zeilen, – langsam schüttelte sie den Kopf, und mit einem matten, wehmütigen Lächeln legte sie dann das Papier wieder zurück.
»Das ist nicht die Sprache,« flüsterte sie leise, »in der er früher zu mir gesprochen, – es weht mich an aus diesen Worten wie ein eisiger Hauch, – o mein Gott!« rief sie schmerzlich, indem ihr Auge sich mit Tränen füllte, »warum hat es so kommen müssen, – warum hat das gewaltige Völkerschicksal, das die Zepter zerbrach und die Kronen von den Häuptern der Könige schlug, – warum hat es trennend und zerstörend in mein armes kleines Leben eingreifen müssen, – warum hat der Strahl, der die mächtigen Eichen zersplitterte, auch die stille Liebesblüte meines Lebens getroffen, die nichts anderes verlangte, als unbeachtet und friedlich in dunkler Verborgenheit weiterzuleben?«
Sie senkte das Haupt auf die Brust, – langsam rannen einzelne Tränentropfen über ihre bleichen, eingesunkenen Wangen.
Ihre Brust begann unruhig zu arbeiten. Ein trockener Husten erschütterte ihre ganze Gestalt, – sie drückte mit der mageren, durchsichtigen Hand ihr Taschentuch an die Lippen, dann sank sie matt in ihren Stuhl zurück, indem sie in tiefer Erschöpfung mühsam Atem holte.
Langsam öffnete sich die Tür des Zimmers.
Helene richtete sich empor, – mit einem gewissen Erstaunen sah sie den Kandidaten eintreten.
Sie zwang ein freundliches Lächeln auf ihre Lippen und sprach mit matter Stimme:
»Ich glaubte, du hättest den Vater begleitet, Vetter, – er ist in das Dorf hinabgegangen.«
»Er war allein ausgegangen,« sagte der Kandidat mit leiser, sanfter Stimme, – »ohne daß ich es wußte – darum habe ich ihn nicht begleiten können.«
Er zog einen Stuhl in die Nähe des Arbeitstisches seiner Kusine und setzte sich langsam und ruhig nieder.
Helene sah ihn verwundert an, – sie war es nicht gewohnt, daß er eine Unterhaltung mit ihr suchte, – wie mechanisch ergriff sie ihre Arbeit und zog einen Faden in die Nadel.
»Ich habe lange schon mit dir sprechen wollen,« sagte der Kandidat, indem sein Blick fest und durchdringend sich auf sie heftete, – »um vieles auszusprechen, was mich bewegt und was ich mich verpflichtet halte, dir zu sagen.«
Wiederum blickte sie ihn erstaunt – fast ängstlich an, – sie begriff nicht, was er mit ihr sprechen wollte, – fast unmerklich neigte sie den Kopf.
»Du bist unglücklich, Helene,« sprach er mit sanfter Stimme, – »du leidest, – und das bekümmert mich – um so mehr,« fuhr er die Augen niederschlagend fort, – »als ich glaube, daß du dich in vergeblicher Sehnsucht verzehrst.«
Sie sah ihn starr an. Eine stolze, abwehrende, fast verächtliche Kälte lag in ihrem Blick.
»Ich habe mich von dir ferngehalten,« fuhr er fort, »seit ich gesehen, daß das Gefühl, das ich dir ausgesprochen, keine Erwiderung finden kann, – seit ich gesehen, daß die Neigung deines Herzens bereits einem andern gehörte, – ich habe gefühlt, daß jeder nähere Verkehr zwischen uns nur peinlich sein kann – und ich habe«, sprach er, die Hände ineinanderfaltend, »von Herzen und ohne Groll für dein Glück gebetet.«
Sie zuckte leise zusammen. Dann sah sie ihn mit treuherzigem Ausdruck an und sprach in flüsterndem Tone:
»Ich danke dir dafür.«
»Doch«, sprach er weiter, – »habe ich darum nur ein um so größeres Interesse daran, daß das Gefühl deines Herzens, das du mir nicht gewähren konntest, – Dich wirklich glücklich mache, – daß es nicht unwürdig getäuscht werde.«
Er schlug das Auge mit scharfem, durchdringendem Blick zu ihr empor – ihre Arbeit zitterte leicht in ihrer Hand, dann aber sah sie ihn stolz und kalt wie vorher an und sprach mit festem Ton:
»Das kann niemals geschehen!«
»Und doch geschieht es,« erwiderte er, indem ein Zug von fast feindlicher Härte einen Augenblick auf seinem Gesicht erschien, – dann aber sogleich wieder dem Ausdruck geistlicher Ruhe und Sanftmut Platz machte.
