Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Der siebente Tag von Villons Wunderwoche war der herrlichste und großartigste von allen. Der strahlend-schöne Juni hatte der Erde keinen lieblicheren Tag gespendet, und kein prächtigeres Gepränge hatte die glorreiche Herrschaft des neuen Großkonnetabel dem Hof und den Bürgern gebracht. Wettspiele, Volksspeisungen, weinspendende Brunnen, phantastische Festaufzüge, groteske Tänze – kurz, all der üppige Mummenschanz, der das Entzücken des fünfzehnten Jahrhunderts bildete, war in verschwenderischer Fülle aufgeboten worden, um den Neigungen der Pariser Bürgerschaft zu schmeicheln und ihre Herzen zu gewinnen. Die Krone des Ganzen aber sollte das italienische Maskenfest werden, das der Großkonnetabel mit Erlaubnis des Königs der Hofgesellschaft in des Königs eigenem Rosengarten geben wollte. Diese berauschende Lustbarkeit sollte mit Sonnenuntergang beginnen und alles überbieten, was je an Pracht, Reichtum und verschwenderischer Gastfreundschaft entfaltet worden war.
Kurz vor Sonnenuntergang saß Villon neben dem König in einem kleinen Gemach des alten großen Turmes, von wo aus der König so gern die Bewegungen der Himmelskörper beobachtete. Den beiden gegenüber standen drei von des Königs zuverlässigsten Anführern: der Graf du Lau, der Graf Poncet von Rivière und der Graf von Nantoillet. Zwischen den Herren, auf dem Tisch, lag eine große Karte der nächsten Umgebung von Paris.
Villon hatte schon dem König und dessen Ratgebern einen Plan entwickelt, dessen Ausführung durch das heutige großartige Fest bemäntelt werden sollte. Nun wies er mit dem Finger auf einen Punkt der Karte, der eine ihm besonders vertraute Örtlichkeit darstellte, eine kleine Schlucht in dem Hügelland. Hier hatte er als Kind gar häufig Feldblumen gepflückt, gespielt und sich versteckt; hier hatte er geträumt, er sei ein Räuber, oder ein großer General, oder ein Märchenprinz, oder sonst eine der tausenderlei Gestalten, die Kinder im Spiel darzustellen pflegen.
»Wenn es uns gelingt, Majestät, den Burgunder in diese Schlucht zu locken,« sagte Villon, »so haben wir gewonnenes Spiel. Hinter der Böschung oben können wir gut tausend Mann verstecken.«
Poncet von Rivière fragte: »Kennt Ihr die Gegend ganz genau?«
»Ganz genau,« versicherte Villon. »Dorthin ging ich, wenn ich die Schule schwänzte, schon als ich Euch noch nicht bis an den Schwertgriff gereicht hätte.«
Wie ein Mann, der jedes Wort abwägt, ehe er spricht, sagte Nantoillet: »Der Plan scheint mir ausführbar, Majestät.«
Mit humoristischer Entschuldigung blickte Villon von der Karte auf und sagte: »Ihr haltet mich natürlich für einen Soldaten aus dem Stegreif, aber ich habe mein Leben lang Strategie getrieben.«
Du Lau erklärte anerkennend: »Graf, Ihr erklärt und überzeugt wie ein erprobter Veteran.«
Über das Lob erfreut, wendete sich Villon an den König.
»Majestät, ich habe es draußen bereits verbreiten lassen, daß der König heute hier ein Fest feiert. Während der Herzog von Burgund glaubt, daß wir ein Trinkgelage halten, machen wir vom St. Antonstor einen Ausfall. Die Hufe unsrer Pferde werden umwickelt, kein Schwert rasselt, kein Zügel klirrt. Wie Schatten huschen wir durch die Nacht. Am Kreuzweg macht ein kleiner Teil von uns einen Scheinangriff auf die linke Flanke des Feindes, bläst aber schleunigst zum Rückzug. Dies wird den Feind zur Verfolgung locken, und auf diese Weise fällt er in unsern Hinterhalt und rennt, wie ich hoffe, in sein Verderben. Bis neun Uhr, meine Herren, lebt wohl!«
Zum Zeichen der Entlassung winkte er mit der Hand, und die drei Offiziere zogen sich zurück. Während sie die Wendeltreppe hinunterstiegen, sagte du Lau zu seinen Gefährten: »Ich weiß nicht, wie es euch ums Herz ist, aber ich habe diesen Glücksritter von Herzen lieb.«
Nantoillet erwiderte herzlich: »Gott mag wissen, woher er kommt und wohin er geht, aber ich würde mit ihm bis ans Ende der Welt reiten.«
»Mein Vater,« bemerkte Poncet von Rivière, »hat mir oft von der Jungfrau von Orleans erzählt und von ihrer Macht über starke, tapfere Männer. Er muß von ihrem Blute sein, denn er gewinnt mich wider meinen Willen.«
Als der Klang ihrer Schritte auf der Treppe erstarb, sagte Villon zum König: »Wenn der Herzog von Burgund in meine Schlinge fällt, wird man mich als großen Feldherrn rühmen, und doch habe ich nichts getan, als mich einer Wiese erinnert, auf der ich mich als Kind getummelt habe. Wie wunderbar, daß nun der Spielplatz eines Straßenjungen zu einem Golgatha des Ruhmes werden soll.«
Scherzend klopfte ihm der König auf die Schulter: »Wo hast du denn deine Weisheit geholt?«
»In der Schule vereitelter Hoffnungen. Selbst als ich noch war, was ich war, habe ich immer daran geglaubt, daß dieser schmutzige Leib einem römischen Geist zur Hülle diene. Meine Phantasie ließ mich wahrhaft olympische Träume träumen – und nun ist der Traum wahr geworden!«
»Du bist ein erstaunlicher Mensch! In einer Woche hast du mich beliebter gemacht, als ich selbst es seit meiner Thronbesteigung fertig gebracht habe. Bei Hof, im Feld und im Rat: überall finden die Leute, daß du ein wahrer Ausbund seist.«
»Ich bin ein Mann aus dem Volke und weiß, was dem Volke not tut. Noch vor einer Woche waren die Bürger der guten Stadt Paris verräterisch genug gesinnt. Ich hebe die Weinsteuer auf, und nun klatschen sie in die Hände und rufen fröhlich: ›Gott erhalte unsern König Ludwig!‹ Noch vor einer Woche waren Eure Soldaten zur Meuterei geneigt, weil sie schlecht genährt, noch schlechter gekleidet wurden und niemals ihren Sold erhielten. Ich nährte sie gut, kleidete sie warm, zahlte ihre Löhnung aus, und nun gehen sie mit mir zum Teufel, wenn ich den Marsch dazu pfeife.«
»Aber mittlerweile verrinnt der Sand deiner Uhr. Verläßt dich der Mut? Verlangsamt sich dein Herzschlag?«
»Nicht die Spur! Mit Ehren habe ich die Versetzung von der Spelunke in den Palast bestanden und meine Stellung ausgefüllt. Selbst wenn nun das Schlimmste zum Schlimmen kommt, kann ich mit dem sterbenden Cäsar sagen: Klatscht mir Beifall!«
Der König grinste höhnisch und quiekte: »Wird denn das Schlimmste zum Schlimmen kommen? Wie steht es denn mit deiner Bewerbung um Dame Katharine?«
Ein Lächeln spielte um Villons Lippen, als er erwiderte: »Majestät, kein kluger Mann wird je behaupten, das Herz eines Weibes zu kennen.«
»Aber wenn es dir fehlschlägt?« beharrte Ludwig.
