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In dem großen, reich ausgestatteten Arbeitszimmer seiner eleganten Wohnung in Paris ging der Advokat und Abgeordnete zum Corps législatif. Jules Favre, langsam und nachdenklich auf und nieder. Das große starke Gesicht mit den über der Stirn aufgestrichenen und an den Schläfen lang herabfallenden, leicht ergrauten dichten Haaren zeigte den Ausdruck tiefen Nachdenkens und zugleich einer gewissen peinlichen Verstimmung. Die großen, von dichten Brauen überragten Augen blickten unruhig hin und her. Er hielt ein Papier in der Hand und blieb zuweilen stehen, wie gewohnheitsmäßig seine große und volle Gestalt in oratorischer Haltung aufrichtend.
»Es ist eine eigentümliche Lage,« sprach er, einen Blick auf das Papier in seiner Hand werfend, »in welche dieser Pariser Zweigverein der internationalen Arbeiterassoziation uns gebracht hat. – Sie fordern die Abgeordneten auf, bei der Feierlichkeit auf dem Montmartre bei Gelegenheit der Überführung der Gebeine Daniel Manins zugegen zu sein und uns an der Demonstration zu beteiligen, welche ihre Spitze gegen die römische Politik der Regierung kehren wird. Das wäre ein falscher politischer Schritt – eine große Prinzipienfrage darf nicht bei Gelegenheit einer ganz speziellen und persönlichen Demonstration zur Erörterung gebracht werden, wenigstens nicht von Abgeordneten, die ihre Stellung auf einer über fruchtlosen Demonstrationen erhabenen Höhe erhalten müssen. Ich bin deshalb damit einverstanden gewesen, jene Teilnahme abzulehnen – die Herren von der Internationale gehen aber weiter und verlangen nun von mir und meinen Kollegen von der Opposition, daß wir unser Mandat niederlegen, um die Regierung zu zwingen, mit der römischen Frage vor die Wähler zu treten –
»Das hieße va banque spielen mit der fast gewissen Chance des Unterliegens.«
»Die Herren,« rief er, das Papier auf seinen Schreibtisch werfend, »führen in ihrer Zuschrift eine Sprache, die an die Dekrete der Kommune und des Wohlfahrtsausschusses erinnert. Es scheint, daß sie sich für die Herren der Lage halten und den Staat und die Gesellschaft bereits an ihren Fäden glauben regieren zu können. »Soweit ist es noch nicht, und soweit darf es auch nicht kommen, – nicht die rohe Masse darf die Herrschaft in ihre unsicher schwankenden Hände nehmen – der bürgerliche Besitz ist der Schwerpunkt der sozialen Ordnung, die Intelligenz ist ihre treibende und belebende Kraft, ihnen müssen die rohen Arbeitskräfte gehorchen, wenn nicht alles im Chaos versinken soll.«
Ein Diener trat ein.
»Herr Tolain und seine Freunde sind im Vorzimmer.«
Jules Favre schwieg einen Augenblick. Aus seinem Blick verschwand die unruhige Bewegung, seine Züge nahmen den Ausdruck kalter Überlegenheit an und im ruhigen Tone sprach er:
»Lassen Sie die Herren eintreten.«
Einen Augenblick darauf trat der Präsident des Pariser Zweigvereins der Internationale, der Bronzearbeiter Tolain, in das Kabinett, ihm folgte der Buchbinder Barlin und der Graveur Bourdon. Alle drei trugen den schwarzen Sonntagsrock der arbeitenden Klasse.
Tolain mit seinem bleichen, geistig bewegten Gesicht und den schwärmerisch sinnenden Augen blickte mit gespannter Erwartung auf den berühmten Führer der liberalen Opposition.
Barlin, den Kopf etwas vornüber geneigt, ein leichtes höhnisches Lächeln um die fest geschlossenen Lippen, ließ seine scharfen Blicke von unten herauf über die glänzende und reiche Ausstattung des Zimmers gleiten. Das Lächeln auf seinen Lippen wurde noch höhnischer und feindlicher.
Bourdon stand unbeweglich und kalt da – ausdruckslose Ruhe in seinen Zügen.
»Diese Herren erzeigen mir die Ehre ihres Besuches,« sprach Jules Favre mit vornehmer Sicherheit und im Tone einer gewissen abwehrenden Höflichkeit »als Vertreter der hiesigen Sektion der Internationale?«
»Wir sind von unseren Genossen an Sie abgesendet, mein Herr,« sagte Tolain mit seiner klangvollen weichen Stimme, »als an den hervorragendsten, geistvollsten Vertreter der Opposition in dem gesetzgebenden Körper –«
Jules Favre verneigte sich.
»– Um Ihnen persönlich den Wunsch zu wiederholen, den wir bereits schriftlich den Abgeordneten ausgesprochen haben, daß sie ihr Mandat niederlegen möchten.«
Jules Favre hob den großen ausdrucksvollen Kopf in die Höhe und richtete auf den Sprechenden einen Blick voll stolzer Überlegenheit.
»Bevor ich mir erlaube,« sprach er in gemessenem Ton, »mich mit ihnen über den Inhalt ihrer Sendung zu unterhalten, kann ich nicht umhin, darauf aufmerksam zu machen, daß die Fassung der Aufforderung, welche Sie an mich und meine Kollegen gerichtet haben, mir sehr herrisch und diktatorisch erschienen ist. Ich kann nicht unterlassen, es auszusprechen, daß ich als Mitglied des Corps législatif, ebensowenig wie als Privatmann der internationalen Assoziation das Recht zugestehen kann, mir irgendwelche Befehle über mein politisches Verhalten zu erteilen, welches ich lediglich nach den Pflichten gegen mein Gewissen und gegen das Land zu bestimmen habe. – Meine Kollegen denken darüber wie ich, und ich halte mich für berechtigt, auch in ihrem Namen den Ton zurückzuweisen, in welchem die Internationale uns ihren Wunsch ausgesprochen hat. – »Wir sind gern bereit,« fuhr er mit etwas verbindlicherem Ausdruck fort, »die Wünsche der Internationale, in welcher sich so viele Interessen des Arbeiterstandes vereinigen, entgegenzunehmen, und werden dieselben gewiß mit der größten Aufmerksamkeit in Erwägung ziehen, aber – ich muß wiederholen – wir können diese Wünsche niemals als unbedingt maßgebend für uns erkennen.«
Tolain lächelte mit sanftem Ausdruck.
