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Erstes Kapitel.
Im Wirtshaus »Zum Tannenzapfen«.

Die warme Juniluft schien in der düstern Kneipstube der Wirtschaft »Zum Tannenzapfen« all ihre Frische, Klarheit und Reinheit eingebüßt zu haben, gleich einem gefallenen Engel. Die schöne warme Juniluft war hier immer stickig wie von Weinhefe, roch nach Schinken und Käse und war dick und schwer, als ob der Atem all der Schurken und Vagabunden auf ihr lastete, die seit der Eröffnung der Schenke, unseligen Angedenkens, hier ihr Unwesen getrieben hatten. Die hin und wider huschenden Lichter des im Herde flackernden Feuers bildeten in dem Dunst unruhige Schattengestalten, die aussahen wie lange dürre Hände, und es schien, als ob sie sich bald öffneten, um zu mausen, bald zusammenballten, um hinterrücks zu erdolchen. Doch die Stammgäste schienen sich hier wohl genug zu fühlen in der von Miasmen erfüllten Luft, und Meister Robin Turgis, der fette, von seinem eigenen Wein halb beduselte und von der Hitze schweißtriefende Wirt, beobachtete sie schmunzelnd und watschelte schläfrig hin und her. Zwischen das Geplapper und das Geklirr der Humpen und Kannen hinein erscholl lautes Gelächter und Gejohle, schrilles Reden und Schreien, ab und zu durch kräftige Flüche unterbrochen, was alles dem Wirt beweisen konnte, wie wohl sich seine Stammgäste im »Tannenzapfen« fühlten. Meister Robins geistige Fähigkeiten waren äußerst beschränkt, und seine Gedanken bewegten sich gemächlich auf der Bahn des geringsten Widerstands. Mochten die Burgunder mit gewappneten Fäusten an die Tore von Paris pochen, mochte die funkelnagelneue Krone Ludwigs XI. wieder von seiner Stirn gleiten – dem nichts weniger als achtbaren Robin galt es alles gleich, solange es nur dem »Tannenzapfen« nicht an Gästen fehlte.

An diesem Abend befand sich so viel Gesellschaft in dem Schankzimmer, daß selbst er sich befriedigt fühlte. Allerdings war die Gesellschaft nicht von der Art, wie sie ein kluger Mann bei sich zu sehen gewünscht hätte, aber dieser Wirt war entzückt von ihr, denn sie trank gründlich und streute das Geld mit vollen Händen aus. Robins Ansicht nach ging es ihn ebensowenig an, woher das Geld kam, das hier den Besitzer wechselte, als wie das reichlich genossene Getränk auf Hirn und Magen seiner Kunden wirkte. Wäre er von einem Wächter des Gesetzes nach seinen Beziehungen zu der geheimnisvollen »Bruderschaft der Muscheln« gefragt worden, deren Räubereien und Diebstähle der Stolz des »Hofes der Wunder« Cour des Miracles, Hof der Wunder; Freistätte der Pariser Gauner und Bettler, wo die Blinden sehen und die Lahmen gehen können. Anm. d. Übers. und das Entsetzen der wohlhabenden Bürger waren, so hätte er seine fetten Schultern gezuckt, seinen runden Kopf geschüttelt und alle und jede Beziehung zu einer solch ungesetzlichen Vereinigung in Abrede gestellt. Und doch legte sich sein Gesicht in tausend lächelnde Fältchen, wenn sein Blick auf gewissen hervorragenden Mitgliedern dieser Bruderschaft ruhte – wild aussehenden Männern in schäbig eleganten, über und über mit Weinflecken besudelten Kleidern.

Es waren ihrer fünfe; vier davon saßen an einem Tisch in der behaglichsten Ecke des Gemaches, in der Ecke, die durch die hochlehnige Bank gegen die Hitze des Feuers geschützt war, in der Ecke, die dem Haupteingang zunächst lag, so daß man, falls man es wünschte – was oft geschah – schnell hinausgleiten konnte, und zunächst den rotverhangenen Fenstern, so daß man, falls man es wünschte – was höchst selten geschah – einen Mund voll frischer Luft aus erster Hand bekommen konnte. Robin Turgis kannte sie alle und fürchtete sie alle. Gleichwohl kam er gut mit ihnen zu Streich, weil sein Beauner Wein so süffig war, und weil er es verstand, reinen Mund zu halten.