»Helene,« fuhr er fort, während sie ihn groß und starr ansah, – »je treuer und wärmer das Gefühl ist, das ich für dich im Herzen trage, um so schärfer beobachte ich alles, was dein Glück, – was deine Liebe betrifft,« fügte er leise hinzu, – »und seit lange schon habe ich gesehen, daß nicht alles so ist, wie es sein sollte, – du leidest, – du leidest geistig und körperlich, – du zweifelst an der Treue deines Geliebten.«
Sie richtete den Kopf hoch empor. Eine lebhafte, scharf abgegrenzte Röte erschien auf ihren blassen Wangen.
»Mit welchem Recht –« sagte sie lebhaft.
»Mit dem Recht eines treuen Freundes«, fiel er ein, »habe ich das alles beobachtet, – eines Freundes, der seine Wünsche und Hoffnungen deinem Glück zu opfern bereit war, – der aber«, sagte er mit rauhem Ton, »die Gefühle, die du mir nicht geben konntest, – an keinen Unwürdigen weggeworfen sehen will, – eines Freundes, der es für seine Pflicht hält, dir die Augen zu öffnen, solange es noch Zeit ist, damit du dich von einer Illusion losreißen mögest, welche dein gegenwärtiges und künftiges Glück zerstört.«
Sie zitterte konvulsivisch – aus ihrem kalt abwehrenden Blick brach es wie eine Frage banger Todesangst hervor, und mit mühsam zu ruhigem Ton gedämpfter Stimme sprach sie:
»Du beschuldigst Abwesende, – du klagst an, wo eine Verteidigung unmöglich ist, – das ist nicht edel von dir, – das ist kein Beweis deiner Freundschaft für mich.«
Er schwieg einen Augenblick, – seine Züge drückten innige und herzliche Teilnahme aus, während seine Blicke kalt und scharf den Eindruck seiner Worte beobachteten.
»Es ist mein Beruf,« sagte er langsam und salbungsvoll, »den Zustand der Seelen, die Gefühle der menschlichen Herzen zu beobachten, – und ich habe, wie ich dir gesagt, lange gesehen, daß du selbst von Zweifeln gequält wurdest. Als ich nach Frankreich kam, habe ich mir zur Aufgabe gemacht, über die Zweifel, welche dein Herz bedrückten, mir Gewißheit zu verschaffen, – und ich habe,« fuhr er mit dumpfem Ton fort, – »ich habe die Gewißheit gewonnen, daß deine Liebe getäuscht – unwürdig betrogen wird, – daß der Gegenstand deiner Sehnsucht dich vergessen hat und in seinen Briefen an dich ein Gefühl heuchelt, welches einer anderen gehört.«
Sie legte ihre zitternde Hand auf den Tisch, wie um sich zu halten, – sah ihn starr an und sagte mit einer fast rauh klingenden Stimme:
»Das ist eine Lüge, – eine grundlose Verleumdung!«
Die Gesichtszüge des Kandidaten verzerrten sich einen Augenblick, – um seine dünnen, bleichen Lippen zuckte ein häßliches, höhnisches Lächeln, – ein stechender Blick schoß aus seinen plötzlich in zitterndem Feuer aufblitzenden Augen, – aber fast ebensoschnell verschwand dieser Ausdruck leidenschaftlicher Erregung wieder, und kalt und ruhig, wie vorher sprach er mit gedämpftem Ton:
»Ich verzeihe dir diese Kränkung, Helene, – deine Aufregung ist natürlich, – glaube mir, daß es mir schwer genug wird, dir Schmerz zu bereiten, – aber dein Glück, deine Zukunft steht auf dem Spiel, – besser ist es, ein Gefühl, das dich elend, unglücklich machen muß, mit einemmal, wenn auch mit schneidendem Schmerz, aus dem Herzen zu reißen, – als daß dich der Kummer und die langsame Enttäuschung allmählich aufreibt, – ich habe es deshalb für meine Pflicht gehalten, dir die Wahrheit zu sagen, – und was ich dir gesagt, ist die Wahrheit«, fügte er mit festem und bestimmtem Ton hinzu.
