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Vierzehntes Kapitel.
Die Fahnen von Burgund.

Die gelbgraue Dämmerung des heiteren Junimorgens senkte sich über ein seltsam stilles, seltsam schweigendes Paris herab. Wohl lagen etliche gute Bürger friedlich in ihren Betten, die Mehrzahl von ihnen befand sich aber draußen auf den Wällen. Denn vor der Stadt tobte seit Anbruch der Nacht die Schlacht zwischen den Truppen König Ludwigs unter dem Oberbefehl des Großkonnetabels und dem Heer des Herzogs von Burgund und seiner Verbündeten. Paris glich der Stadt des Schlafes, von der uns arabische Märchen künden, oder dem Schloß Dornröschens, das auf den Kuß des Erlösers harrt. Hätte Asmodäus seinen Flug über Paris genommen und im Interesse eines Reisegefährten, den er im Schlepptau führte, die Dächer abgedeckt, so hätte er die meisten Wohnungen so leer gefunden wie die Straßen.

Nur an einer Stelle der Stadt, an einem öffentlichen Platz zwischen dem Fluß und der Kirche der Cölestianer, herrschte reges Leben. Der Platz war leer, aber zwei Männer arbeiteten angestrengt an einem eigenartigen Werk: sie legten die letzte Hand an einen schönen, großen, stattlichen Galgen, zu dessen Plattform hohe Stufen hinaufführten. In schroffstem Gegensatz zu diesem düsteren Gerüste war an der Seite der Kirche eine Estrade errichtet worden, die reich mit rotem, von Lilien durchwirktem Samt geschmückt war.

Als die beiden mit dem Galgen beschäftigten Männer ihr Werk vollendet hatten, traten sie auf den freien Platz und reckten die Glieder. Der eine war lang und dürr wie eine Pappel; er trug dunkle Kleider und fiel auf durch einen um den Hals getragenen Rosenkranz mit riesigen Perlen, die er ab und zu eifrig durch seine Finger gleiten ließ. Der zweite stand in so gründlichem Gegensatz zu ihm, als ein Karikaturenzeichner es sich nur hätte wünschen können. Er war ein kurzer, dicker, in fröhliche Farben gekleideter, beweglicher Mensch voll Heiterkeit und Übermut. Jeder zufällig vorübergehende Pariser hätte in den zweien sofort die beiden gefürchteten Helfershelfer Tristans l'Hermite erkannt, dessen Oberhelfer Trois-Echelles – drei Sprossen – und Petit-Jean. Trois-Echelles war der lange, leichenhaft aussehende, Petit-Jean der kurze, drollige Henker, aber wenn es drauf und dran kam, henkten beide gleich vorzüglich.

Jetzt holte Petit-Jean unter der Plattform des Galgens einen Krug Wein hervor, führte ihn an den Mund, tat einen gewaltigen Zug, seufzte befriedigt auf und reichte ihn dann seinem Amtsbruder mit den Worten: »Trink und sei fidel!«

Trois-Echelles schüttelte ablehnend und mißbilligend den Kopf, griff aber mit den Händen zu, tat ebenfalls einen tiefen Zug und seufzte so traurig als sein Freund lustig.

»Ich will wohl trinken, aber lustig kann ich nicht sein. Welchen Wert hat es denn, einen so schönen Galgen zu bauen, wenn ihn kein Mensch ansieht? Man könnte ja gerade so gut eine Kirche bauen!«

Petit-Jean lachte gutmütig.

»Ganz Paris ist auf den Wällen und sieht sich die Schlacht an. Glückliches Paris!«

Trois-Echelles lachte übellaunig.

»Nicht so besonders glücklich, wenn wir die Schlacht verlieren.«

Aber Petit-Jean war entgegenkommend: »Mag siegen, wer will – der Sieger braucht uns doch immer, um den Unterlegenen aufzuknüpfen. Faß doch auch die gute Seite ins Auge!«

Trois-Echelles ließ seinen Rosenkranz täppisch durch die Finger gleiten.