Villons Lächeln nahm einen mehr philosophischen Ausdruck an. Im Grunde seines Herzens war er voll Hoffnung und Zuversicht, aber er drückte sich behutsam aus.
»Nun, dann habe ich morgen abend, wenn der Mond aufgeht, meine Ruhe gefunden. Aber jedenfalls habt Ihr mir eine königliche Woche gespendet, und ich habe das Möglichste und Beste aus ihr gemacht; ich habe tausend Leben gelebt, meinen süßen Kuchen bis auf die letzte Krume verzehrt und Bedeutung und Sinn des Königtums kennen gelernt.«
Ludwig lachte.
»Du sprichst, als hättest du ein Jahrhundert regiert.«
Villons ernste, philosophische Stimmung vertiefte sich immer mehr.
»Ein Mann kann tausend Jahre leben und regieren und doch nicht höher eingeschätzt werden als der erste beste Lebemann. Wer es dagegen versteht, die Süßigkeit und den Duft jeder einzelnen Stunde in sich aufzunehmen, alle seine Kräfte aufs äußerste anzuspannen, alle Möglichkeiten auszunützen, alle Fähigkeiten zusammenzupressen und nutzbar zu machen, hat groß gelebt, und lebte er auch noch so kurz. Übrigens bleibt Ende Ende, ob es nun auf den beschwingten Sohlen einer Woche herbeieilt oder im langweiligen Schneckengang eines ganzen Jahrhunderts herangekrochen kommt.«
Ludwig lehnte sich in seinen Sessel zurück und blickte seinen Gefährten verwundert an.
»Bete zu Gott, daß deine Philosophie auch standhält, wenn dein Hals in der Schlinge steckt.«
»Der Witz Eurer Majestät und mein Wunsch ziehen an einem Strang.«
Gleichmütig ging Ludwig auf einen andern Gegenstand über, als wäre das Leben, Lieben und Sterben selbst eines Großkonnetabels weiter nicht von Belang.
»Heute nacht bringt mir Messire Noel einen neuen Astrologen. Die Himmel scheinen sich verschworen zu haben, die Sterne befinden sich in einem unentwirrbaren Durcheinander! Mein Traum von dem vom Himmel fallenden Stern spottet jeder Deutung.«
Mitleidig sah ihn Villon an.
»Seid Ihr denn dieser Himmelsdoktoren immer noch nicht überdrüssig geworden?« fragte er.
Ludwig schaute finster drein, wie er es immer tat, wenn etwas wie Zweifel an der Wissenschaft der Sterne laut wurde.
»Mach keine faulen Witze, Herr Dichter,« sagte er, »sondern sieh lieber zu, daß deine Werbung bei der stolzen Käthe zu gutem Ende führe, denn das schwöre ich dir, erringst du sie nicht, so baumelst du morgen. Nun laß mich allein, denn ich muß arbeiten, während du dich vergnügst.« Damit beugte er sich über die Karte und schien sich so darin zu vertiefen, daß er für nichts andres mehr Sinn hatte.
Schweigend betrachtete ihn Villon noch einen Augenblick, dann verließ er das Gemach und begab sich über die Wendeltreppe in den Garten.
Unter feurigen Gluten erstarb die Sonne in dem Rosenmeer; ihre letzten Strahlen fielen auf Gott Pans Gesicht und verliehen ihm einen Schein von Leben – er schien spöttisch zu lächeln. Tausende von Blüten hauchten ihre Düfte in die warme Sommerluft, und von fernher, aus dem Palast, ließ sich das Gesumme und Getöse vieler froher Stimmen vernehmen. Es war nur kurz vor der Zeit, wo der Rosengarten für die Gäste des Königs geöffnet werden sollte.
Villon pflückte eine Rose und blickte sinnend in ihr glühendrotes Herz, als wollte er das Geheimnis ergründen, das jede Blume in ihrem Kelche birgt und das doch noch keine einzige dem verlangenden Auge eines Dichters geoffenbart hat. Sinnend lehnte er sich an die Statue des Pan.
»Die Blütenblätter meiner Herrschaft fallen ab voll Farbe, voll Leben. Wird es mir gelingen, dies herrliche Weib zu gewinnen? Ist es Wahnsinn, zu hoffen? Verliere ich, so beschließt in kurzer Frist ein langer Strick den blendenden, glänzenden Traum.«
Schaudernd schleuderte er die Rose weit fort.
»Wie frostig die Juniluft weht und welchen Grabesduft diese Rosen aushauchen!« Er schwieg, bis die Hoffnung in seinem Herzen das Haupt wieder ein wenig hob. »Aber wenn ich gewinne, wie wird es dann sein? Die Königin meines Herzens mein Weib, in geordnetem Leben altern, neu aufleben mit den Kindern auf meinem Schoß! Hier ein kleiner François, viel besser als sein Vater; dort eine kleine Katharine, nicht weniger lieblich als ihre Mutter!«
Mit den Händen wehrte er diese Bilder ab.
»Kehrt zurück auf euren Spielplatz im Schattenland, wohin ihr gehört, ihr Kinder meiner Phantasie, denn morgen wird vielleicht euer Vater gehängt, und heute nacht muß er um Leben und Liebe kämpfen.«
Durch ferne Musikklänge wurde Villon aus seinen Gedanken aufgeschreckt. Ein prunkhaft gekleideter Herold trat auf die Terrasse und gab durch wiederholte Trompetenstöße das Zeichen zum Beginn des Festes. Sofort überschwemmte ein vielfarbiger, fröhlicher Menschenstrom die Wege und Baumgänge des Gartens. Die sonderbarsten Erscheinungen, die eine kühne, abenteuerliche Einbildungskraft nur zu ersinnen vermochte, mischten sich bunt durcheinander. Satyrn und Narren, Clowns und Teufel – alles wirbelte und wogte Fackeln schwingend, Zimbeln schlagend und mit Klappern knarrend, hüpfend und tanzend, jauchzend und lachend vorüber. Gesetztere Geister mengten sich, Masken vor dem Gesicht, in dunkle Mäntel gehüllt, unter die bunte Menge und suchten und fanden ihr Vergnügen in Mystifikationen und Intrigen.