Da war der schlanke René von Montigny, in einem schäbigen, verschossenen, purpurroten Samtwams, mit seinem boshaften italienischen Gesicht und seiner glatten italienischen Anmut; der rundliche Guy Tabarie, plump, rot und kahl; der große, vogelartige Casin Cholet mit seiner Storchengestalt und seinem Raubvogelgesicht: ferner Jehan le Loup, Johann der Wolf, der so wölfisch aussah, wie sein Spitzname klang – diese alle beäugte und katalogisierte Robin mit einer Art von Stolz. Immerhin war es ein gefährliches Vorrecht des »Tannenzapfen«, sich solcher Gönner zu rühmen. Auf der Bank lag, das Gesicht dem Feuer zugewendet, vergessend und vergessen Colin von Cayeulx in trunkenem Schlaf ausgestreckt: ein harmlos und gutmütig aussehender Schurke, der aber weder harmlos noch gutmütig war.

Jeder einzelne der Bande hatte ein Frauenzimmer da, außerdem war aber noch ein überzähliges vorhanden, das der Stern und Mittelpunkt der glänzenden Gesellschaft zu sein schien. Der schäbig prunkhaften Aufgeblasenheit der Männer entsprach die schäbig prunkhafte Aufgeblasenheit von fünfen der sechs Weibsbilder. Es waren lächerlich aufgedonnerte, geschminkte freche Dirnen – würdige Gefährtinnen der widerlichen Kerle, in deren Armen sie lagen. Da war Jehanneton, die schöne Kappenmacherin, dann Denise, Blanche, Isabeau und des Wirtes Töchterlein, Guillemette, die sich fröhlich zu diesen glänzend gefiederten Vögeln aus dem Schurkenparadies gesellte. Das sechste Weib aber war ein Vogel von ganz besonderem Gefieder.

Dieses Weibes Stimme erhob sich plötzlich aus all dem Getöse so hell wie der Sang einer Drossel, und es war, als würde der heiße Raum kühl, als würde die verdorbene, schwere Luft leicht und rein durch ihr Singen. Die Sängerin war ein Mädchen von fünfundzwanzig Jahren, dem es gefiel, ihre reifen weiblichen Formen in einen Männeranzug zu hüllen, der ihren schönen Körper so fest umschloß wie eine zweite Haut – nur in einem Narrenhaus wäre sie vielleicht für einen Mann gehalten worden. In dem ehemals eleganten, jetzt aber befleckten und verblichenen Männeranzug sah sie entzückend aus. Ihre Kleidung bestand aus einem grünen Samtwams und grünwollenen Hosen, einem scharlachroten Gürtel mit ebensolchen Taschen daran, und eine scharlachrote Feder nickte keck von der grünen Mütze, unter der hervor ihr langes blondes Haar in üppiger Fülle über die Schultern wallte. Sie saß auf einer Ecke des Tisches, ließ das eine ihrer wohlgeformten Beine in der Luft baumeln, schlug das andere darüber, drückte ihre Laute an die Brust wie einen Säugling und sang drauf los, als ob sonst in der ganzen Welt nichts zu tun wäre. Die um den Tisch versammelten Männer und Weiber lauschten ihr schweigend und sahen sie an, selbst der schläfrige Colin spitzte die Ohren, ebenso Robin Turgis, der wohl wußte, daß es der Mühe wert war, zu lauschen, wenn Huguette du Hamel zu singen geruhte. Robin Turgis wußte alles, was von ihr zu wissen war: ihr adlig Blut war wildes Blut, und trotz Name und Geburt hatte sie sich in den Strom der Freuden gestürzt und war das Idol auf dem Altar des »Tannenzapfen« geworden. Ihre Stimme war süß und hatte einen zärtlichen, flehenden Ton; aus der Melodie, die sie sang, klang etwas wie verschleierte Klage, die Tränen in das Auge der Sängerin lockte; die Worte fielen zögernd von ihren Lippen, als fände sie sie süß wie Honig. Ihr Lied lautete:

»Ihr Töchter der Freude, die hier ihr euch schart,
Wie seid von Gestalt und von Zügen ihr zart,
Mit Brüsten so zierlich, mit Körpern so schlank,
Mit Füßen und Fingern so grad und so blank!
Mit glänzenden Augen, an Anmut so reich,
Wie haltet den Liebsten im Bann ihr sogleich!
Die rosigen Lippen braucht, eh' es zu spät
Und eh' euch die Liebe auf immer vergeht!«

Sie verstummte, und ihre Finger glitten noch spielend über die Saiten. René von Montigny wendete den Kopf und streifte die Mädchen mit seinem Blick, als genösse er ihre wohlbekannten Reize mit Verständnis: »Ein höllisch guter Rat, ihr Püppchen!« brüllte er, zog die ihm zunächst sitzende Dirne zu sich, hob ihr mit der freien Hand das Kinn hoch und drückte einen schallenden Kuß auf ihren Mund. Das Mädchen quiekte bei seiner Derbheit laut auf; die andern Paare lachten und folgten seinem Beispiel. Nur die Sängerin beachtete es nicht und erhob ihre süße Stimme aufs neue, aber diesmal mischte sich Galle in die Süßigkeit des Honigs:

»Denn bald wird grau sein das goldene Haar,
Und was am Körper so lieblich einst war,
Bedeckt sich mit Runzeln in kläglichem Schrund;
Die Glieder, die einstens so zierlich und rund,
Sind eingeschrumpft, und der Augen Strahl,
Dem Tage gleich glänzend, erlischt auf einmal.
Ihr Mädchen, höret auf dieses mein Wort,
Liebt, ehe die Liebe euch flattert fort!«

Die Melodie klang trauriger als zuvor, und Stille trat ein, während die letzten Töne an den rauchgeschwärzten Balken der Decke verklangen. Eines der Mädchen brach das Schweigen: »Na nu, Äbtissin, das war ein trauriges Lied!« seufzte Isabeau, und es wollte scheinen, als sei ihr Antlitz unter der Schminke erblaßt, als hätten sich die Linien um Mund und Augen vertieft, als wäre sie älter geworden unter dem Einfluß von Gedanken, deren sie sich nicht erwehren konnte. Die von dem Mädchen als »Äbtissin« Angeredete lachte, und ihre Heiterkeit klang mißtönend nach dem träumerisch-süßen Gesang.

»Meister François Villon hat es mir vor einigen Tagen gedichtet,« erwiderte sie. »Auch du wirst einmal alt werden, Idol – sagte er –, und ich habe dir dies Lied gemacht, um dich die Wahrheit kennen zu lehren!«

Guy Tabarie, um dessen feuriges Gesicht sein rotes Haar wie Flammen züngelte, umfaßte den Leib des Mädchens mit seinen Händen und näherte sein Gesicht dem ihren. »Küß mich und denk nicht mehr dran!« schluckste er. Aber das junge Mädchen versetzte dem Zudringlichen einen Stoß, daß er auf seinen Sitz zurücktaumelte.

»Für keinen von euch Kerls habe ich Küsse, außer für François Villon,« erklärte sie, während die übrigen vor Freude über das Fiasko ihres Kameraden gröhlten. »Ach, unter euch allen ist keiner, der Gedichte schreiben kann wie er und es so versteht, einen mitten in der Lustigkeit traurig zu machen.«

Das Mädchen, das von dem purpurbewamsten René so ungeschlacht geküßt worden war, schauerte ein wenig zusammen.

»Auch ein Grund, einen Mann zu lieben, daß er einen traurig machen kann,« flüsterte sie.