»Die Botschaft,« sagte er, »ist in der Form der vom hiesigen Zweigverein angenommenen Resolution abgefaßt – jede Resolution hat – durch die Kürze schon, in welche man sie der Einfachheit und allgemeinen Verständlichkeit wegen zu kleiden gezwungen ist, etwas Diktatorisches, – Sie werden daher in dieser Form kein Anmaßung eines Rechtes, Ihnen Befehle zu erteilen, suchen dürfen –«
»Ein solches Recht besteht gewiß nicht und soll auch nicht in Anspruch genommen werden,« fiel Barlin mit scharfer Stimme ein, indem er einen Schritt näher trat – »ich glaube aber, daß es den Vertretern der Arbeiter, welche doch eigentlich den Kern des Volkes bilden, wohl erlaubt sein muß, ihre Meinung in bestimmten und klaren Worten ohne Umschweife und Verhüllungen auszusprechen – haben sie auch kein Recht, die Befolgung ihres Willens und ihrer Beschlüsse von den Abgeordneten unbedingt zu verlangen, so ist doch die Meinung des zahlreichsten und gewiß bedeutungsvollsten Teils des Volkes jedenfalls der Gegenstand ernstester Aufmerksamkeit und Beachtung für diejenigen, welche das Volk zu vertreten die Aufgabe haben. Der Wille der Arbeiter,« fuhr er in einem Ton fort, der hart und schneidend durch das Zimmer klang, – »der Wille der Arbeiter kommt früher oder später entschieden und ausschließlich zur Geltung, und diejenigen, welche die Klugheit haben, sich zu Organen dieses Willens zu machen, werden am besten für ihre Stellung in der Zukunft sorgen.«
Jules Favre hatte sich zuerst mit dem Ausdruck des Erstaunens zu dem Sprechenden gewendet. Er richtete seinen Blick groß und voll auf denselben, auf seinem Gesicht lag ein kalter, fast verächtlicher Stolz.
Aber aus dem scharf von unten heraufblickenden Auge des unbedeutenden Buchbinders, der dem berühmten, reichen und hochgebildeten Redner des Barreau und der Tribüne gegenüberstand, blitzte so unbeugsame Willenskraft, so unversöhnlicher, tiefglühender Haß hervor, daß der große Advokat, wie unwillkürlich zusammenschauernd, den Blick zu Boden schlug.
Der Vertreter der liberalen Burgeoisie, welche im Vollgenuß der Güter des Lebens die liberalen Ideen zu einer Waffe gegen die Regierung im Kampf um die Herrschaft macht, fühlte sich hier zum erstenmal einem bewußt und fest auftretenden Repräsentanten jenes in den tiefen Gründen der Gesellschaft finster brütenden Volkes gegenüber, jenes Volkes, das, ausgeschlossen von den lichten Höhen des Lebens, sich wenig kümmert um die Parteidoktrinen, die Theorien politischer Systeme – das vielmehr seinen Anteil am Licht und am Genuß des Lebens verlangt und in erbitterter Verblendung dieses Ziel zu erreichen denkt, indem es alles zertrümmert, was frei von der harten Kette der Arbeit in der Welt des materiellen und geistigen Genusses lebt.
Wie einer Anstrengung seines Willens gehorchend, richtete Jules Favre seinen Blick, das Haupt emporhebend, nochmals auf Barlin, aber wieder senkte er ihn zu Boden, denn hart, feindlich, unerschütterlich blitzte ihm das Auge des Buchbinders entgegen.
Er wendete sich mit freundlicherer Miene zu Tolain.
»Ich weiß,« sagte er, »daß die Form von Resolutionen, welche von größeren Versammlungen angenommen werden, kurz und bestimmt sein muß, und durch Ihre Erklärung halte ich eine Bemerkung, die ich in Rücksicht auf meine Stellung habe machen müssen, für erledigt.«
»Ich erlaube mir nun,« fuhr er fort, »auf den Inhalt Ihrer Botschaft einzugehen. Sie wissen – ich habe niemals ein Hehl daraus gemacht – daß ich die unglückliche Politik der jetzigen Machthaber Frankreichs für verderblich halte. Ich bin guter Katholik, aber ich beklage es, daß Frankreich seine Macht und seine Ehre aufs Spiel setzt, um die Weltliche Macht des Oberhauptes der Kirche gegen die nationale Entwicklung des italienischen Volkes gewaltsam aufrecht zu erhalten. Auch bin ich der Meinung, daß Artikel in der Presse, – selbst Reden in der Volksvertretung keinen Einfluß auf die Entschließungen der Regierung haben werden. – Ich billige daher im Prinzip den Gedanken einer Mandatsniederlegung, durch welche die Regierung gezwungen würde, mit dieser brennenden Frage vor die Wähler zu treten.«
Tolain neigte zustimmend das Haupt. Barlin blickte forschend und erwartungsvoll auf, während ein höhnisches Lächeln auf seinen festgeschlossenen Lippen erschien.
»Allein,« fuhr Jules Favre fort, »ich würde die Mandatsniederlegung nur dann für wirkungsvoll und demzufolge für vernünftig halten, wenn die Gesamtheit der Pariser Abgeordneten dafür gewonnen werden könnte. – Würde nur ein einzelner Abgeordneter sein Mandat niederlegen, so wäre dieser Schritt nicht nur nutzlos, sondern er würde sogar wie ein öffentlicher Tadel des Benehmens derjenigen seiner Kollegen aussehen, welche anders handeln, und damit würde die so notwendige Einigkeit unter den Mitgliedern der liberalen Opposition gefährdet werden.
»Ich bin nun aber gewiß,« sagte er weiter, »daß die übrigen Abgeordneten ihre Mandate nicht niederlegen werden – was sollte es nützen, wenn ich allein diesen Schritt täte? – Ich würde mich dem aussetzen, mein Mandat zu verlieren – vielleicht würde es der Regierung gelingen, meine Wiederwahl zu verhindern – in jedem Fall würde das erstrebte Ziel nicht erreicht und die Kraft der Opposition mehr oder minder abgeschwächt. Sie werden begreifen, daß ich, diesen Erwägungen folgend, mich nicht zu dem von Ihnen gewünschten Schritt entschließen kann, und Sie werden, wenn sie meine Gründe würdigen und prüfen, selbst mir recht geben.«
Er schwieg.