In Villons Gürtel steckte eine Maske. Er band sie vor, mischte sich in das Gedränge und ließ sich von dem Strom treiben. Seine leichtentzündliche Phantasie fand reiche Nahrung in den eigenartigen Gestalten und Klängen, die ihn umrauschten. Das Traumgefühl, das ihn die ganze Woche über nicht völlig verlassen hatte, umfing ihn an diesem Abend fester denn je zuvor, und alles huschte an ihm vorüber wie die Gebilde eines Traumes.
Plötzlich wurde seine Aufmerksamkeit durch eine ihm bekannt klingende Stimme erregt. Ein als Pilgrim aus dem Heiligen Lande verkleideter Mann, mit der Muschel des Pilgers an der Schulter, war mit einer andern, ganz ebenso gekleideten Maske zusammengetroffen. Das Paar tauschte seine Begrüßungen in einer Sprache aus, von der füglich zu vermuten gewesen wäre, daß sie von niemand verstanden würde, der sich in des Königs Garten erging. Gleichwohl klangen ihre Laute für Villons Ohren bekannt, denn es war der Jargon, dessen sich die Bruderschaft der »Muscheln« größerer Sicherheit halber unter sich zu bedienen pflegte.
Der erste Pilger fragte den zweiten: »Was trägst du in deiner Pilgertasche?«
Und der andre erwiderte: »Ich trage eine Muschel.«
Wieder fragte der erste: »Was trägst du in deiner Hand?«
Und der zweite entgegnete: »Ein Stück Stahl.«
Der erste fragte weiter: »Willst du auf des Königs Gesundheit trinken?«
Schnell und entschieden kam die Antwort des andern: »In einer Kanne Burgunder.«
Darauf grüßten und trennten sich die beiden Pilger und waren sofort verschwunden in dem Gewühl.
Villons Neugierde war aufs lebhafteste erregt.
»Wie in aller Welt,« fragte er sich, »ist es denn möglich, daß Leute, die die Gaunersprache des ›Wunderhofes‹ sprechen, zum Fest in des Königs Rosengarten kommen?«
Er suchte den einen oder andern der beiden Pilger wieder aufzufinden, aber all sein Bemühen war umsonst. Sein Hin- und Herwandern führte ihn zu dem Fuß der Terrasse, an den unter dem Schutze Pans stehenden Platz zurück. Hier war es einsam und menschenleer; der Strom hatte sich anderswohin verlaufen. Auf der marmornen Ruhebank lag eine Laute. Villon setzte sich, nahm das Saitenspiel auf und ließ eben seine Finger lässig darüber gleiten, als er leichte Schritte vernahm und die süßeste Stimme der Welt, die Stimme des Fräuleins von Vaucelles, der eine Menge Damen folgten, zu ihm sagte: »Im Namen dieser Damen habe ich eine Gunst von Euch zu erbitten.«
Villon verbeugte sich tief.
»Mein Ohr ist ganz Gehorsam,« sagte er, »und mein Herz eitel Huldigung.«
»Ihr seid Dichter, Graf,« sagte Katharine, »und heute haben wir einen Abend, der einem Dichter wohl gefallen kann. Macht uns ein Gedicht, das dieses Sommerabends würdig ist.«
Ein leichter Seufzer hob Villons Brust.
»Kein Gedicht, das je gedichtet ward, ist eines Sommersonnenstrahls oder eines Sommermondscheins würdig, aber ich habe lange in der Provence geweilt, wo jeder Mann eine Nachtigall ist, und bin dort vom Fieber der Improvisation angesteckt worden. Über was soll ich dichten?«
Lachend deutete Katharine auf die Damen ringsum.
»Eure Bittsteller sind Damen! Also über nichts Besseres und nichts Schlechteres als die Liebe.«
»Die Last der Welt,« sagte Villon. »Seufze, meine Laute, seufze!«
Leicht glitten seine Finger über die Saiten und entlockten ihr leise klagende, wehmütige Töne, dann begann er, nur ab und zu einen Ton anschlagend, zu rezitieren:
Kennst du wohl das glückliche Land,
Wo jetzt Apollo die Saiten spannt?
Und wo Diana im grünen Tal
Blickt auf den Geliebten im Mondenstrahl?
Wo Venus vergnüglich der Liebe pflegt,
Wo pfeifend Pan in den Busch sich legt?
Wo sind die Götter von gestern geblieben?
Hat denn ein Wind sie hinweggetrieben?
Wo ist das Grab denn in aller Welt,
Das gefangen Semiramis hält?
Wo ist Cäsars köstlicher Staub?
Wem fiel Kleopatras Haar zum Raub?
Des Alexander Wagemut
Und der Rotbart, der Held so gut,
Der geziert seinen eisernen Thron?
Alles schwand wie ein Traum davon!
Wo ist das Weib, das Herodes küßte?
Wo modert Phrynes herrliche Büste?
Wo sind Kassandras Reste geblieben?
Wohin hat Didos Asche getrieben?
Und auch Tomyris zerstob im Wind?
Welchen Geist mag jetzt Helena lieben?
Wo sind die Mädchen von gestern geblieben?
Alle die Liebenden, Paar um Paar,
Bliesen die Winde hinweg fürwahr,
So jung und so flink, so zärtlich und schön –
Wo ist der Schnee, den wir gestern geseh'n?
Die kleine Gruppe, für die er gesprochen hatte, verweilte einen Augenblick in ergriffenem Schweigen.