Nachdenklich betrachtete sie ihre Genossen. In den Zügen der Weiber hatte das Lied eine ungewohnte Sanftheit hervorgerufen, aber die Gesichter der Männer waren unverändert geblieben.

Jehan le Loup schlug mit der Faust so heftig auf den Tisch, daß Humpen und Kannen tanzten.

»Ist dies hier ein Liebeshof?« brüllte er und knirschte in viehischer Wut mit seinen Hauzähnen. »Für Liebesgetue gibt's andere Zimmer im Haus« – dabei wies er bedeutungsvoll nach oben; »wir sind hier, um zu saufen und zu spielen. Der Teufel hole alle bartlosen Weiberknechte mitsamt ihren Sonetten!«

Während seines Geschimpfes klapperte er mit den Würfeln, und dies vertraute Geräusch verscheuchte die weniger vertrauten Gedanken. Er warf die schmutzigen Würfel auf den Tisch, gierige Hände griffen nach ihnen, und der Zauber der Musik war gebrochen. Die melodische Äbtissin schwang sich mit funkelnden, jetzt tränenlosen Augen vom Tisch auf die Bank, schaffte sich gewaltsam Platz unter den Spielern, rief dem Wirt zu, er solle noch mehr Wein bringen, und warf einige Geldstücke auf den schmutzigen, nun dem Spiel geweihten Tisch. Niemand beachtete das leise Geräusch, das verriet, daß eine Hand die Klinke der nach der Straße führenden Tür berührte, niemand beachtete das leichte Knarren, das verriet, daß sie nun sachte geöffnet wurde; niemand beachtete den Mann, der vorsichtig den Kopf durch die Öffnung steckte und prüfend um sich sah. Der neue Ankömmling war ein Mann von mittleren Jahren mit einem grimmigen Gesicht. Er war in die Tracht eines einfachen Bürgers gekleidet und benützte die breiten, tief herabhängenden Falten seiner Tuchmütze dazu, sein Gesicht möglichst zu verbergen. Mit beunruhigendem Lächeln durchspähte er die Dunkelheit des Zimmers, und dies beunruhigende Lächeln verschärfte und vertiefte sich noch mehr, als er die laute Gesellschaft in der Ecke bemerkte und die einzelnen Persönlichkeiten zu erkennen begann. Überzeugt, daß ihn niemand beachte, stahl er sich leise herein, hielt aber die Tür offen und winkte einem noch draußen Stehenden, ihm zu folgen. Darauf erschien eine zweite, gleich der ersten gekleidete und verhüllte Gestalt, glitt flüchtig herein und begab sich, nicht nach rechts, nicht nach links schauend, in die entlegenste und ruhigste Ecke des Raumes, während sein Gefährte geräuschlos die Tür schloß und hinter ihm drein huschte.

Hätte Meister Robin, dessen ungeteilte Aufmerksamkeit seiner lärmenden Kundschaft gewidmet war, eine Ahnung davon gehabt, wer die Gäste waren, die er so gleichgültig eintreten sah, so wäre sein purpurrotes Gesicht erblaßt und sein Herz ihm in die Hosen gefallen bei dem Gedanken, daß der »Tannenzapfen« die geheiligte Person des Königs von Frankreich und dessen bösartigen Diener Tristan l'Hermite, Tristan den Einsiedler, beherberge.

Die beiden Fremden setzten sich an einen kleinen Tisch in der Ecke des Zimmers, die dem Platz, wo die Äbtissin und ihre Freunde ihr Wesen trieben, gerade entgegengesetzt war. Der zweite der Herren schob die Falten seiner Mütze etwas auseinander und schaute sich neugierig um.

»Ist dies das Nest?« flüsterte er, und sein Gefährte antwortete ihm im nämlichen Ton: »Dies ist das Wirtshaus ›Zum Tannenzapfen‹, Majestät.«

Warnend legte der andre den Zeigefinger auf den Mund und murmelte: »Bst, bst, Gevatter! Bitte, jetzt keinen Titel mehr! Hier bin ich nicht Ludwig von Frankreich, sondern ein schlichter, ehrbarer Bürger wie du auch. Wir müssen wohl schanden- und ehrenhalber etwas verzehren?« Obwohl ihm sein Gefährte versicherte, daß dies unbedingt nötig sei, blickte Ludwig noch immer zweifelnd darein.