»Ich kann dir nur sagen, daß mir alle Freudigkeit abhanden gekommen ist, weil ich eine ganze Woche lang keinen einzigen Menschen gehenkt habe.«

Während er noch mit diesem betrübenden Rückblick beschäftigt war, hatte sich die Tür eines dicht an der Kirche gelegenen kleinen Hauses geöffnet, und ein altes Mütterchen war herausgetreten, das nun, auf einen Stock gestützt, über den Platz hin nach der Kirche humpelte. Petit Jean kannte sie wohl, denn seine Dachstube lag dicht neben der ihren. Er wußte genau, daß sie die Mutter des größten Taugenichts von Paris, des Schurken François Villon, war, der nun zum großen Jammer seiner Mutter, Gott allein wußte wohin, verschwunden war. Fröhlich begrüßte er sie: »Ich wünsche Eurer Schlafhaube einen guten Morgen! Habt Ihr Euer verlorenes Schaf gefunden?«

»Man sagt, er sei verbannt, aber er hat mir Geld geschickt – Gott segne ihn dafür –, obgleich ich es natürlich nicht anrühre, weil es vielleicht unrecht Gut ist.«

Trois-Echelles ließ seinen Rosenkranz ruhen und trat ihr mit ausgestreckter Hand entgegen.

»Gebt es mir, dann lasse ich Messen dafür lesen,« sagte er.

Aber Petit-Jean hüpfte zwischen die beiden.

»Gebt es mir, dann vertrinke ich's,« schlug er vor.

Doch die alte Frau beachtete ihre Vorschläge gar nicht. Ihre Augen waren auf das düstere Bauwerk in der Mitte des Platzes gefallen, und nun fragte sie: »Für wen habt ihr denn diesen Galgen errichtet?«

Der trübsinnige Henker erwiderte mißgestimmt: »Dumm genug, daß wir das selbst nicht wissen. ›Errichtet mir dort einen Galgen und eine Estrade für die Majestäten und ihr Gefolge,‹ sagte der Konnetabel zu mir.«

Mutter Villon, deren mäßige Neugierde damit befriedigt war, machte den Herren einen Knicks und humpelte die zur Kirche führenden Stufen hinan.

Petit-Jean reckte und streckte sich gähnend: »Jetzt will ich ein wenig schlafen und mir träumen lassen, ich knüpfte einen König auf.«

»Hochverrat, Freund! Wenn dich Tristan hörte!«

Petit-Jeans Augen blinzelten lustig.

»Na, dann wollen wir sagen, einen Erzbischof!« sagte er.

Trois-Echelles nickte beifällig.

»Ein Erzbischof sollte ein gutes Ende haben.«

Sein Gemüt gefiel sich in der Vorstellung, einen hoben Würdenträger der Kirche im vollen Ornat in seine sanfte Obhut zu nehmen und mit seinem frommen Zuspruch zu erbauen.

Die beiden Henker kletterten nun auf die Plattform des schrecklichen Gerüstes und waren wenige Minuten später, unbekümmert um die Beschaffenheit ihres Lagers, fest eingeschlafen. Sie schnarchten so fröhlich, als sei der letzte Mensch gehenkt und sie hätten nun nichts mehr zu tun, als es sich wohl sein zu lassen bis zu ihrem seligen Ende.

Arbeit und Wein hatten sie so müde gemacht, daß sie sich auch durch die Schritte nicht stören ließen, die bald darauf ertönten und deren Schall auf dem einsamen Platz doppelt laut erklang – es waren die raschen, ungeduldigen Schritte einer Frau und die eines Mannes, der ihr leise nachschlich.

Die Frau war Katharine von Vaucelles, der Mann Noel le Jolys.

»Warum verfolgt Ihr mich?« fragte sie, und Noel, der ihr vom Palast aus Schritt für Schritt gefolgt war, erwiderte rasch: »Ihr sollt nicht unbeschützt und allein über die Straße gehen. Deshalb bin ich Euch gefolgt, wie Euer Schatten.«

Verächtlich wies ihn Katharine zurück.