Katharines Augen leuchteten wie Sterne am Sommerhimmel, und ihre halbgeöffneten Lippen gemahnten Villon an reife Granatäpfel; ihre Seele wandelte auf der Insel der Seligen mit den Liebespaaren, zu deren Preis Villon gesungen hatte. Dieser selbst zerstreute die melancholische Stimmung mit einem Scherz: »Holde Damen,« sagte er, »mein Sang ist gesungen. Blickt nicht so traurig drein, denn ihr könnt mir glauben: übers Jahr fällt neuer Schnee und legt sich weiß und leicht über die Gräber toter Liebender. Das Gestern ist tot, und das Morgen kommt nie.«
Er stahl sich nahe zu Katharine heran und flüsterte ihr ins Ohr: »Drum laßt uns heute leben und lieben!«
Aus ihrem Traumland zur Erde herabgezogen, schreckte sie zusammen und blickte ihn an. Er aber wandte sich an die andern mit den Worten: »Schöne Damen, wollen wir nicht in die große Halle gehen und die italienischen Komödianten sehen?«
Die Damen umringten ihn und dankten für sein Lied, dann flatterten sie wie leichtbeschwingte, buntschillernde Vögel auseinander und eilten die Stufen zur Terrasse hinauf. Währenddessen tauchte aus dem duftenden Rosengarten die Gestalt eines Pilgrims auf, der, unentschlossen, wohin er seine Schritte lenken solle, einen Augenblick zauderte, ehe er über den mondhellen Rasen schritt. Er bemerkte Katharine, die im Schatten stand, erst, als er beinahe auf sie stieß. Dann sah er sie an und verschwand mit einem halb unterdrückten Ausruf eiligst im Dunkel.
Katharine stieß einen Schrei aus und lief auf Villon zu, der am Fuße der Treppe auf sie wartete.
»Graf,« rief sie, »diese Maskerade macht einen Gespenster sehen! Ich möchte darauf schwören, daß mich soeben Thibaut von Aussignys Augen aus der Kapuze eines Pilgers heraus angestarrt haben!«
Villon runzelte die Stirn.
»Eine häßliche Erscheinung, denn man sagt, er liege tot im burgundischen Lager.«
Katharine schauderte.
»Ich habe ihn stets gehaßt und gefürchtet. Hoffentlich wird er, wenn er wirklich tot ist, nicht bei mir umgehen. Ach, heute abend surrt mir der Kopf wie eine zu hoch gestimmte Laute.«
»Wir wollen heute abend an nichts Böses denken, nicht wahr,« bat Villon. »Wollt Ihr die Schauspieler sehen?«
Katharine schüttelte den Kopf.
»Nein, ich bin mehr in der Stimmung für Monden- als für Kerzenschein.«
Schweigend blickte Villon sie an, und dies sekundenlange Schweigen hatte für beide die Bedeutung von Stunden. Beider Herzen waren von seligen Hoffnungen und beglückenden Gedanken erfüllt.
»Darf ich eine Frage an Euch richten?« sagte Villon, und das Mädchen erwiderte: »Gewiß!«
»Seid Ihr zufrieden mit mir?«
»Ihr habt viel getan.«
»Es bleibt mir noch mehr zu tun. Sieben Tage habe ich mit der Größe gerungen wie Jakob mit dem Engel; ich habe den König beliebt gemacht, die Pariser königstreu, die Armee zuverlässig …«
»Warum verzieht Ihr dann hier, wo die Höflinge Feste feiern und die Damen tanzen?«
Mit stolz anschwellender Stimme erwiderte er: »Weil der Herzog von Burgund glauben sollte, des Königs Günstling sei ein Hansnarr und des Königs Hofhalt die reine Orgie, wo des Königs Ehre vergehe wie eine Perle im Essigkrug. Aber unsre Schwerter sind im Wein gestimmt und geschärft, um klingende Tanzmusik aufzuspielen – noch heute nacht reiten wir!«
Das Mädchen seufzte. »Wäre ich doch ein Mann und könnte mit Euch reiten!«
Villon trat nahe an sie heran und sah ihr fest ins Auge.
»Ich reite Euch zu Ehren. Der Himmel ist mir hold gewesen, und ich diene Euch, indem ich Frankreich diene. Vielleicht diene ich heute allen beiden zum letzten Male!«
»Zum letzten Male?« wiederholte sie.
»Genau so, holde Nymphe Echo. Die Laternen dort in der Ferne mahnen mich, daß ich morgen sterben kann. Wenn die Sonne wieder aufgeht, wird mancher von uns seinen letzten Traum träumen – vielleicht bin ich unter denen, die so tiefen Schlaf tun.«
»Nun ja, Ihr könnt fallen im Kampf für König und Vaterland, aber auch ich kann sterben, die ich in meinem Zimmer sitze und mich in Gram verzehre.«
»Um wessentwillen?«
»Das werde ich Euch morgen sagen.«
Sanft faßte Villon sie bei der Hand und deutete auf die vom Monde hell beschienene Sonnenuhr an dem altersgrauen Turm, deren lateinische Inschrift deutlich zu lesen war: » Dum Spectas, Fugit Hora, Carpe Diem.«
»Der gegenwärtige Augenblick ist die beste Zeit. Diese Sonnenuhr ist so weise wie der Weiseste.« Und rasch übersetzte er den alten Spruch in fließende Reime:
»Die Stunde, merk dir's, nie verweilt.
Drum nütz' den Tag, wer es vermag.
Die Sonne bleibt, die Zeit enteilt
Nach vorwärts immer, nach rückwärts nimmer.«
Katharine versuchte zu lachen.
»Diese Weisheit war schon alt, als Noah in seiner Arche über die Gewässer segelte,« sagte sie und wich etwas von ihm zurück.
Aber er folgte ihr.
»Laßt den morgigen Tag seine eigene Plage haben, seine eigene Geschichte erzählen! Heute abend ist mir zu Mute wie einem glücklichen Kind im Märchenland. Heute abend sind wir unsterblich, Ihr und ich, und wandeln für immer und ewig unter diesen fühllosen Sternen in diesem grünen Garten, atmen die mit Rosenduft geschwängerte Luft und suchen die Rätsel der Welt zu ergründen.«
»Morgen könnt Ihr sagen, was Ihr wollt,« flüsterte sie, aber damit gab sich Villon nicht zufrieden.
»Ach nein! Morgen werde ich todnüchtern sein, und heute abend bin ich göttlich trunken – trunken von Sternenwein, von Blumen- und Sangeswein. Die Sterne versengen mein Gehirn, die Rosen zerstechen mein Fleisch, die Gesänge verwirren meine Seele. Heute abend würde ich, wenn ich es wagte, mein Herz erleichtern können.«
So leise, daß nur das Ohr eines Liebenden die Worte zu vernehmen vermochte, sprach das Mädchen: »Auch heute abend könnt Ihr sagen, was Ihr wollt!«
Villon preßte die Hand aufs Herz, als ob er es gewaltsam in der Brust festhalten müßte.