Sie holte mühsam Atem, – fast mit röchelndem Ton stieg die Luft aus ihrer schwer arbeitenden Brust herauf, – sie schwankte leicht hin und her, – fester drückte sich ihre Hand auf den Tisch, – gewaltsam hielt sie sich gerade aufgerichtet.
»Man klagt die Abwesenden nicht an,« sagte sie, – »ohne die Anklage beweisen zu können.«
»Du verlangst Beweise,« erwiderte er, indem ein schneller Blick wie die Spitze eines Dolches das in innerer Qual zuckende Gesicht des jungen Mädchens traf, – »hier ist ein Beweis, der dich überzeugen wird!«
Rasch griff er in die Tasche, – aus einem großen Kuvert zog er eine Photographie in Kabinettsformat und legte dieselbe vor seiner Kusine auf den Arbeitstisch.
Sie senkte langsam den Blick auf das Bild. Es war jene Photographie, welche der Kandidat in Paris auf dem Tisch des Leutnants von Wendenstein gefunden hatte und welche den jungen Mann darstellte, wie er auf den Knien vor der Marchesa Pallanzoni lag, glühend emporblickend zu der schönen Frau, welche lächelnd das Haupt zu ihm herabneigte.
Die Augen Helenens öffneten sich weiter und weiter, in unnatürlicher Starrheit blickten sie auf das Bild vor ihr, als wollte ihr Blick jeden Zug desselben erfassen, jeden Zug dieses Bildes, das deutlicher sprach als lange Erzählungen, das mit einem Male alle bangen Zweifel ihres Herzens in so schrecklicher Gewißheit löste.
Eine dunkle Röte färbte einen Augenblick in scharfer Abgrenzung ihre Wangen, – unmittelbar darauf legte sich eine fahle Blässe über ihr Gesicht, – sie streckte die Hand aus, – ergriff das Bild und hielt es vor die Augen. Dann aber, wie von plötzlichem Entsetzen erfaßt, schleuderte sie es weit von sich, – ihre Lippen öffneten sich, als wollte sie sprechen, – aber es drang nur ein rauher, unverständlicher Laut aus denselben hervor, – noch einmal starrte sie mit einem fast wilden Blick unsäglicher Angst umher, dann schlossen sich ihre brechenden Augen, – ihr Gesicht nahm eine fast gelbe Farbe an, – sie preßte beide Hände auf die Brust, und aus ihrem Munde drang ein rötlicher Schaum, dem bald ein voller Blutstrom folgte – leblos sank sie gegen die Lehne ihres Stuhles zurück.
Der Kandidat stand schnell auf. Mit scharfem, ruhigem Blick betrachtete er das entstellte Gesicht Helenens. Dann nahm er das junge Mädchen in seine Arme, trug ihre zarte, so leicht und gebrechlich gewordene Gestalt auf das Kanapee im Hintergrunde des Zimmers und stützte ihren Kopf auf ein viereckiges Kissen, das mit Rosen und Vergißmeinnicht gestickt war, deren hellgefärbte Blüten eigentümlich gegen das totenfarbige Antlitz abstachen, das auf ihnen ruhte.
Einen Augenblick blieb er vor ihr stehen.
»Sollte es sie getötet haben?« flüsterte er vor sich hin.
Er hob die Photographie von der Erde auf, steckte sie wieder in seine Tasche, öffnete dann die Tür und rief die alte, in der naheliegenden Küche beschäftigte Magd des Pfarrhauses, welche ganz erschrocken herbeieilte und mit lautem Aufschrei zu dem Lager des jungen Mädchens hinstürzte.