»Ihr tut gut daran, den Schatten zu spielen, denn Ihr werft selbst keinen. Die Straßen sind leer – die Straßen sind ruhig. Ich ziehe das Alleinsein Eurer Gesellschaft entschieden vor. Laßt mich vorbei – ich will meine Gebete verrichten.«

Noel war nämlich zwischen sie und die Kirche getreten, so daß er ihr den Eingang versperrte.

»Wollt Ihr für Euren Geliebten beten?« fragte er, worauf Katharine ihn anfuhr: »Daß Ihr so fragt, verrät eine kleine Seele und niederen Sinn, aber ich denke groß genug, Euch zu antworten. Ich will für einen tapferen Mann beten, den meine Augen niemals wieder schauen werden.«

Ihr Herz blutete, während sie so sprach, und bittere Tränen standen in ihren Augen. Ihre Gedanken wandten sich zurück nach der langen, schlaflosen, traurigen Nacht. Sie sah sich wieder wartend am Fenster sitzen und in den Rosengarten hinunterblicken, sah sich wieder mit den müden Augen vergeblich in das nächtige Dunkel hinausspähen, mit den müden Ohren vergeblich hinauslauschen nach einem Ton, der ihr Kunde brächte von der Schlacht, in der der Gebieter ihres Herzens sein Leben für sie und das Vaterland einsetzte. Denn jetzt wußte sie es: ihm gehörte ihr Herz zu eigen; in den so langsam dahinkriechenden verzweiflungsvollen Stunden dieser Nacht hatte sie erkannt, daß er, den sie ihren Feind nannte, der Mann ihres Herzens war. Trotz ihres Zornes über den Betrug, den man an ihr verübt hatte, liebte sie ihn. Sie liebte nicht den großen, vornehmen Herrn, sie liebte nicht den verkommenen Dichter, der Arm und Schwert in ihren Dienst gestellt hatte – sie liebte ganz einfach den Mann – mochte er heißen, wie er wollte, mochte er sein, was und wer er wollte, der es verstanden hatte, ihr Herz zu gewinnen und festzuhalten. Die Katharine von gestern war gestorben und begraben mit all ihrem stolzen Denken und Empfinden, und aus ihrem Todeskampf war die neue Katharine erstanden, die mit klarem Blick in die Welt sah und verstand, mit geläuterter Seele das Große und Wahre in einer andern Seele zu erfassen.

Noel begriff ihr Verstummen nicht, und achtlos störte er den hohen Flug ihrer Gedanken.

»Auch ich bin ein tapferer Mann,« sagte er, wohlgefällig auf seine Brust schlagend. »Ich habe heute nacht Thibaut von Aussigny bezwungen. Der König hat mir seine Huld wieder zugewendet. Habe ich gestern den Narren gespielt, so kann ich morgen den klugen Mann spielen. Ich war ein Esel, ein Schafskopf, wenn Ihr wollt, aber ich habe nichts Schlimmes gegen den König geplant, und er ist mir wieder gnädig gesinnt. Warum könnt Ihr dies nicht auch sein?«

Katharine sah sich aus ihren Träumen wieder auf die Erde herabgezogen, und der Mensch war ihr verächtlich.

»Nein, denn Ihr beneidet einen großen Geist, und dieser Neid erniedrigt Euch.«

Noel widersprach verdrießlich: »Er ist doch auch kein Halbgott! Er ist aus demselben Ton gemacht wie Adam und wir andern alle.«

Katharines Gedanken waren weit weg von ihrem Begleiter; im Geiste sah sie flatternde Fahnen, aufeinanderprallende Lanzen, hörte das Gedröhne der Schwerter auf den stählernen Panzern, das Klingen von Stahl auf Stahl. Ihre Phantasie ersah inmitten des ärgsten Gewühls eine leuchtende Gestalt in lichtem Panzer, wie Erzengel Michael mit stolzem Lächeln auf den Lippen daherreitend, aber der Mann trug schweres Leid in seinem Herzen und barg auf seiner Brust ein Stückchen weißen Bandes.

Sie antwortete nicht auf Noels Worte, aber auf ihre eigenen Gedanken.