»Wenn ich morgen sterben müßte, würde ich heute abend zu Euch sagen: Ich liebe Euch. Das Wort ist leicht gesagt, aber dennoch zittert mein Herz, während ich es ausspreche, denn es klingt so stark und so mächtig wie ein Schicksalsspruch. Die Menschen sind solche Toren, daß sie nur ein Wort haben für tausenderlei Empfindungen und dies arme Wort Liebe zu allerlei Werkeltagsarbeit erniedrigen müssen. Aber ich würde es heilig halten, um damit die Flamme zu nähren, die der Himmel manchmal in dem einen Herzen entzündet zur Ehre und Anbetung eines andern. Nie habe ich gewußt, was Liebe ist, bis ich an einem herrlichen Junimorgen erstmals das Antlitz eines gewissen Mädchens erblickte, und in diesem Wissen schmolz die Rinde meines Herzens. Der Gott in mir erwachte, den Gott zu grüßen, der aus Euren Augen strahlte. Ich liebe Euch! Dies würde ich sagen, wenn ich morgen sterben müßte.«
Nun stand er dicht neben ihr, Aug' in Auge. Offen erwiderte sie: »Wenn Ihr morgen sterben müßtet, würde ich Euch heute abend sagen: ein Weib mag einen Mann lieben, weil er tapfer ist, oder schön von Gestalt oder klug, oder gut – aus tausend und abertausend Gründen. Aber der beste Grund, einen Mann zu lieben, ist für ein Weib, daß sie ihn eben liebt, ohne Wissen und Verstand, weil es der Himmel so gewollt, daß sein Wille auf Erden erfüllt werde, und weil des Mannes Hand die rechte Größe hat, ihr Herz zu halten für immer.«
Die Hände der Liebenden waren fest ineinander verschlungen, die Lippen der Liebenden waren drauf und dran, sich zu finden. Aber Gott Pan lächelte und spottete, denn er wußte wohl, daß die Lippen Liebender manchmal doch nicht zusammentreffen, wenngleich sie nur noch um die Breite eines Rosenblattes voneinander entfernt sind.
»Katharine,« flüsterte Villon und zog sie näher an sich heran. Liebe, Glück, Leben – alles drängte sie in seine Arme wie ein Heiligtum.
Überwältigt von dem Glück, das so plötzlich über sie gekommen war, achteten die beiden Liebenden nicht auf den Fußtritt, der sich von der Terrasse her näherte, und fuhren erst auseinander, als die Stimme Noel le Jolys' erklang.
»Wo ist der Schnee von gestern geblieben?« sagte Noel, als er die Stufen herabkam und zu ihnen trat.
Wütender Zorn tobte in Villons Herz, aber er nahm sich zusammen und strafte den Störenfried mit Verachtung.
»Da kommt Euer weiß- und rotgeflecktes Herrgottskäferchen,« sagte er zu Katharine, dann machte er, Noel zugewandt, eine verächtliche, scheuchende Handbewegung und sang dazu:
»Marienkäfer, flieg auf, Marienkäfer, flieg auf,
Komm nimmer herab vor Ostertag!«
Noels rosiges Gesicht färbte sich purpurrot, und seine wohlgepflegte weiße Hand fuhr nach dem Degengriff. Mut genug hatte das gezierte Männchen, und für sein Leben gern hätte er es auf einen Zweikampf ankommen lassen, aber trotzdem unterdrückte er seinen Grimm und sagte nur: »Monseigneur, zu jeder gelegenen Zeit bin ich bereit, Degen und Wort mit Euch zu messen, jetzt aber bin ich hier um einer mir von dieser Dame gewährten Unterredung willen.«
Villon spottete seiner Drohung: »Dämpft den Mannesmut, der Euren kühnen Busen schwellt, damit Ihr nicht in Gefahr geratet, vor einer Dame den brüllenden Löwen zu spielen.«
Die beiden Männer standen sich gegenüber, Aug' in Auge, wie gereizte Hunde, die jeden Augenblick bereit sind, einander an die Kehle zu springen. Widerstrebend zog Katharine ihre Hand von Villons Arm zurück.
»Graf,« flüsterte sie, »er hat mich um eine Unterredung gequält. Mit Euch spreche ich noch, ehe Ihr reitet.«
»Wir brechen um neun Uhr auf,« erwiderte er leise, »vergeßt dies nicht.« Dann sah er Noel an und fuhr in lauterem Ton fort: »Bis dahin werde ich mich mit der Abfassung meines Testaments beschäftigen und, um der Nachwelt Rätsel aufzugeben, tausend Nichtsen tausenderlei Nichtigkeiten vermachen. Auch Ihr sollt meine Großmut rühmen, Messire Noel.« Und dann begann er höhnisch aus dem Stegreif zu deklamieren:
»Den sie Noel der Hübsche genannt,
Dem sei eine Erbschaft zugewandt;
Von jenen, denen gewesen er teuer,
Soll erben er ein Schiff ohne Steuer,
Dazu eine Straße ohne Haus,
Eine Scheide, aus der kommt kein Schwert heraus,
Eine Uhr ohne Zeiger, ohne Worte ein Buch,
Einen Kranz ohne Blatt, ein Bett ohne Tuch,
Eine Tafel ohne Speise, eine Glocke ohne Schlag,
Eine Säge ohne Zähne ihm zufallen mag.
So mögt Ihr das Wesen des holden Wichts
Erkennen in Wahrheit: daß er ein Nichts!«
Achselzuckend drehte ihm Noel den Rücken zu. Obwohl er vor Wut kochte, wollte er doch gleichgültig erscheinen.
»Und mir vermacht Ihr nichts?« flüsterte Katharine, und Villon erwiderte: »Jetzt und immerdar das Herz meines Herzens.«
Damit drehte er sich auf dem Absatz herum und verschwand in den nächtlichen Wegen des Rosengartens.
Hochfahrend wendete sich Katharine an Noel und fragte: »Nun?«
»Seit einiger Zeit muß ich Euch stets suchen und finde Euch schwer,« beklagte sich dieser.
Katharine schüttelte den Kopf, daß ihre Zöpfe zitterten wie Blätter im Mondenschein.
»So sehr hat die Welt noch nicht gealtert, daß die Frauen das Werben besorgen müßten.«
»Ich erfreue mich Eurer Gunst nicht mehr,« klagte Noel, »seit dieser hergelaufene Mensch an allerhöchster Stelle den Narren spielt.«
»Ich hasse Euch nicht darum, daß Ihr über ihn herzieht, aber meine Liebe gewinnt Ihr dadurch nicht.«
Noel hielt das Wort fest.
»Einst habt Ihr mich geliebt,« behauptete er.
Mitleidig schüttelte sie den Kopf.