»Ihr Einfluß, mein Herr,« sagte Tolain, »auf die übrigen Abgeordneten ist groß, und wenn sie denselben – von Ihrer so glänzenden und überzeugenden Beredsamkeit unterstützt – dazu anwenden wollten, um Ihre Kollegen zu bestimmen, daß sie mit Ihnen gemeinschaftlich handeln, so zweifle ich nicht, daß eine Mandatsniederlegung der Gesamtheit erreicht werden würde.«
»Ich glaube,« erwiderte Jules Favre artig, aber mit dem Ton kühler Ablehnung, »daß Sie meinen Einfluß ein wenig überschätzen.«
Barlin trat einen Schritt vor.
»Die Antwort,« sagte er, »welche der Herr Deputierte uns zu geben die Güte hat, muß uns zur Erörterung einer ernsten Frage führen, welche für die Entwicklung des öffentlichen Lebens von großer Wichtigkeit ist.« –
Jules Favre blickte den Sprechenden verwundert an, auf seinem Gesicht stand deutlich geschrieben, daß er nicht begreife, welche Frage, nach der von ihm gegebenen bestimmten Erklärung, hier noch weiter besprochen werden könne.
»Es kann sich hier nicht darum handeln,« fuhr Barlin durch diesen Blick unbeirrt fort, »zu erörtern, wie weit der Einfluß des Herrn Abgeordneten auf seine Kollegen sich ausdehne. Wenn der Herr Abgeordnete diesem Einflusse selbst schon keinen Erfolg zutraut, so dürfte ein solcher vielleicht kaum zu erwarten sein, da bei eigenem Zweifel ein richtiger Nachdruck nicht geübt werden möchte.«
»In der augenblicklichen Lage,« fuhr er fort, »tritt zum erstenmal das Verhältnis zwischen uns, den Arbeitern, und dem liberalen Mittelstande scharf in die Erscheinung.«
»Die Herren von der Opposition und der Kammer haben ebenso wie wir die Überzeugung, daß der gegenwärtige Zustand bekämpft werden müsse. Jene Herren haben viel gesprochen und vortreffliche Reden gehalten – wir haben gehandelt und organisiert und unsere Macht durch die Assoziation immer fester begründet. Jetzt zum erstenmal tritt die Gelegenheit ein, der Regierung, welche den von uns für verderblich erkannten Zustand aufrecht erhält und unterstützt, den Kampf – den ernsten Kampf nicht durch Phrasen, sondern durch Taten anzubieten. Wir sind bereit zu diesem Kampf, wir sind entschlossen und vorbereitet, seine Durchführung bei den Wahlen durch unsere geschlossene Macht zu unterstützen.« – »Diese Herren aber,« fuhr er ohne besondere höhere Betonung, aber mit einem gewissen schneidenden Ton in der Stimme fort, »scheinen unsere Anschauung nicht zu teilen; da aber der Kampf das einzige Mittel zum Ziele ist, da der Kampf, den wir aufnehmen wollen, entschlossen und konsequent fortgeführt werden soll, so müssen wir miteinander klar werden.«
Jules Favre hatte, augenscheinlich durch die Worte des Sprechenden unangenehm berührt, zugehört. Eine leichte Bewegung der Ungeduld ließ seine Hand zucken, er wollte antworten. –
»Ich frage,« fuhr Barlin, ohne die Bewegung Jules Favres zu beachten, mit erhöhter Stimme fort, – »ich frage im Namen des arbeitenden Volkes Sie, mein Herr, den Vertreter der Bourgeoisie, des wohlhabenden und intelligenten Mittelstandes, der zu verschiedenen Zeiten den Versuch gemacht hat, uns in der Bewegung des öffentlichen Lebens unter seine Führung zu nehmen – ich frage Sie, wenn wir Ihnen diese Führung überlassen, – werden Sie bereit sein, sobald der Augenblick dazu gekommen ist, die Waffen zu ergreifen?«
Er war bei den letzten Worten noch näher herangetreten und richtete seinen Blick scharf und durchdringend auf den Deputierten.
Jules Favre machte augenscheinlich eine Anstrengung, um sich dem Einflusse dieses merkwürdig stechenden Blickes zu entziehen, der wie eine Dolchspitze auf ihn eindrang.
Er warf den Kopf empor, strich das lange dichte Haar von der Stirn zurück und sprach mit ruhig gemessenem Ton, durch welchen eine Aufwallung ungeduldigen Zornes hindurchklang:
»Die Waffen zu ergreifen? – Das ist die Revolution, das letzte und – verzeihen Sie mir, brutalste Mittel, um seine Grundsätze im politischen Leben zur Geltung zu bringen. Ich verurteile dieses Mittel nicht,« fuhr er fort, »wenn es eben kein anderes mehr gibt, aber ich bin der Meinung, daß man mit der Anwendung dieses Mittels wirklich bis zum äußersten Augenblick warten müsse, da es die Gefahr in sich trägt, alles Gute neben vielem Schlechten zu vernichten, und,« sagte er, indem seine Lippen sich hochmütig kräuselten, »ich bin der Meinung, daß es uns, die wir auf der Höhe des Umblicks über das öffentliche Leben uns befinden, – daß es uns zustehe, uns überlassen bleiben müsse, zu erwägen und zu bestimmen, wann der Augenblick der Anwendung jenes letzten gewaltsamen Mittels gekommen sei.«
»Die Herren,« sagte Barlin kalt, »haben freilich in ihrer angenehmen Situation« – er ließ einen raschen Blick durch das Zimmer schweifen – »die Herren haben freilich bessere Muße, den Augenblick abzuwarten, als wir in den niedrigen und dunklen Wohnungen der Arbeit, doch haben wir wohl das größere Interesse an dem endlichen Austrage des Kampfes und damit auch das Recht, über den Augenblick des Handels zu entscheiden, der ohne unsere Mitwirkung vielleicht so weit hinausgeschoben werden möchte, daß die Früchte unseres Strebens künftigen Generationen zugute kämen. Ich aber,« fuhr er mit einem leichten Lächeln fort, – »ich lege einen gewissen Wert darauf, mich selbst an dem Genüsse der Früchte des Sieges zu beteiligen.«
Eine dunkle Röte flog über das Gesicht Jules Favres.