»Mein Stolz hat das Recht, ihn zu hassen, aber trotzdem gehört ihm meine Seele.«

Eben wollte Noel erwidern, als er plötzlich zurückfuhr und seine Mütze herunterriß. Auf der Kirchtreppe stand die schwarze, gebeugte Gestalt des Königs, der soeben von seiner Morgenandacht kam, und hinter ihm standen seine beiden Schatten Tristan und Olivier.

Katharine, deren Aufmerksamkeit durch Noels Verhalten erregt worden war, trat zurück und machte eine tiefe Verbeugung vor Ludwig, der langsam die Stufen herabgestiegen kam. Spöttisch betrachtete der König das Paar.

»Guten Morgen, meine Freunde,« grüßte er. Dann wendete er sich an Noel und befahl: »Eilt, so schnell Ihr könnt, nach Sankt Antonius und bringt mir Nachricht über den Stand der Schlacht.«

Noel verbeugte sich und rannte fort, seinen Auftrag auszuführen. Katharine aber bat: »Haben Eure Majestät die Gnade, mich zu entlassen.«

Tristan und Olivier hielten sich bescheiden im Hintergrund, im Schatten des Galgens, des Baues, der ihren Herzen von allen der liebste und in ihren Augen der heiligste war.

Ludwig trat dicht auf das bleiche Mädchen zu und flüsterte: »Verlangt es Euch so sehr nach Eurer Morgenandacht, daß Ihr nicht einige weltliche Worte an mich verschwenden könnt? Zürnt Ihr mir noch wegen des Streiches, den ich Euch gespielt habe?«

Katharines bleiches Gesicht bedeckte sich mit dunkler Röte, während sie antwortete: »Es wäre verlorene Mühe, einem König zu zürnen.«

Ludwig grinste.

»Eure Antworten kommen so flink wie die des Küsters bei der Frühmette. Könntet Ihr mir vielleicht jetzt Euer Herz schenken, wenn ich mein Knie vor Euch beugte?«

Ein tiefer Seufzer hob Katharines Brust.

»Ich habe mein Herz heute nacht verloren und noch nicht wiedergefunden.«

Mit verächtlicher Heiterkeit schlug Ludwig die Hände zusammen.

»Es war verrückt von dem Kerl, seiner Zunge so die Zügel schießen zu lassen. Ich hätte den Spaß gern noch weiter getrieben, aber er stellte sich auf den Ehrenstandpunkt und wollte Euch nicht gewinnen, ohne zu beichten.«

Des Mädchens Herz schlug höher.

»Ich freue mich, daß er so viel Ehrgefühl hat,« sagte sie, und die lichte Gestalt in der leuchtenden Rüstung glich mehr einem Erzengel als je zuvor.

Ludwig blickte sie scharf an, indem er sein Kinn mit dem Zeigefinger streichelte. Dann sagte er: »Wenn Ihr in der Kirche auf seine Rückkehr wartet, könnt Ihr sehen, wie der Scherz endet.«

Katharine machte dem König eine tiefe Verbeugung und schritt langsam in die Kirche; jeder Pulsschlag war ein Gebet für den verlorenen Geliebten. Sie bemerkte kaum, daß ein altes Mütterchen, das, auf einen Krückstock gestützt, an ihr vorüberhumpelte, der vornehmen Dame einen höflichen Knicks machte und dann seinen Weg in die schweigende Straße fortsetzte. So trafen die beiden Frauen, die Villon in der Welt am meisten liebte, zum ersten Male zusammen.

Allein geblieben, winkte Ludwig seine Begleiter Olivier und Tristan wieder herbei.

»Gevattern, dort geht eine tapfere, eine schöne und keusche Dame. Sie segelt unter hohen Breitegraden auf dem Meer der Liebe und würde es wohl verdienen, an der Insel des Glückes zu landen. Könnten wir mit Meister Villon nichts Besseres anfangen, als ihn hängen?«

Olivier widersprach.

»Dieser Villon ist ein so geriebener Schuft und Achselträger, daß er bei der blöden Masse schon viel beliebter ist als Ihr.«

Der König zog ein schiefes Gesicht.