»Wir warfen mit großen Worten um uns, wie Kinder mit ihren bunten Bällen. Es ist leicht und manchmal auch angenehm, zu sagen ›Ich liebe dich‹, aber die bunten Bälle rollen in den Winkel und die Kinder vergessen sie, wenn die Tage der Kindheit entschwinden.«
Trauer und Erbitterung trübten Noels glatte Züge.
»Also habt Ihr mich sozusagen ausgewachsen?« fragte er.
Katharine zog sich von ihm zurück, bis ein breiter Streifen Mondschein sich zwischen ihnen dehnte, und erwiderte: »Noch vor einer Woche glich mein Herz einer Knospe – heute hat es sich zur Blüte entfaltet.«
Ungeduldig schlug Noel mit den Armen durch die Luft. »Gott sei uns gnädig! Was kann denn dieser Mensch leisten, was ich nicht auch vermöchte? Versteht er es besser, ein Roß zu zügeln oder den Falken steigen zu lassen? Führt er ein schärferes Schwert, oder entlockt er der Laute süßere Töne? Kann er besser tanzen? Mich unter den Tisch trinken? Weiß er besser den Hof zu machen, oder ist er ein besserer Soldat? Nein, nein, tausendmal nein! Und nun soll ich glauben, er könne besser lieben, mich in der Liebe ausstechen?«
Des Wortwechsels müde, begann Katharine die zum Palast führenden Stufen emporzusteigen. Im Hinaufgehen sagte sie ruhig: »Wenn ein Mann am Hof erscheint, lohnt es sich, ein Weib zu sein. Das werdet Ihr eines Tages merken, Messire Noel, wenn Ihr ein Mann geworden seid.«
Noel gab gereizt zurück: »Es ist weiter kein großer Ruhmestitel, der Günstling eines Königs zu sein. Auch Männer, die weniger Wesens von sich machen, vermögen viel zu leisten. Die alte Liebe kann die neue überleben.«
Bei diesen geheimnisvollen Worten runzelte Katharine die Stirn.
»Ihr sprecht gleich einer Sphinx, aber ich bin leider nicht in der Laune, Rätsel zu lösen. Lebt wohl!« Und damit verschwand sie im Portal des Palastes.
Verdrießlich blickte Noel ihr nach.
»Warum sich nur alle Weiber diesem Bramarbas zuwenden wie die Sonnenblume der Sonne?« fragte er sich voll Ärger. »Na, 's gibt der Weiber mehr, und ein kluger Mann pflückt die erreichbarste Traube.«
Auf dem Tisch neben der Marmorbank stand eine Kanne. Noel schenkte sich einen Becher voll und suchte Trost im Wein. Binnen kurzer Frist rief ihn der Dienst zum König, aber er zögerte im Garten in der Erwartung eines erhofften Zusammentreffens.
»Wenn mein Astrologe seine Rolle gut spielt und dem schwachen König sagt, dieser Graf von Montcorbier sei sein böser Geist, so werde ich gerächt werden.«
Seine Gedanken beschäftigten sich mit den Erlebnissen der letzten Woche. Hatte ihn das Fräulein Katharine verächtlich behandelt, so war die Dirne Huguette um so willfähriger gewesen; der »Goldene Schädel« hatte gar häufig die Ehre gehabt, dem zierlichen Kriegsmann seine gastliche Pforte zu öffnen. Huguette war es gewesen, die ihm in anscheinender Herzenseinfalt den Rat gegeben hatte, den Großkonnetabel, über den er beständig klagte, durch einen neuen Astrologen zu beseitigen – sie hatte ihm versprochen, einen Sterndeuter zu beschaffen, der dem abergläubischen König alles beibringen würde, was Messire Noel wünschenswert erscheinen möchte. Der Plan hatte Noel eingeleuchtet, und am heutigen Abend sollte ihm Huguette den Mann bringen, zu welchem Zweck er ihr ein Losungswort gegeben hatte, vermittelst dessen auch Fremde in den königlichen Garten Einlaß finden konnten.
Während er so in seine Gedanken versunken dasaß, trat eine in ein Pilgergewand gekleidete Gestalt vorsichtig aus dem Schatten hervor und betrachtete ihn einen Augenblick. Und der alte Pan sah das unter der Kapuze lächelnde Mädchengesicht mit den glänzenden Augen, von goldenem Haar umrahmt. Als das Mädchen Noel erblickte, band es schnell eine Maske vor, zog den Pilgermantel fester um den schlanken Leib, glitt auf den Fußspitzen dicht an ihn heran und tippte ihn leicht auf die Schulter.
Noel schreckte auf und sah sich, wie er glaubte, irgend einem verkleideten Pilger gegenüber.
»Darf ich Euch um ein Almosen bitten, gnädiger Herr?« fragte Huguette mit verstellter Stimme.
Noel suchte die Zudringlichkeit abzuwehren.
»Geh deines Weges, Pilgrim. Mir steht der Sinn nicht nach Narrenscherzen.«
Er wendete sich ab, aber der beharrliche Pilger folgte ihm.
»Steht Euch der Sinn vielleicht nach Mädchenlippen?«
Ungeduldig blieb Noel stehen.
»Seid Ihr, Pilger, vielleicht im Nebenamt Kuppler?«
Doch des Pilgrims Beharrlichkeit ließ sich nicht so leicht erschüttern.
»Ist sie groß oder klein, jung oder alt, blond oder schwarz, süß oder bitter?«
Mißmutig erwiderte Noel: »Sie hat die Farbe des Chamäleons, ist so alt wie die Welt, reicht bis an eines Mannes Herz und ist bittersüß wie eine zerquetschte Quitte.«
Das Mädchen nahm die Maske ab und warf die Kapuze zurück.
»Hat sie vielleicht meine Größe, Anmut, Alter und Geschmack?«
Sobald er ihr Antlitz erblickte, schrie er vor Freude laut auf.
»Willkommen, Hexe, denn du bringst die beste Liebe in der Welt!«
Damit wollte er Huguette in seine Arme ziehen, aber sie schob ihn sanft zurück.
»Pst! Pst! Ich bin im Augenblick kein Freudenmädchen, keine Kupplerin, sondern ein höchst politischer Verschwörer. Alles geht nach Wunsch. Wir haben einen Hexenmeister bereit für Euren König. Wird Ludwig kommen?«
Noel nickte zuversichtlich.
»Mit Speck fängt man Mäuse. Er lechzt ja nach Sternenkunde. Kann Euer Astrolog seine Lektion?«
»Wie ein Papagei. Wenn alles ruhig ist, so laßt dreimal das Krächzen der Eule hören – dann bringt ihn ein Freund. Er wird den König vor dem Großkonnetabel warnen, Tristan und Olivier loben und Messire Noel le Jolys bestens empfehlen.«
Noel kicherte vergnügt.