Diesmal hielt er den Blick Barlins voll aus, – indem seine breite Brust sich mächtig ausdehnte, sprach er mit tönender Stimme:
»Die Zustände der gegenwärtig in Frankreich herrschenden Macht sind innerlich schwach, ihre Grundlagen zerbröckeln von Tag zu Tag mehr, und nach meiner Überzeugung wird der Augenblick kommen und vielleicht in nicht zu langer Zeit kommen, wo diese ganze scheinbar so starke Macht ohne gewaltige Erschütterung zusammenbricht. Ich wünsche und ich hoffe es mit Zuversicht, daß dieser Augenblick möge herbeigeführt werden können durch die Gewalt der öffentlichen Meinung und durch die stetige, wohlüberlegte Arbeit der intelligentesten und edelsten Geister der Nation. Das persönliche Regiment wird der fortgesetzten Kritik der Opposition, welche sich immer mehr durch alle Schichten des Volkes verbreitet, nicht Widerstand leisten können, es wird ohne die blutigen Schrecken einer Revolution freieren Staatseinrichtungen Platz machen, welche dem politischen wie dem sozialen Fortschritt freien Spielraum gewähren werden –«
»Und unter denen,« fiel Barlin ein, »die Arbeiter in derselben Knechtschaft wie bisher ihr dunkles Leben fortführen werden, während das Kapital um so unumschränkter herrschen wird, da es dann nicht mehr diese persönliche Regierung geben wird, welche im Interesse ihrer Selbsterhaltung von Zeit zu Zeit daran denkt, der gefährlichen Spannung der Atmosphäre in der Arbeitswelt ein Sicherheitsventil zu öffnen.«
»Ich glaube nicht, meine Herren,« sagte Jules Favre, indem er einen Schritt zurücktrat und die Hand auf den vor seinem Schreibtisch stehenden Lehnstuhl stützte, »ich glaube nicht, daß es nützlich sein könne, diese Diskussion, welche doch augenblicklich ohne praktisches Resultat bleiben muß, hier weiter zu führen. – Ich habe Ihnen über diejenige Frage, welche Sie unmittelbar zu mir geführt hat, meine Meinung gesagt und meine Gründe gegeben, – über weitergehende theoretische Prinzipienfragen zu disputieren, überlassen wir gewiß besser einer anderen Zeit und Gelegenheit.«
Und mit einer leichten Neigung des Kopfes schien er anzudeuten, daß er seinerseits die Unterhaltung für beendet halte.
»Ich bedaure,« sagte Tolain mit trübem Ausdruck, »daß wir ohne eine Verständigung über die gegenwärtige Frage auseinandergehen, indes bin ich überzeugt,« fügte er mit einer wärmeren Betonung hinzu, »daß wir uns über die großen Fragen, welche ein gemeinschaftliches Handeln so wünschenswert machen, demnächst weiter aussprechen und verständigen werden.«
Jules Favre verneigte sich schweigend.
»Ich glaube nicht,« sagte Barlin, »daß der Herr Deputierte diese Hoffnung meines Freundes teilt – ich meinesteils wenigstens bin überzeugt, daß zwischen den Prinzipien, welche wir vertreten, und den Kreisen des Herrn Abgeordneten keine Verständigung über gemeinsames Handeln jemals stattfinden wird. – Wir müssen eben unseren Weg allein gehen und entschlossen sein, alles niederzuwerfen, was sich uns entgegenstellt.« Und mit einer kaum merkbaren Neigung des Kopfes gegen Jules Favre wendete er sich um, umfaßte noch einmal mit seinem kalten höhnischen Blick das Ameublement des Zimmers und ging hinaus. Bourdon folgte ihm schweigend – Tolain grüßte artig und ging dann ganz traurig und niedergeschlagen seinen Gefährten nach.
Als sie auf der Straße angekommen waren, blieb Barlin stehen, warf einen in Zorn und Haß funkelnden Blick nach den Fenstern des Hauses hinauf und sprach mit grimmigem Ton:
»Ihr habt es jetzt gesehen, was wir von diesen Bourgeois und liberalen Advokaten zu erwarten haben. Sie streiten sich mit den Machthabern um die Herrschaft, aber an die Befreiung des in die Arbeitsketten geschmiedeten Volkes denken sie so wenig als jene, und wir würden, wenn sie siegen, nur den Tyrannen wechseln. – Und wahrlich, ihre Tyrannei würde schlimmer sein, als die jetzige, weil sie heuchlerischer sein würde, aber die Zeit wird kommen,« fügte er leise und finster hinzu, – »die Zeit wird kommen, wo wir Abrechnung mit ihnen halten werden, – jene werden wir niederschlagen, – diese aber müssen wir vernichten, – ausrotten mit Feuer und Schwert!«
Und er trat heftig auf das Trottoir mit einer Miene und einem Ausdruck, als habe er den Kopf eines zu Boden geworfenen Todfeindes unter seinem Fuß.
»Mein lieber Freund,« sagte Tolain ruhig, »man verständigt sich nicht in einer Unterredung und Herr Favre ist ja nicht der einzige Vertreter seiner Kreise, so groß sein Einfluß in denselben auch sein mag.
»Mich hat,« fuhr er fort, »diese ganze Unterredung noch weit mehr in der Überzeugung bestärkt, daß die Richtung, in welche wir durch die Kongresse von Genf und Lausanne gedrängt worden sind, eine falsche sei und daß wir besser getan hätten, in unseren Bestrebungen niemals das Gebiet der Politik zu berühren, sondern uns ausschließlich mit dem Wohle der arbeitenden Klasse zu beschäftigen –«
»Das uns wie ein Mairegen vom Himmel gefallen wäre, nicht wahr?« rief Barlin bitter. – »Wie sollen wir denn für das Wohl der Arbeiter sorgen, wie sollen wir ihre Lage verbessern, wenn wir nicht den alten Staat und die alte Gesellschaft vorher in Trümmer schlagen! Doch,« fuhr er fort, fast mitleidig die Achseln zuckend, »darüber werden wir uns ja niemals verständigen. – Ihr, mein guter Freund Tolain, werdet immer in utopistischem Wohlwollen durch blaue Wolken segeln und wir können doch nur zum Ziele kommen, wenn wir unseren Fuß fest auf den Boden der Wirklichkeit stellen und vor der Konsequenz nicht zurückschrecken, die Mittel zu wollen, wenn wir den Zweck als richtig erkannt haben.«
Tolain schwieg und schritt seufzend die Straße entlang.