»Das Getränke wird wohl ungenießbar sein?« fragte er schließlich und schob zwei spitze Finger in die schwarze Tasche, die an seinem Gürtel hing. Tristan schüttelte verneinend den Kopf und versicherte: »Doch nicht! Ihr könnt hier sehr guten Wein bekommen, wenn Ihr versteht, ihn richtig zu bestellen und – entsprechend zu bezahlen.«

»Kein Mensch kann besser als ich verstehen, etwas zu verlangen,« kicherte der König.

»Oder schlechter, es zu bezahlen,« höhnte Tristan.

Der König runzelte die Stirn und zischte ihn an: »Warum bleibst du denn trotzdem in meinem Dienst?«

Tristan zuckte die Achsel.

»Vermutlich noch ein Rest von Anhänglichkeit. Hier steht übrigens der Herr Wirt!«

Robin Turgis stand in diesem Augenblick dicht neben ihnen und betrachtete sie forschend mit seinen kleinen Schweinsaugen, die aber von den gut verhüllten Gesichtern nur wenig zu sehen kriegten. Mit einer Art widerwilliger Unterwürfigkeit harrte er ihrer Befehle und rieb dabei seine niedrige Stirn mit seiner schmutzigen Hand.

»Freund,« sagte Ludwig und schnüffelte spöttisch nach der allzu stark duftenden Persönlichkeit des Schankwirtes, »Ihr seht hier zwei ehrbare Bürger vor Euch, die bei einem Handel ein paar Pfennige profitiert haben und jetzt natürlich auch ihre Kehlen anfeuchten wollen. Habt Ihr etwas im Keller, das für Gaumen und Beutel gleich bekömmlich ist?«

Robin Turgis nickte mit seinem runden Kopf und streichelte sein rundes Bäuchlein.

»Wir haben einen weißen Beauner,« erklärte er schnalzend, als ob er eben die Ware koste, die er anpries, »zu zwei Sols die Kanne – das ist ein feiner Tropfen.«

Des Königs sparsamer Sinn entsetzte sich über diese Summe.

»Gottes Wunder!« stammelte er. »Das steht zu hoffen bei diesem Preis!«

Doch Robin Turgis blieb ungerührt. Tristan brachte das Geschäft zum Abschluß, indem er entschieden befahl: »Bring eine Kanne davon!«

Als der Wirt fortwatschelte, begegnete Tristan mutig dem zornigen Blick des Königs und erklärte: »Ich reibe Hände und Füße auf in Eurem Dienst – Kehle und Magen will ich mir wenigstens retten.«

Ludwig erwiderte nichts und blickte traurig vor sich hin, bis der fettleibige Wirt mit dem gerühmten Stoff erschien und ihn mit zwei Bechern auf den Tisch setzte.

Mit widerstrebenden Fingern wühlte Ludwig in seiner Tasche, der er schließlich den genauen Betrag für den Wein entnahm und in die fette Hand Robins gleiten ließ. Dieser blieb aber unentwegt stehen, und Ludwig sah erst ihn verwundert, dann Tristan fragend an.

»Gebt ihm noch eine Kleinigkeit,« flüsterte ihm Tristan zu. Bitter ungern fügte der König das Trinkgeld den übrigen Geldstücken bei und sah dann dem sich entfernenden Gastgeber mit unverhohlenem Widerwillen nach.

»Du bist sehr freigebig mit andrer Leute Geld,« schnauzte er seinen Gefährten an; aber Tristan beachtete diese Nörgelei gar nicht, sondern füllte die beiden Becher mit der goldenen Flüssigkeit und hielt den einen dem verdrießlichen Monarchen unter die Nase.