»Das schon ist Grund genug, ihn aufzuknüpfen. Und doch habe ich eine gewisse Zuneigung zu dem Burschen. Auch mein Traum beirrt mich – der Stern, der vom Himmel fiel.«

Tristan äußerte seine Ansicht kurz und bündig: »Hängt den Halunken, solange Ihr könnt, und dankt Gott, wenn Ihr ihn glücklich wieder los seid.«

Noch hatte er nicht ausgesprochen, als lautes Schreien und Getöse das Herannahen einer großen Menschenmenge verkündigte. Von den Wällen her ließen sich Hufschlag und die Schritte vieler Menschen unterscheiden. Von der andern Seite, aus der Straße, die nach dem Louvre führte, klangen die Tritte marschierender Soldaten herüber.

Olivier erklärte die eine Unterbrechung und sagte: »Das Volk kommt von den Wällen zurück.«

Und Tristan erläuterte die andre: »Die Königin, Majestät,« verkündete er.

Aus der engen Straße, die auf den offenen Platz mündete, kam ein Trupp Soldaten, die reichgeschmückte Sänften geleiteten – die Tragstühle der Königin und ihrer ersten Damen. Ludwig näherte sich der ersten Sänfte, half der Königin aussteigen und geleitete sie mit geflissentlich zur Schau getragener Fürsorge auf die riesige Estrade, wo sie sich nebeneinander auf den kleinen, für sie errichteten Thronen niederließen. Die Damen und Herren vom Hofe nahmen ihre Plätze hinter dem Königspaar ein, während vorn die schottischen Armbrustschützen eine starke Schutzwehr bildeten.

Durch die schmale, nach den Wällen führende Straße kamen als Vorläufer der zurückströmenden Menge jubelnd einige begeisterte Patrioten gerannt. Diesem Tumult war selbst der schwere Schlaf von Trois-Echelles und Petit-Jean nicht gewachsen. Gähnend wachten sie auf, rieben sich die Augen, reckten und streckten sich, standen auf und betrachteten sich, an die Brüstung des Galgens gelehnt, gemütlich die Vorgänge, die sich unten auf dem Platz abspielten.

Noel le Jolys bahnte sich einen Weg durch die Menge und drang bis zum König vor.

»Majestät,« verkündete er, »der Tag ist unser! Der Großkonnetabel kehrt im Triumph zurück. Ihr hört schon die Klänge seiner Musik.«

Der König nickte.

»Es ist gut,« sagte er ernst.

Nun strömte das Volk schreiend und jubelnd auf den Platz. Männer, Weiber und Kinder, eine jubelnde, begeisterte Menge, drängten sich gegenüber dem Hochsitz des Königspaares. Alles schwang Blumen in den Händen und fuchtelte mit den Armen in der Luft herum, wozu mit vollster Lungenkraft »Hoch!« gebrüllt wurde. Die Militärmusik und das Geräusch marschierender Menschen kam immer näher und wurde immer lauter.

Fünf Mädchen war es gelungen, sich einen Platz in der vordersten Reihe, der Estrade gerade gegenüber, zu erobern; sie schrieen und jubelten mit den übrigen. Es waren die fünf leichten Dämchen aus dem »Tannenzapfen«: Isabeau, Jehanneton, Denise und Blanche, nebst Guillemette, des dicken Robin Turgis dicke Tochter. Sie waren alle ziemlich aufgeregt, denn ihre Liebhaber waren nebst der Äbtissin über Nacht spurlos verschwunden. Allerdings sorgten sie sich nicht sehr um das Geschick ihrer Helden, denn für diese wurde es ab und zu einmal nötig, sich unsichtbar zu machen, um dem Auge des Gesetzes zu entgehen, und gerade jetzt ahnten die Mädchen, daß etwas Großes im Werk war, das von schwerwiegenden Folgen für die Bruderschaft sein konnte. Was ihre Äbtissin betraf, so war ihr Verschwinden wohl rätselhaft und besorgniserregend, anderseits aber war es gar nicht so übel, ihrer strengen Fuchtel einmal entronnen zu sein, und die Dirnen plapperten und zwitscherten wie fünf dem Käfig entwischte Vögelchen.