An der nächsten Windung trennten sich die drei Gefährten. – – –
Zahlreiche Arbeiter sah man zur vorgerückten Abendstunde desselben Tages in die enge und dumpfe Straße des Gravilliers einbiegen. Sie schritten über den finsteren Hof des Hauses Nr. 44, stiegen die Treppe zum Hinterhause empor und traten in das große Zimmer, in welchem der Pariser Zweigverein der internationalen Assoziation seine Sitzungen hielt.
Es war alles hier wie sonst. Der alte Héligon saß an der Tür, die Legitimationskarten der Eintretenden empfangend und prüfend. An dem Tisch an der Langseite des Zimmers saß der Ausschuß, Chémalé, Bourdon und Barlin, – Tolain auf dem einfachen Präsidentenstuhl. Das große Zimmer war dicht mit Arbeitern gefüllt und sowohl diese außergewöhnlich zahlreiche Versammlung als der Ausdruck hochgespannter Erwartung, den man auf allen Gesichtern bemerken konnte, ließ vermuten, daß irgend etwas Außerordentliches vorgehen solle.
Tolain erklärte die Versammlung für eröffnet und teilte mit wenigen einfachen Worten die Antwort mit, welche er von Jules Favre auf seine Aufforderung zur Mandatsniederlegung erhalten hatte.
Ein tiefes Schweigen folgte zunächst dieser Mitteilung. Jedermann schien zu erwarten, daß der einfachen Erzählung der Tatsachen noch irgendwelche weitere Erklärungen folgen werden. Als Tolain schwieg, begannen einzelne Stimmen sich aus der Versammlung zu erheben. Man machte seinem Unwillen über die Deputierten Luft in oft nicht sehr gewählten und schmeichelhaften Ausdrücken.
»Man muß diesen Herren Phraseurs ein Mißtrauensvotum geben, – man muß eine Agitation unter den Wählern organisieren, wenn sie ihr Mandat nicht niederlegen wollen, so muß man es ihnen entziehen –« so rief es von allen Seiten – die Stimmen wurden lauter und lauter – die Aufregung stieg und drohte in einen Tumult auszuarten – alles sprach und schrie durcheinander – Tolain versuchte vergeblich Ruhe zu schaffen.
Da erhob sich Barlin. Sein bleiches, scharfes Gesicht zeigte den Ausdruck gebieterischen Befehls, Er erhob leicht die Hand gegen die Versammlung und sprach mit wenig erhöhter, aber einschneidend durchdringender Stimme: »Ruhig, meine Freunde, und hört mich an!«
Es war mehr der Blick, die ganze Erscheinung des Mannes, als seine Worte, welche diese ganze aufgeregte Versammlung fast augenblicklich zum Schweigen brachte.
»Meine Freunde,« sprach er, »die gerechte Entrüstung über die feigen und heuchlerischen Gesinnungen der Bourgeosie und ihrer Führer reißt euch fort, aber glaubt mir, man führt euch auf falsche Bahnen – den Deputierten ein Mißtrauensvotum zu geben – wozu sollte das führen? – Ihr Mandat könnt ihr ihnen doch nicht entziehen und ihr würdet weiter nichts erreichen, als die eigene Arbeit für das Wohl der Zukunft zu erschweren. – Nein, meine Freunde, keine Demonstration, keine äußeren Zeichen eurer gerechten Entrüstung – jede Demonstration warnt den Gegner und schadet dadurch uns selbst. – Benutzen wir die gemachte Erfahrung, werden wir uns alle klar darüber, daß wir nichts gemeinsam haben können mit den Elementen der alten Gesellschaft, daß die liberale Bourgeoisie uns noch viel feindlicher ist, als die Vertreter der absoluten monarchischen Regierung. Der Absolutismus stellt uns einen Gegner entgegen, dessen Macht wir bisweilen für unsere Zwecke benutzen können, und den wir, wenn die Stunde gekommen ist, mit einem Male niederzuwerfen imstande sind. Diese Bourgeoisie aber ist ein tausendfältiger ineinander gegliederter Organismus, den wir nicht mit einem Streich überwinden können – wir müssen ihn zersetzen: wenn wir endlich siegen wollen, so werden wir ihn ebenso mit Blut und Feuer vernichten müssen, wie das einst der große Marat mit der alten Gesellschaft vor 1793 tat. – Organisieren wir uns fester, gehen wir ruhig, langsam und unerschütterlich nach wohlüberlegtem Plane vorwärts, seien wir uns bewußt, daß wir einen Vernichtungskrieg gegen die Bourgeoisie führen, aber zeigen wir ihr nicht unsere Absicht und unseren Entschluß, denn,« sagte er mit einem finstern Lächeln, »ein gewarnter Mann lebt lange. Diese liberalen Advokaten, hinter welchen die Bourgeosie hermarschiert, sind uns unendlich nützlich – sie unterminieren mit ihrer systematischen Opposition die Autorität der Staatsgewalt, zersetzen die alten konservativen Glieder der Gesellschaft und zerstören die Macht der Religion und der Priester. – Das alles tun sie nicht für uns – sie tun es, um für sich die Herrschaft zu erlangen – sie ahnen nicht, daß sie unsere Minierer sind und daß wir einst die Früchte ihrer langsamen Arbeit ihnen mit raschem Griff vor dem Munde wegpflücken werden.
»Sollen wir, meine Freunde, diese Leute aus ihrer Verblendung reißen? – sollen wir sie erkennen lassen, wohin sie gehen? – sie würden in demselben Augenblick unsere Gegner werden, sie würden sich mit der Macht der Autorität verbinden und unsere Arbeit unendlich erschweren. – Unterstützen wir nicht das Spiel des Herrn Polizeipräfekten,« rief er höhnisch, »welcher von Zeit zu Zeit gern das Phantom der roten Republik über den Hintergrund der politischen Bühne marschieren läßt, um diese guten Bourgeois einzuschüchtern. – Sie glauben ihm nicht – aber wenn sie uns ernsthaft in geschlossener Front gegen sich anrücken sähen, so würden sie mit starrem Entsetzen sich unter die Flügel der Regierung flüchten und wir würden statt zweier getrennter, sich untereinander bekämpfender Gegner eine fest verbundene Phalanx uns gegenüber sehen, welche zu durchbrechen wir vielleicht noch lange nicht die Kraft hätten. Darum, meine Freunde,« rief er mit erhöhter Stimme, »lernen wir durch die Erfahrung, welche wir soeben gemacht, aber benutzen wir das Erlernte in stiller Vorsicht. Unsere Losung sei: »Schweigen und Handeln!«
Er schwieg.