»Meine arme Kusine hat ganz unvermutet einen heftigen Blutsturz gehabt,« sagte er, – »bleiben Sie bei ihr, – ich werde den Herrn Pastor suchen und Fritz Deyke bitten, daß er nach der Stadt fährt, um den Arzt zu holen.«
Er ging hinaus, während die alte Dienerin den Kopf Helenens unterstützte und mit einem schnell herbeigeholten weißen Tuch das immer noch hervorquellende Blut von ihren Lippen entfernte.
Nach einiger Zeit lief ein leichtes Zittern durch den Körper des jungen Mädchens. Mühsam rang sich ein schwerer, tiefer Atemzug aus ihrer Brust herauf, und dann schlug sie die Augenlider wieder auf – der gebrochene Blick irrte wie suchend und fragend umher, bis er auf dem Gesicht der alten Dienerin haftete, welche in höchster Spannung alle diese Zeichen des wiederkehrenden Lebens verfolgt hatte und nun in jubelndem Tone rief: »Sie lebt – sie lebt, – Gott sei Dank!«
Helene sah sie groß an, – dann schien ihre Erinnerung wiederzukommen, – ein unsäglicher Schmerz malte sich auf ihrem Gesicht.
»Ich lebe,« sagte sie mit kaum verständlicher Stimme, – »ich lebe noch! – warum, – warum, mein Gott, warum bin ich nicht gestorben mit meinem Glück, mit meiner Hoffnung!«
Die Alte hatte diese Worte kaum verstanden in ihrer freudigen Erregung über das wiederkehrende Leben des jungen Mädchens, das sie schon als Kind auf ihren Armen getragen.
»Mein Gott, Fräulein Helene,« rief sie mit vorwurfsvollem Ton, während sie die hellen Tränen, welche über ihr faltiges Gesicht liefen, mit der weißen Schürze abtrocknete, – »mein Gott, was machen Sie für Sachen! – was wird der Herr Pastor sagen, – es ist nur gut, daß Sie wieder besser sind, bevor er wiederkommt,« sagte sie lachend und weinend zugleich, – »der arme Herr wäre ja zum Tode erschrocken, wenn er gekommen wäre und hätte Sie so bewußtlos daliegen sehen.«
»Bewußtlos?« flüsterte Helene, – »glücklich, wer das Bewußtsein seiner Leiden nicht hat.«
»Ich werde Ihnen eine Tasse lauwarmer Milch bringen,« rief die Alte geschäftig, – »der Doktor hat ja gesagt, das wäre das beste, um Sie nach einem so starken Hustenanfall wieder zu kräftigen. – Können Sie solange allein bleiben? – ich komme gleich zurück.«
Helene bejahte mit einem Wink ihrer Augen.
Die Alte eilte hinaus.
»Mich stärken?« sagte das junge Mädchen mit leiser, tonloser Stimme, kaum die Lippen bewegend, – »wofür soll ich mich stärken? – wie habe ich gegen meine Krankheit gekämpft, um mein Leben dem Glück zu erhalten! – mein Glück und meine Hoffnung sind gestorben, – o, wäre dies schmerzliche Leben des Körpers mit ihnen zu Ende gegangen.«
Die Tür ging auf, eilig und aufgeregt trat der Pastor in das Zimmer – der Kandidat folgte ihm.
»Mein Kind, – mein armes Kind!« rief der Pastor, indem er zu seiner Tochter eilte und sein vom raschen Gange und der angstvollen Erregung gerötetes Gesicht zu ihr herabbeugte, – »was ist dir widerfahren?«
Er richtete sich wieder empor, erschrocken betrachtete er die so tief entstellten Züge des jungen Mädchens, – er faltete die Hände und blickte wie in stummem Gebet nach oben.
Helene war beim Anblick des Kandidaten leicht zusammengeschauert. Dann sah sie zu ihrem Vater hin mit einem Blick voll inniger Liebe, – sie zwang sich zu einem heiteren und freundlichen Lächeln, das ihrem schmerzdurchzuckten Gesicht einen unendlich rührenden Ausdruck gab, und sagte:
»Es ist nichts – lieber Vater, – es ist schon wieder vorüber.«
Der Atem versagte ihr.