Unterdessen hielt die Vorhut des Heeres ihren Einzug auf den Platz und stellte sich vor der Bürgerschaft auf, so daß zwischen ihr und der königlichen Tribüne ein breiter, freier Raum blieb. Aus allen Fenstern sahen Köpfe heraus, winkten Hände und wurden Blumen geworfen. Das Geschmetter der Militärmusik und das Getrampel von Pferden und Menschen wurde immer lauter, kam immer näher. Und endlich, als das Hochrufen am lautesten ertönte, als der Blumenregen aus den Fenstern am dichtesten fiel, kam Villon auf seinem schweren Schlachtroß herangeritten, und dicht hinter ihm seine fünf Spießgesellen aus früherer Zeit. Ein Zeichen Villons gebot Halt. Leichtfüßig sprang er vom Pferd und näherte sich dem König. Für die Menge war der stattliche Mann in der leuchtenden Rüstung, mit der roten Schärpe um den Harnisch, eine wahre Augenweide. Wohl ruhte sein Blick eine Sekunde lang auf dem schauerlichen Gerüste vor ihm, aber kein Zug seines stolzen Antlitzes veränderte sich. Unmittelbar hinter ihm schritten die fünf zerlumpten Kerle, von denen jeder an Arm, Bein oder Kopf sichtbare Spuren des fröhlichen Kampfes trug, den sie im Namen des Königs dessen Feinden geliefert hatten. Sie waren alle verbunden, aber die Binden, Schlingen und Verbände waren nicht von gewohnter Art: es waren große Stücke schweren, mit Gold und Silber durchwirkten, mit Wappensprüchen geschmückten Seidenstoffes.

Als Villon und sein phantastisches Gefolge vor den königlichen Thron treten wollte, widersetzte sich Noel entrüstet. Weit breitete er seine schützenden Arme vor dem König aus und rief zornig: »Um Gottes willen, Herr, wer sind denn diese Vogelscheuchen, die hier vor des Königs Majestät ihre Lumpen zur Schau tragen?«

Mit belustigtem Lächeln streichelte der König sein Kinn, als Villon erwiderte: »Diese Vogelscheuchen sind Vagabunden, die gleich Edelleuten gekämpft haben, und diese Lumpen sind die Banner des Feindes.«

Bei diesen Worten hatten die Kerls die Seidenstücke von Armen und Beinen und Köpfen gestreift, sie auseinandergebreitet, stolz in der Luft geschwenkt und zu Füßen des Thrones auf die Erde niedergelegt.

»Gut geantwortet,« sagte Ludwig hoheitsvoll, und zwei Herren des Gefolges nahmen die Seidenfetzen sorgsam auf und legten sie ehrfurchtsvoll auf die Brüstung des Geländers vor des Königs Thronsessel, wo sie von der Königin freudigen Auges betrachtet wurden.

Hoch aufgerichtet sprach Villon zum König: »Ludwig von Frankreich, wir bringen dir diese Seidenfetzen als Teppich für deine Füße. Noch vor einer Stunde flatterten sie an burgundischen Fahnenstangen und wehten über burgundischen Helmen. Ich will unsern Sieg nicht eitel rühmen. Burgund hat gut gefochten, aber Frankreich noch besser, und diese Trophäen verkünden unsern Sieg. In den Augen eines Kaufmanns sind diese Fetzen nichts als Stücke verdorbenen Gewebes; in den Augen eines Kriegers aber bedeuten sie zahllose Tote, in Ehren gefallen; in den Augen eines Königs aber bedecken sie einen einzigen Thron mit einsamer Pracht. Wenn wir hier, die wir noch atemlos vom Kampf, und ihr dort, die ihr steht und staunt, längst Staub und Asche sind, wenn unsers Königs Name nur noch mit goldenen Lettern in altersgrauen Chroniken steht, dann werden diese zerfetzten Banner noch an den Säulen der Kathedrale hängen und unsrer Kinder Kindeskinder werden ihre Kleinen emporheben und ihnen die verblichenen Fahnen zeigen, und von den Lippen der Unmündigen und Säuglinge wird der Ruhm unsrer heutigen Schlacht verkündet werden.«


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