»Barlin hat recht – was soll es nützen, gegen die Bourgeoisie zu demonstrieren – warten wir unseren Augenblick ab und zertreten wir diese Heuchler –« so rief es hier und dort in der Versammlung. – Die Ruhe hatte sich vollständig wieder hergestellt – man wartete, was da kommen würde, denn man fühlte, daß noch etwas kommen mußte. Barlin hatte sich noch nicht gesetzt und ließ seinen kalten scharfen Blick über die Versammlung schweifen.
»Meine Freunde,« sprach er nach einigen Augenblicken, »ich freue mich, daß ihr alle die Gründe einseht und billigt, welche mich bestimmt haben, euch von jeder demonstrativen Handlung abzuraten, ebenso aber glaube ich auch, daß ihr die Notwendigkeit des Kampfes mit der Bourgeoisie, die Notwendigkeit des Bruches mit der Halbheit und Unklarheit verstehen und billigen werdet. Ihr werdet gewiß jetzt gern geneigt und bereit sein, einen scharfen und unermüdlichen Kämpfer für unsere Sache anzuhören, welcher der großen Weltverbindung des wahren Fortschritts angehört und aus der Schweiz hierher gekommen ist, um euch seine Ansichten auszusprechen.«
Ausrufe der Neugier und gespannter Erwartung machten sich in der Versammlung vernehmbar.
Tolain richtete sich empor und blickte fragend auf Barlin.
Es war ein Eingriff in seine Präsidentenrechte, daß Barlin hier in der Sitzung des Pariser Zweigvereins einen Fremden ankündigte, von dessen Anwesenheit er nichts wußte.
Bevor er jedoch seinem Erstaunen Worte gegeben hatte, fuhr Barlin zu sprechen fort:
»Ich bitte also unsern Freund Tolain um die Erlaubnis, in unsere Versammlung einführen zu dürfen den Bürger Michel Bakunin, welcher die Welt durchreist, und auf beiden Hemisphären die Zustände der Staaten und der Gesellschaft gründlich studiert hat, der überall mit glühendem Eifer der Sache diente, welche die unsere ist. Er ist heimlich hierhergekommen – er hat in den russischen Bergwerken die Märtyrerkrone seiner Gesinnung erhalten, er darf von der hiesigen Polizei nicht entdeckt werden – ich weiß, daß unter uns kein Verräter ist.«
Eine dunkle Röte erschien auf dem bleichen Gesicht von Tolain.
»Unsere Versammlung,« sagte er, »ist konstituiert aus Pariser Arbeitern als Pariser Zweigverein der internationalen Assoziation – ich kann es nicht für zulässig halten, in diese Versammlung jemand einzuführen, der ihr weder angehört, noch von einem der anderen Vereine, mit denen wir in Beziehung stehen, an uns abgeordnet ist.«
»Ich kann meinem Freunde Tolain nicht recht geben,« sprach Barlin kalt und ruhig, »denn wenn wir uns in so engherzigen Formenzwang einschließen wollten, so wäre unsere Verbindung ja nichts anderes als jene mittelalterlichen Zünfte und Gilden, welche das Leben des damaligen Arbeiterstandes in tötende Fesseln schlugen. Wir arbeiten für die Freiheit, und wenn wir hier eine Pariser Verbindung sind, weil wir uns räumlich von der Abhängigkeit vom Ort nicht freimachen können, so dürfen wir uns doch geistig nicht in lokale Grenzen einengen und dem Geist, der mit uns nach denselben Zielen strebt und geistig und innerlich mit uns einig ist, dürfen wir den Zutritt nicht versagen.«
»Jede Organisation,« erwiderte Tolain, gewaltsam seine innere Erregung niederdrückend, mit leicht zitternder Stimme, »kann nur dann stark sein, wenn sie den Gesetzen, die sie sich gegeben, unverbrüchlich gehorcht, und ich glaube nicht, daß nach unseren Gesetzen jemand, der nicht zu den Pariser Arbeitern gehört –«
»Das oberste Gesetz unserer Verbindung,« sprach Barlin, »ist der Wille des Volkes, welcher jedesmal durch den Beschluß der Majorität der Versammlungen sich ausspricht, – kein Gesetz steht höher als dieser Wille – das Gesetz ist der Tod – die Majorität ist der Fortschritt, – die Freiheit – das Leben. – Ich frage deshalb die Versammlung, ob sie den Bürger Michel Bakunin hören will oder nicht?« Noch bevor Tolain irgendeine Bemerkung machen konnte, erhoben sich laute Rufe der Zustimmung aus allen Teilen des Zimmers.
Tolain warf einen traurigen Blick umher und setzte sich schweigend nieder.
Barlin gab dem alten Héligon einen Wink, dieser ging hinaus und kehrte nach wenigen Augenblicken mit einem großen, breit untersetzten Mann in den Saal zurück, den er an den Tisch des Vorstandes führte.
Der Eingetretene erregte die gespannteste Aufmerksamkeit der Versammlung.
Seine ganze Erscheinung trug den Stempel schrankenloser Wildheit. Man konnte glauben, daß dieser Mann soeben aus den weiten Steppenwüsten hergekommen sei – das Kleid der zivilisierten Welt, das er trug, paßte nicht für seine Glieder – seine Züge hatten den Ausdruck tartarischer Abkunft, sein Bart, sein tief in die Stirn herabwachsendes Haar, seine aufgeworfenen Lippen, selbst die Bewegung seiner Hände – das alles erschien fremdartig in dieser Versammlung von Menschen des romanischen Stammes – und je wilder und fast erschreckend seltsam diese ganze Erscheinung dastand, um so mehr überraschte der tief gutmütige Ausdruck der ein wenig hervorstehenden und schief geschlitzten Augen.