Der feine Duft besänftigte Ludwig; er tat einen tiefen Schluck und war nun ganz beruhigt. Nach dem zweiten Schluck hatte er seine unfreiwillige Großmut, wenn auch nicht vergessen, so doch vergeben. Freundlich nickte er Tristan über den Rand des Bechers zu.

»Das heißt das Leben sehen, Freund Tristan,« flüsterte er befriedigt und streckte seine dünnen Beine voll Wohlgefühl unter den Tisch. Aber Tristan befand sich nicht in Feiertagslaune.

»Wir wollen hoffen, daß es nicht heißt, den Tod sehen, Freund Ludwig,« höhnte er. »Unter dieser Bande sind einige Kerle, die Euch um einen halben Schoppen kochen, sieden oder braten würden.«

Ludwig lächelte leutselig.

»In Anbetracht des Weinpreises in der Spelunke hier wäre dies gar kein billiger Handel. Aber es ist eine interessante Sache.«

Tristan war indessen nicht gesonnen, der guten Laune des Königs Zugeständnisse zu machen.

»Wo liegt denn das Interessante?« gab er zurück. »Einige bezahlte Kuppler, Radaubrüder und Spieler. Bei Hofe könnt Ihr die nämliche Gesellschaft haben – nur um eine Kleinigkeit reinlicher – und das Vergnügen kostet Euch nichts.«

Des Königs Mund zuckte in Erinnerung an etwas, das ihm eben wieder einfiel. Er beugte sich vor und berührte Tristans Arm. »Gevatter Tristan, an meinem Hof befindet sich ein Gelehrter, der mir ein orientalisches Märchen erzählt hat.«

»Gebe Gott, daß es ein heiteres ist, wie Eure Majestät es liebt.«

»Bst! bst! Mann! Keine Majestät hier! Es handelt sich um einen morgenländischen König, Harun, glaube ich, mit dem Beinamen der Gerechte.«

Tristan ließ ein zweifelndes Grunzen vernehmen, aber Ludwig beachtete die Unterbrechung gar nicht, sondern fuhr fort: »Es war sein liebster Zeitvertreib, nachts verkleidet durch Bagdad zu wandern und mit den Leuten aus dem Volk in Beziehungen zu treten, was sehr viel zur Wohlfahrt des Reiches beitrug. Ich will seinem Beispiel folgen und hoffe, auch meinerseits viel zu lernen und zu erfahren.«

Mitleidig betrachtete Tristan den selbstgefälligen König.

»Ihr werdet wahrscheinlich in erster Linie erfahren, wie unbeliebt Ihr seid, was ich Euch ohne all diese Mühe ebenfalls hätte sagen können; und Ihr dürfet froh sein, wenn man Euch nicht obendrein die Gurgel abschneidet.«

Etwas wie ein Lächeln huschte über des Königs Runzeln und brachte sie aus der gewöhnlichen Lage. Er nahm wieder einen Schluck Wein und fuhr mit wachsender Leutseligkeit fort: »Du bist eben immer ein Schwarzseher. Sei fidel, Mann! Sieh mich an! Der Burgunder steht mit seinem Feldlager vor Paris. Mein Thron wackelt wie ein Schaukelstuhl, und trotzdem schneide ich kein trauriges Gesicht.«

»Es ist nur gut, daß wenigstens ein Mensch vom Stand der Dinge befriedigt ist,« versicherte Tristan.

»Ja,« erklärte Ludwig und vertiefte sich dabei in die Besichtigung seiner Handflächen, »ja, ich bin befriedigt.«

Hier unterbrach ihn Tristan heftig.

»Befriedigt darüber, daß der Burgunder die Wälle von Paris bedroht; befriedigt darüber, daß Thibaut von Aussigny Euch innerhalb dieser Wälle übertölpelt, daß Eure Söldner meuterisch werden und Eure Bürger zu murren anfangen! Bei Gott! Dies sind vier königliche Gründe für Eure königliche Befriedigung!«

Scherzend schüttelte Ludwig den Kopf über den Zorn seines Dieners.