Die alte Dienerin brachte warme Milch, – Helene trank davon, – eine leichte rötlich Färbung zeigte sich wieder auf ihrem Gesicht.
Der Kandidat entfernte sich leise und schweigend.
»Jetzt müssen Sie zu Bett, Fräulein Helene,« sagte die Alte, – »können Sie bis in Ihr Zimmer gehen?«
Helene wollte sich erheben, – sie konnte es nur mit Mühe und Anstrengung, der Pastor trat schnell heran, und langsam, bei jedem Schritt fast zusammenbrechend, ging die Kranke, gestützt und halb getragen von ihrem Vater und der Dienerin, in ihr Zimmer, wo sie der Pastor der Alten überließ, die sie sorgfältig entkleidete und in ihr Bett legte, in dem sie so oft in sanftem Schlummer geruht hatte, umgaukelt von süßen Träumen des Glückes und der Liebe.
Mit gesenktem Haupte kam der alte Herr in das Wohnzimmer zurück, – mechanisch ergriff er seine Pfeife, er wollte den Fidibus entzünden, um sie in Brand zu setzen, – da trat das lächelnde, liebliche Bild seiner Tochter vor seine Seele, wie sie ihm sonst so sorgsam die brennende Flamme auf den Tabak gehalten hatte, mit den frischen, sanften Augen zu ihm aufblickend, – er dachte an ihr so schmerzvoll entstelltes Gesicht, an ihre gebrochene Gestalt, wie sie eben vor ihm gelegen, – langsam stellte er die Pfeife wieder an ihren Platz zurück und setzte sich in seinen Lehnstuhl.
»Wie schwer ruht deine Hand auf mir, du allmächtiger Vater!« sagte er leise, indem er trüben Blickes in die Abendlandschaft hinaussah – »sollte ich dies gute, liebe Kind verlieren?«
Wie von innerer Angst gequält, stand er wieder auf und ging einige Male im Zimmer auf und nieder.
»Der arme Leutnant,« flüsterte er, – »wie würde der es tragen?«
Er nannte den Verlobten seiner Tochter noch immer einfach den ›Leutnant‹ – wie zur alten Zeit, als der Oberamtmann noch das Regiment führte im alten Amtshause.
Dann setzte er sich wieder nieder, faltete die Hände und sprach:
»Siehe da, – will sich das alte Herz, das im Glauben sich stark wähnte, dennoch jetzt auflehnen gegen die Fügungen Gottes – und murren über das Leid, das seine Hand über mich verhängt! – Was Gott tut, das ist wohlgetan,« sprach er mit voller Stimme, – aber seine Lippen bebten, und wie von der Last seiner Sorge erdrückt, ließ er den Kopf auf die Brust niedersinken.
Die alte Magd trat herein und sagte freudestrahlenden Gesichts:
»Fräulein Helene ist ruhig eingeschlafen, sie atmet gleichmäßig, – ich hoffe, es wird nichts passieren, bis der Doktor kommt, – ich werde bei ihr bleiben und über ihren Schlaf wachen.«
Schnell eilte sie wieder hinaus.
Der Pastor richtete das Haupt empor mit dankerfülltem Blick und sagte:
»Auch unser Erlöser betete: Laß diesen Kelch an mir vorübergehen, – also darf auch ich dies Gebet zu Gott richten, – doch«, fuhr er mit sanft ergebenem Ton fort, – »nicht mein, sondern dein Wille geschehe.«
Und schweigend blieb er sitzen – hinausblickend in die friedliche Landschaft, welche immer mehr in Dämmerung versank, während die leichten Wolken am fernen Horizont sich golden färbten im letzten Strahl der scheidenden Sonne und während vom Dorfe her die alten wendischen Lieder heraufdrangen, welche die von der Feldarbeit zurückkehrenden Mädchen und Burschen sangen.
Der Kandidat war in seinem Zimmer und studierte eifrig die Predigt für den nächsten Sonntag.