Eine tiefe Stille trat ein.
Michel Bakunin, der russische Wilde, – der König von Sachsen, wie man ihn als Spitznamen von der sächsischen Revolution her nannte, – streckte die Hand gegen die Versammlung aus und sprach mit einer Stimme, deren tiefe Gutturaltöne ein wenig an das Brüllen der Wüstentiere erinnerten, in jenem den Russen eigentümlichen Französisch mit den scharf betonten Konsonanten:
»Ich grüße euch, Freunde und Brüder, im Namen der Erlösung der arbeitenden Menschheit aus den Fesseln, in welche Könige, Priester und Weiber sie geschlagen haben. Ich komme zu euch, um euch zu verkündigen die Grundsätze des neuen Evangeliums, das sich verbreiten muß über die ganze Welt hin, und von dessen Wahrheit die freiesten Geister aller Weltteile durchdrungen sind. Dies Evangelium duldet keine Halbheiten und Unklarheiten. Das Alte muß ausgerottet werden, um dem Neuen Platz zu machen. Die Lüge muß vernichtet werden, um der Wahrheit den Sieg zu schaffen.«
Er hielt einen Augenblick an.
Lautlose Stille herrschte im Zimmer.
Alle Welt war betroffen von dieser eigentümlichen Erscheinung in ihrer wilden Ursprünglichkeit, von dieser rollenden Stimme, von diesen Worten, welche da erklangen wie die Verkündigung aus dem Munde eines Propheten der Vernichtung.
»Die Lüge müssen wir zerstören, meine Freunde und Brüder,« fuhr Bakunin fort, »und damit müssen wir anfangen beim Anfange. Der Anfang aller Lügen, aus denen die Knechtschaft in der Welt geschmiedet wird – ist Gott!«
Ein Rauschen ging durch das Zimmer, wie ein einziger großer Atemzug.
Die ganze Versammlung bog sich zusammen bei diesem gewaltigen Faustschlage, den der tartarische Prophet so ohne Vorbereitung gegen das Grundfundament alter Gesellschaftsordnungen führte, welche im Lauf der Jahrtausende das Leben der Völker geregelt haben.
In einzelnen Herzen klang dieses gewaltige Wort der Verneinung wie ein Trost, wie eine letzte Befreiung von Skrupeln und Bedenken, welche hier und da noch sich erhoben im Kampfe gegen die Schranken des Bestehenden. – Andere fühlten sich bis ins Innerste hinein erbeben bei dieser wilden Kriegserklärung des Geschöpfes gegen den Schöpfer – alle, welche eine ideale Verbesserung der menschlichen Gesellschaftszustände erstrebten, zitterten bei diesem Bekenntnisse, das jeden idealen Aufschwung ausschloß und die Zukunft der Menschheit in den Abgrund des rohesten Materialismus hinabstürzte.
»Die Könige und die Priester,« fuhr Bakunin fort, »haben seit Generationen in die Geister und Herzen der Menschen den Glauben an einen über dieser Welt thronenden Gott eingeimpft. Sie haben den Menschen die Vorstellung beigebracht, daß nach ihrem Leben eine zweite Existenz beginnen würde, in welcher der von den Tyrannen erfundene Gott sie bestrafen würde mit ewigen Qualen, wenn sie den zu ihrer Knechtung geschaffenen Gesetzen hier auf Erden nicht gehorcht hätten.
»Dieser Gott ist weiter nichts als ein Scherge der absoluten Tyrannei, als ein Gespenst, das man erscheinen läßt, um durch Lockungen oder Drohungen neun Zehnteile der Menschheit von einem Zehnteile abhängig zu machen. – Gäbe es einen Gott, meine Freunde,« rief er mit wildem Klang der Stimme, »wahrlich, dieser Gott müßte damit anfangen, den Blitzstrahl, den man ihm ja in die Hand gibt, herabzuschleudern, um die Throne zu zertrümmern, an deren Stufen man die geknechtete Menschheit in Ketten schmiedet, um die Altäre zu zerschlagen, von denen aus man die Wahrheit mit lügnerischen Weihrauchwolken verhüllt. – Reißt darum aus euren Herzen den Glauben an Gott, den die Priester von Jugend auf in euch gesenkt haben wie einen Angelhaken in die Eingeweide eines Fisches, denn so lange noch eine Spur von diesem törichten Aberglauben in euch lebt, werdet ihr nie zur wahren Freiheit gelangen!«
Die tiefe Stille im Zimmer wurde nur durch die Atemzüge der Versammelten unterbrochen. Barlins scharfes Auge verfolgte umherspähend den Eindruck der Worte Bakunins. – Tolain saß mit gebeugtem Haupt schweigend da.
»Habt ihr,« fuhr Bakunin fort, »den Glauben an Gott und die Furcht vor diesem Schreckensgespenst der Priester in euren Herzen vernichtet, habt ihr die Überzeugung gewonnen, daß das Wesen eurer Existenz ebenso wie diese ganze Welt, die euch umgibt, gebildet ist durch die nach dem Gesetz der Schwere und der Attraktion bedingte Zusammensetzung der Atome, so habt ihr den ersten und wichtigsten Schritt zur Freiheit getan und werdet leicht in euch den Glauben an die zweite Lüge zerstören, welche die Tyrannei erfunden.
»Die erste Lüge war Gott – die zweite Lüge ist das Recht!
»Die Macht, um sich Dauer und Bestand zu sichern, erschuf die Fiktion des Rechts, des Rechts, das sie selbst nicht achtet, das nur die Schranke bilden soll, um die schüchterne Dummheit der Masse von jedem Angriff zurückzuhalten.
»Die Macht, meine Freunde, ist das einzige Fundament der Gesellschaft, die Macht gibt das Gesetz und hebt es wieder auf – und die Macht, meine Freunde, ist bei uns, sie ruht in den Händen der Majorität dieser neun Zehnteile der menschlichen Gesellschaft, deren überlegene Kraft von dem einen Zehnteil unterjocht wird, weil dies eine Zehnteil die lügnerische Fiktion des Rechts zu seiner unnatürlichen Herrschaft benutzt und euch alle daran gewöhnt hat, vor dem Recht eure Häupter und Arme zu senken. Durchdringt euch mit dem Gefühl und dem klaren Bewußtsein eurer Macht, zertrümmert diesen Götzen des Rechts, welcher selbst bei vielen von euch noch aufrecht dasteht, die längst die Lüge des nebelhaften Gottes der Priester erkannt haben. – Habt ihr die Furcht vor Gott verbannt – habt ihr die kindische Achtung vor der Fiktion des Rechts vernichtet, dann werdet ihr wie dünne Fäden alle jene übrigen Ketten zerreißen, mit welchen man euch in die Knechtschaft geschmiedet hat – die Ketten, welche man nennt Wissenschaft: – Zivilisation – Eigentum – Ehe – Gesetz!