»Gevatter Tristan,« fragte er, »weißt du, warum ich heute nacht in diese Spelunke gegangen bin? Ich laufe nicht wie ein irrender König trostlos umher. Ich bin hierher gekommen, um zu sehen, in welcher Gesellschaft sich Monseigneur der Großkonnetabel von Frankreich bewegt.«

Tristans buschige Brauen zogen sich verwundert in die Höhe, als der König fortfuhr: »Unser guter Olivier versichert uns, daß der liebe Thibaut von Aussigny sich's in den Kopf gesetzt hat, nächtliche Spaziergänge durch Paris zu machen und Kneipen von der Art des ›Tannenzapfen‹ zu besuchen. Weibische Neugierde peinigt mich, Tristan, und ich möchte gern dem Herrn Thibaut ein wenig über die Schulter gucken und einen Blick in seine Karten werfen.«

Tristan lachte aus vollem Halse.

»Der Großkonnetabel haßt Euch, seit Ihr geruht habt, auf die Kleine von Vaucelles ein freundliches Auge zu werfen.«

»Sie ist eine kluge Jungfrau, daß sie Thibaut nicht ausstehen kann,« sprach der König sinnend vor sich hin.

»Aber war sie eine törichte Jungfrau, als sie Eurer Majestät mißtraute?« fragte Tristan.

Der König zuckte die Schulter.

»Sie ist ein stolzes Weibsbild, Gevatter. Als ich ihr sagte, ich hätte meine Huld ihr zugewendet, geriet sie in eine solch weißglühende Wut, daß ich sie geläutert verließ. Aber ist sie nicht für mich – für Thibaut soll sie auch nicht gewachsen sein.«

»Der Großkonnetabel ist ein gefährlicher Feind,« meinte Tristan.

Der König antwortete zerstreut.

»Tristan, vergangene Nacht hatte ich einen merkwürdigen Traum. Mir träumte, ich sei ein Schwein und triebe mich in den Straßen von Paris herum. In einer Gosse fand ich eine Perle von großem Wert; ich hob sie auf und setzte sie in meine Krone …«

»Ein gekröntes Schwein,« sagte Tristan lachend, »das klingt nach einem Wirtshausschild!«

Ludwig schien ihm die Unterbrechung nicht zu verübeln.

»Mein lieber Gevatter, in einem Traum ist nichts unmöglich. Also, wie gesagt, ich setzte diese Perle in meine Krone, und der Glanz, den sie ausstrahlte, schien meine gute Stadt Paris so zu durchleuchten, daß ich alle Straßen und Gassen, alle Zinnen und Türme deutlicher und heller sah als im Sommersonnenschein. Aber dann wollte es mich bedünken, als würde die Perle schwer und schwerer und drückte auf meine Stirn, so daß ich sie aus der Krone herausriß und zur Erde warf. Aber als ich sie eben zerstampfen wollte, fiel plötzlich ein Stern vom Himmel und hielt mich davon zurück.«

Begierig blickte der König seinen Gefährten an, den aber das königliche Traumgesicht nur wenig zu interessieren schien.

»Träume und Sterne, Sterne und Träume,« spottete er. »Überlaßt die Träume den Schwächlingen.«

Ludwig runzelte die Stirn: »Spotte nicht, Gevatter – sage mir lieber, wer diese Leute sind.«

Und das scharfe, magere Gesicht des Königs lugte vogelartig ein wenig aus dem Faltennest hervor, das es verhüllte; er blickte scharf nach den Spielern hin.

Tristan zuckte die Achsel.