»Dann werde ich König sein im Schloß, und du sollst eine große goldene Kette kriegen und Perlen so dick wie die Tränen einer Jungfrau.«
Noel bemerkte die Verachtung nicht, die aus Huguettes Stimme klang, als sie erwiderte: »Ja, Ihr versteht es, Weiber zu gewinnen.«
»Ich bin, Gott sei Dank, kein plappernder Reimschmied,« rief Noel laut, »ich zahle bar!«
Er zog Huguette in seine Arme und versuchte sie zu küssen, aber sie mied seinen Mund beharrlich.
»Ich küsse Euch, wenn Ihr gewinnt,« erklärte sie.
Noel hätte seine Bemühungen fortgesetzt, wenn nicht in diesem Augenblick die große Schloßuhr halb geschlagen und ihn daran erinnert hätte, daß ihn der König erwarte. Nur widerstrebend ließ er von dem Mädchen ab.
»Du bist wirklich ein Politiker,« sagte er, »doch ich muß dem König aufwarten.«
Einen Augenblick blieb er noch zögernd unter der Turmtür stehen und sah bedauernd nach dem Mädchen zurück, das ihn verführerisch anlächelte, dann trat er ein, und die Tür fiel hinter ihm ins Schloß.
Im nämlichen Augenblick veränderte sich der Gesichtsausdruck Huguettes – sie rief ihrem höfischen Verehrer ein verächtliches Schimpfwort nach.
»Du Esel, Schafskopf, Rindvieh, du Pfau, du Tölpel, du Geck,« tobte sie. Damit legte sich ihr Zorn und traurig drehte sie sich um – eines andern Mannes Bild war in ihrem Herzen aufgetaucht und sein Name drängte sich auf ihre Lippen: »Seit François in die Verbannung ging, schmeckt mir die Welt so bitter wie eine faule Apfelsine.«
Ihr Blick fiel auf die Laute, die Villon auf der Marmorbank hatte liegen lassen. Sie nahm sie auf und griff sinnend in die Saiten, während sie die Worte aus Villons Lied vor sich hin flüsterte:
»Ihr Töchter der Freude, die hier ihr euch schart,
Wie seid von Gestalt und von Zügen ihr zart!«
Während sie also beschäftigt war, kehrte Villon von seinem Gang durch den Rosengarten zurück und erblickte die verhüllte Gestalt. Sofort fiel ihm die sonderbare Unterredung der beiden Pilger wieder ein, die er belauscht hatte.
»Da haben wir ja wieder einen dieser Pilger,« sagte er bei sich, entschlossen, dem Geheimnis auf den Grund zu kommen. Rasch ging er über den Rasen, trat zu der Gestalt und grüßte sie.
»Sei gegrüßt, kleiner Bruder!«
Huguette sprang auf und erwiderte leichtfertig: »Sei gegrüßt, kleine Schwester!«
»Warum ›kleine Schwester‹?« fragte Villon etwas verwundert.
»Wenn ich Euer Bruder bin, müßt Ihr doch meine Schwester sein. Aber Ihr sprecht außer der Litanei.«
»Was schadet's, wenn Ihr die Antwort gebt?«
Huguette zuckte die Schulter.
»Ich werde Euch nicht mehr als ›Guten Abend‹ sagen,« erklärte sie, und wollte sich entfernen.
»Ihr sollt mir nicht Euren Rücken zeigen, ehe ich Euer Gesicht gesehen habe,« sagte er.
Und ehe ihn das Mädchen daran hindern konnte, hatte er ihr die Maske vom Gesicht gerissen. Staunend sah er sich Huguette gegenüber und rief, von der Überraschung hingerissen, ihren Namen aus. Verwundert darüber, erkannt worden zu sein, trat sie dicht an ihn heran.
»Wer seid Ihr?« fragte sie.
Statt jeder Antwort nahm Villon seine Maske ab.
Huguette sah ihm fest ins Gesicht; anfangs ohne ihn zu erkennen, dann aber schlang sie laut aufjubelnd ihre Arme um seinen Hals.
»François, geliebter Teufel, wo hast du denn all diese Zeit über gesteckt? Sie haben behauptet, du seiest verbannt! Wie tapfer du bist! Wo hast du denn all diese Herrlichkeit zusammengestohlen? Hast du Börsen gemaust, oder bist du unter die Mäntelmarder gegangen?«
Villon suchte den Strom ihrer Fragen einzudämmen, indem er selbst fragte: »Was treibst du denn hier, Äbtissin?«
»Der schöne Schafskopf Noel hat eine wochenlange Leidenschaft für mich gefaßt und ich halte ihn zum Narren. Küsse mich!« drängte sie und näherte ihr Gesicht dem seinen. Villon warf seinen Kopf in den Nacken.
»Du solltest deine Küsse für den schönen Schafskopf Noel sparen.«
Zornig fuhr Huguette zurück.
»Als du noch so arm warst wie eine Kirchenmaus, bist du nicht so heikel gewesen. Hat dich irgend eine vornehme Dame bezaubert? Kannst du nur noch lieben, was in Samt und Seide steckt? Wenn nur der Kern süß ist, was liegt dann an der Schale? Der Himmel erbarme sich! Warum sollte denn dich irgend ein Weib lieben?«
Villon schenkte ihrem Ärger gar keine Beachtung, sondern wiederholte nur seine Frage: »Was treibst denn hier, Äbtissin?«
Des Mädchens Zorn verflog so rasch wie ein Regenschauer im April. Mit zärtlichem Lächeln wendete sie sich ihm wieder zu.
»Na, ich kann deinem lieben, guten Gesicht ja mein Herz doch nicht verschließen – also höre: René von Montigny hat einen großen Streich vor, und du kommst noch gerade recht, wenn du mittun willst.«
»Was für einen Streich?« forschte Villon weiter.
»Der schöne Schafskopf Noel hat auf meinen Rat hin den König überredet, heute nacht, wenn alles wieder ruhig ist, einen neuen Sterndeuter zu empfangen. Noel glaubt, daß der Sterngucker dem König raten werde, den Großkonnetabel an die Luft zu setzen und dagegen Messire Noel warm zu betten; aber die Muschelbrüder planen Größeres. Haben wir erst den König in Griffweite, so packen wir ihn, bringen ihn aus Paris hinaus und verkaufen ihn nolens volens an den Herzog von Burgund.«
Villon hielt den Atem an.