»Euer Gesetz ist euer Wille, aber um dieses Gesetz zur Anerkennung zu bringen und das richtige Verhältnis zwischen der Majorität und der Minorität der Menschheit wieder herzustellen, müßt ihr alles zertrümmern, was in den tausendjährigen Bauten der Staats- und Gesellschaftsordnung aufgerichtet ist.
»Erzieht euch selbst, erzieht eure Kinder in diesen Grundsätzen der Wahrheit, damit, wenn der große Augenblick des Schlages gekommen ist, um die neue Welt aufzurichten, euer Blick nicht geblendet werde durch die falschen Truggebilde, welche die Tyrannen des Thrones und Altares vor euch aufsteigen lassen.
»Ich fordere euch nicht auf, etwas zu beschließen oder zu tun – die Negation ist die Bedingung für das Heil der Zukunft –, euer erstes Werk muß die Zerstörung sein – die Vernichtung alles Bestehenden. – Verneint alles – denn ihr müßt alles zerstören lernen, das Gute mit dem Schlechten, denn wenn nur ein Atom von der alten Welt übrig bleibt, so wird die neue niemals erbaut werden. –
»Haben doch jene Priester, als einst die große Zerstörungsflut über die Menschheit hereinbrach, das Märchen erfunden von jenem Noah, der durch ihren Gott ganz besonders errettet wurde – nur damit der Samen und Keim der alten Lügenherrschaft hinüber wuchere in die neue Welt.
»Wenn ihr einst,« fuhr er mit fast brüllender Stimme fort, »das Werk der Zerstörung beginnt – wenn die Fluten der lange geknechteten Massen sich vernichtend daher wälzen werden über die Tempel und Paläste, – dann, meine Freunde, tragt Sorge, daß in keiner Arche ein Atom jener Welt, die wir der Vernichtung weihen, hinüber gerettet werde.«
Er schwieg, ließ noch einmal seinen aus Gutmütigkeit und wahnsinniger Wildheit gemischten Blick über die Versammlung gleiten und trat zum Tisch des Vorstandes zurück.
Einige Augenblicke blieb alles schweigend unter dem Eindruck seiner Worte. – Dann erhoben sich die Stimmen brausend wie der Sturm – Tolain sprang auf, sein sonst so scharfes Auge sprühte Flammen – er erhob die Hand – er wollte sprechen – aber eben so gut hätte man zu den vom Orkan aufgewühlten Wogen des Ozeans sprechen können oder zu den im Kampf der Elemente am Himmel zusammengeballten Wetterwolken, als zu dieser Versammlung.
Barlin saß schweigend da und blickte mit kaltem Lächeln in den Tumult.
Tolain erhob endlich den Hammer, der vor ihm lag, ließ ihn mit tönenden Schlägen auf den Tisch niederfallen und erklärte die Versammlung für geschlossen.
Niemand hörte diese Erklärung – niemand beachtete sie – alles sprach, schrie und gestikulierte. Gruppen auf Gruppen verließen den Saal und man hörte im Hof und auf der Straße die lauten Stimmen weitertönen.
Bakunin hatte das Zimmer ebenfalls verlassen, – ein Mann in blauer Bluse, mit einem gemeinen, von wilden Leidenschaften und gemeinen Debauchen zerrissenen Gesichte, dessen unterer Teil von einem dichten blonden Bart bedeckt war, folgte ihm in einiger Entfernung bis zu einer kleinen Straße in der Nähe der Boulevards des Batignolles, wo der tartarische Agitator in ein kleines, unscheinbares und schmutzig aussehendes Restaurationslokal eintrat. –
Als das Zimmer in der Rue des Gravilliers leer geworden, packte Tolain schweigend die auf den Tischen liegenden Bücher und Papiere zusammen und schloß sie in einen großen Kasten, der in einer Ecke stand – dann grüßte er mit mildem und tief traurigem Lächeln seine Gefährten und schritt in die Nacht hinaus, indem er leise vor sich hin sprach: »Das ist der Anfang vom Ende!«
Der Mann in der blauen Bluse, welcher Bakunin verfolgt hatte, begab sich nach dem Faubourg St. Antoine und stieg dort die dunklen Treppen eines vierstöckigen Hauses hinauf. Er trat in ein kleines Zimmer, eine einfache Arbeiterwohnung. Aus einem verschlossenen Schrank, welcher nebst einem Bett, einem Tisch und einigen Stühlen das Ameublement dieses Zimmers bildete, nahm er einen schwarzen Rock und hohen Hut, kämmte seinen verwilderten Bart und verließ nach kurzer Zeit fast unkenntlich verändert das Haus.
Er ging raschen Schrittes nach der Polizeipräfektur, zeigte dem Huissier eine Karte und wurde trotz der vorgerückten Stunde in das Kabinett des Herrn Pietri eingeführt.
Eine Stunde später erschien ein Trupp von fünf bis sechs Sergants de Ville, begleitet von zwei Kommissären in Zivil, in dem Hause Nr. 44 der Rue des Gravilliers. Der Concierge, welchem die Kommissäre eine schriftliche Ordre vorzeigten, zog sich schweigend zurück – man stieg zu dem Zimmer im Hinterhause hinauf, welches einige Zeit vorher der Schauplatz so bewegter Szenen gewesen war – man öffnete mit Leichtigkeit die Tür und fand ebensowenig Widerstand an dem einfachen Schloß des Kastens, in welchem die Papiere des Zweigvereins von Paris verwahrt waren. Die Kommissäre nahmen die Papiere zu sich – man legte die Siegel an die Tür und bald war diese ganze Angelegenheit beendet, ohne daß die übrigen Bewohner des Hauses irgendetwas Außerordentliches bemerkt hätten.