»Einige der schlimmsten Katzen und Ratten von Paris,« erwiderte er. »Die Bursche gehören einer gewissen ›Bruderschaft der Muscheln‹ an und reden einen eigenen Jargon, gegen den die Gaunersprache ein Kinderspiel ist. Wenn Eure Majestät« – hier krümmte er sich unter einem Tritt Ludwigs und verbesserte schnell seine Anrede – »wenn Ihr in Schurken schwelgen wollt, so habt Ihr hier die rechten Leute. Die Weiber sind Freudenmädchen. Die dort drüben in Männerkleidern ist Huguette du Hamel, ein tolles Weibsbild, das man ›Äbtissin‹ ruft wegen ihres Klosters von Freudenmädchen. Im Augenblick hat sie vier ihrer Schätzchen bei sich: Jehanneton, die schöne Kappenmacherin, wie man sie nennt, Denise, die Krawattenmacherin, Blanche und Isabeau. O, das sind ergötzliche Dirnen!«

König Ludwig preßte seine schmalen Lippen streng zusammen. »Sie sollen später bestraft werden,« sagte er. »Aber wer sind die Männer?«

»Dieser pestilenzialischen Evas würdige Adams,« erklärte Tristan; »der zart aussehende Bursche in dem Purpurwams ist René von Montigny, von adeliger Herkunft und ein großer Missetäter. Der mit dem roten Haar ist Guy Tabarie; die beiden sind geschworene Brüder in Unzucht und Dieberei. Der Schurke mit dem Frettchengesicht, der sich eben mit des Mädchens Knie zu schaffen macht, heißt Jehan le Loup. Radaubrüder und Kuppler, Zuhälter und Schmarotzer: ihre Verbrechen aufzuzählen würde heißen, die zehn Gebote umgekehrt hersagen.«

»Du bist gut im Zug, Herr Gevatter. Unsre Galgen werden bald zu tun kriegen,« versetzte der König grinsend.

Tristan wollte eben den Mund öffnen, um eine seinen Ohren so wohlgefällige Ansicht zu beloben, als man von draußen eine singende Stimme vernahm.

Es war die Stimme eines Mannes, die, obgleich rauh, doch gut geschult erschien. Die Worte seines Liedes, das das Schicksal anzuklagen schien, waren deutlich vernehmbar:

»Nun ich verlassen des Kerkers Pforten,
Wo nahe ich dran war vom Leben zu scheiden,
Wo mir die blühenden Glieder verdorrten,
Mag das Unglück vielleicht mich jetzt meiden,
Mögen verschwinden der Feinde Horden,
Ferne mir bleiben Unglück und Leiden!«

Wenn sogar der König die Ohren spitzte und selbst Tristan aus seiner schläfrigen Gleichgültigkeit etwas aufgerüttelt wurde, so läßt sich denken, daß die Wirkung des Gesanges auf die Spielerbande vollends eine unmittelbare und kräftige war. Die Äbtissin sprang auf und rief: »Das ist François' Stimme!« »Es ist entschieden seine unaussprechliche Stimme,« stimmte René von Montigny bei und schob seinen Spielgewinst in die Tasche. Robin Turgis rang in komischer Verzweiflung die Hände und murmelte: »Da hat die Hölle schon wieder den Teufel losgelassen!« Alle die Männer und Weiber blickten begierig nach der Tür.

»Wer ist denn dies?« fragte Ludwig seinen Tristan. »Wessen Kommen hat dies Nachtgevögel so aufgescheucht?«

»Der merkwürdigste Schurke von ganz Paris,« entgegnete Tristan. »Ein gewisser François Villon François Villon, erster namhafter französischer Dichter, geb. 1431 in Paris, gest. nach einem abenteuerlichen und verbrecherischen Leben (er wurde wiederholt wegen Raubs und Totschlags gerichtlich bestraft) um 1498. Er schrieb namentlich lyrische Gedichte ( Ballades), die sich durch Munterkeit und Natürlichkeit auszeichnen. Im Gefängnis verfaßte er zwei witzige Testamente (» Le petit testament« und » Le grand testament«) in Versen. Seine Schriften wurden erstmals herausgegeben 1866 von Jaunet, von Moland und Longnon 1877 und 1879. Anm. d. Übers., Gelehrter, Dichter, Säufer, Kriegsmann, Schwätzer, Zuhälter; gleich gut beschlagen mit der Feder, mit dem Würfel und der Brechstange. Im ›Hof der Wunder‹ heißt er ›König der Muscheln‹. Beurteilt ihn selbst!«


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