»Wirklich ein großartiger Streich!« rief er aus. »Aber wer ist denn dieser Sterndeuter?«
»Thibaut von Aussigny,« erwiderte sie, »der die Nachricht von seinem Tod aussprengen läßt, aber lebt und sich rächen will.«
Villon sprang auf – es fiel ihm ein, was Katharine zu sehen geglaubt hatte.
»Dann war er's also doch!« rief er.
Huguette berichtete weiter.
»Noel wird uns durch dreimaligen Eulenschrei das Zeichen geben.«
In Villons Kopf wirbelten die verschiedenartigsten Gedanken so durcheinander, daß er kaum auf sie hörte.
»Die Geschichte mit dem Sterndeuter könnte alles zu meinem Vorteil wenden! Das ist ein seltener Glücksfall!« sprach er vor sich hin, während er lebhaft erregt auf und ab ging. »Ich brauche nur nichts zu sehen und nichts zu hören, und der gute Thibaut schleppt heute nacht den guten Ludwig fort und liefert ihn dem guten Burgunderherzog aus, und dann ist es morgen früh nichts mit dem Hängen.«
Das Mädchen ging hinter ihm drein und hielt ihn schließlich am Ärmel fest.
»Von was schwätzest du denn eigentlich?« fragte sie.
Ohne ihrer zu achten, ging Villon weiter und flüsterte: »Wenn sie unter sich dem Gevatter Ludwig den Hals abschneiden, ist die Welt einen verdrehten König los, mir aber steht es frei, Katharine zu gewinnen, ich kann Paris halten und werde der erste Mann in Frankreich sein …«
»François, so sprich doch mit mir!« bat Huguette, aber sie bat vergeblich.
»Man könnte sagen, ich sei ein Narr, wenn ich mir eine solche Gelegenheit entschlüpfen ließe, aber ich habe etwas Neues kennen gelernt, etwas, das ›Ehre‹ heißt, und um meiner Dame willen darf ich diese nicht verlieren.«
Nun warf sich ihm Huguette in den Weg und unterbrach sein rastloses Auf- und Abrennen.
»Ja, Kind, ja.«
»Was liegt denn dir daran, was mit dem verrückten König geschieht?«
»Äbtissin, dabei muß ich auch die Finger im Spiel haben. Äbtissin, willst du mir, alten Zeiten zuliebe, ein Geheimnis bewahren?«
Mit einem Blick voll inniger Liebe sah das Mädchen zu ihm auf.
»Ich werde stets tun, was du willst.«
»Ich habe Lust, bei diesem Unternehmen auch eine Rolle zu spielen. Ich bin der König der Muschelbrüder und bin nun zurückgekommen, um meine Herrschaft wieder auszuüben. Gib mir dein Pilgerkleid, Mädel, und merke dir: Kein Wort davon zu irgend einem der Bruderschaft! Ich will meinem Freund Thibaut eine Überraschung bereiten.«
Noch während er sprach, zog er ihr den Pilgermantel aus, und nun stand Huguette in dem altbekannten grünen Männeranzug vor ihm.
»Versteck dich unter den Rosen, bis der Spaß losgeht!« rief er. Sie aber schlang ihre Arme um seinen Hals.
»Geliebter François,« sagte sie noch, dann eilte sie fort und verschwand in dem von Wohlgerüchen erfüllten Dunkel der Nacht.
»Die Dirne ist behende wie ein Hase,« sagte er, und damit war Huguette für ihn erledigt.
»Nach welcher Seite sich die Wagschale wohl neigen wird?« fragte er sich. »Auf der einen Seite das Leben eines großen Königs, auf der andern die Ehre eines armen Dichters. König, Bettler – Bettler, König!«
Einen Augenblick blieb er noch stehen und ließ alle Möglichkeiten an seinem inneren Auge vorüberziehen. Alles in allem genommen, schuldete er Ludwig nichts. Dieser hatte ihn zu seinem Spielzeug gemacht und führte eine schmachvolle Posse mit ihm auf. Aus hellem Hohn hatte er ihn mit Ehren überschüttet, hatte ihn mit einem göttlichen Traum gefoltert. Gelang es ihm, François, nicht, das Herz eines Weibes zu gewinnen, so wurde er am nächsten Morgen gehenkt und die Raben flogen um seinen Kopf. Er brauchte nur Thibaut von Aussigny seinen Plan ausführen und den alten schwarzen Fuchs in die Falle gehen lassen, so war er der Herr von Paris und konnte, gestützt auf seine allgemeine Beliebtheit, mit dem königlosen Königreich nach Belieben schalten und walten und war aller Strafe ledig. Dies war eine blendende, eine verlockende Aussicht.
»Warum auch nicht?« fragte er sich. Im nächsten Augenblick erhoben sich aber die Gründe für dieses »Nicht« so gewaltig in ihm, daß er sie nicht mehr zu verscheuchen vermochte. Er hatte sein Wort gegeben und diesem abenteuernden König Treue gelobt. Er hatte sein Wort gegeben! Noch vor acht Tagen wäre ihm dies nicht von Belang gewesen, aber jetzt wußte er, was Ehre ist, und all seine Lebensanschauungen hatten sich von Grund aus geändert im Sonnenschein der Liebe eines edlen Mädchens. Was ihm gestern möglich, ja sogar angenehm gewesen wäre, war ihm heute unmöglich geworden. Er flüsterte ihren Namen »Katharine – Katharine«, und dieser Name wirkte wie ein Zauberwort und half ihm, der fast übermenschlichen Versuchung zu widerstehen.
Er wandte sich dem Turm zu und wollte diesen eben betreten, als die Tür aufgerissen wurde und er Noel gegenüberstand. Erstaunt starrte Noel seinen Nebenbuhler an, aber dieser faßte ihn am Handgelenk. Der armselige Papagei war doch ein zu anständiger, tapferer Kerl, als daß er Thibaut von Aussignys Lockvogel hätte sein können.
»Messire Noel,« sagte Villon, »ich muß Euch etwas ins Ohr sagen.«
Damit zog er ihn ins Innere des Turmes, wo er ihm in der Dunkelheit Mitteilungen machte, bei denen Noels Herz bis in den Hals hinauf schlug. Dann verließ ihn Villon und eilte die Wendeltreppe hinauf in des Königs Zimmer. Sobald er allein war, öffnete Noel, dessen Kopf von den wunderbaren Neuigkeiten schwindelte, die Tür aufs neue und trat hinaus. Er hielt seine Hände wie ein Sprachrohr vor den Mund und ließ dreimal, in kurzen Pausen, das Krächzen einer Eule vernehmen. Dann zog er sich in den Turm zurück und eilte ebenfalls mit laut pochendem Herzen die Treppe hinauf, die zu des Königs Zimmer führte.