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Ruhig und friedlich wie ein Gottesacker lag der Rosengarten da. Kein menschlicher Laut war zu vernehmen, nur der Abendwind rauschte leise durch die Rosenbüsche. Kein menschliches Antlitz war zu erblicken, nur der Gott Pan schaute spöttisch auf die roten Blüten hinab, die ihn umgaben. Doch in wenigen Augenblicken zeigte es sich, daß der alte Hirtengott sich doch nicht ganz allein im Rosengarten befand. Durch die schweigenden Gänge schlichen sechs in Pilgermäntel vermummte Gestalten herbei – Männer, die auf den Ärmeln ihrer Kutten Muscheln als Abzeichen trugen, und fanden sich vor des Königs Turm zusammen, gerade unter der Statue Pans. Einer von ihnen, eine riesige Gestalt, der der Führer zu sein schien, begann zu sprechen, und seine Stimme war die Stimme Aussignys.
»Sind wir vollzählig hier?« fragte er.
Der ihm zunächst stehende Pilger antwortete mit der Stimme Renés von Montigny: »O ja, und bereit, die königliche Rose aus dem Garten hier zu pflücken.«
In diesem Augenblick ließ sich von der Turmtür her ein Geräusch vernehmen. Thibaut winkte seinen Gefährten abseits.
»Haltet euch versteckt!« befahl er, worauf vier der Pilger leise im Schatten untertauchten. Nur Thibaut und René blieben stehen und hielten die Tür des Turmes fest im Auge. Sie ging auf und Noel le Jolys wurde sichtbar, dem die schmale, gebeugte, in schwarzen Samt gekleidete Gestalt, nach der die Verschworenen so begierig ausschauten, auf dem Fuße folgte.
Noel trat vor und fragte: »Ist der Sterndeuter da?«
Mit geläufigen Worten, wie ein Budenbesitzer, der auf dem Jahrmarkt die Wunder anpreist, die bei ihm zu sehen sind, erwiderte René von Montigny: »O ja! Er ist ein wahres Mirakel. Er liest Euch Glück und Unglück aus den Sternen geläufiger als ein Schankwirt die angekreidete Zeche auf seiner Tür. Er versteht weiße und schwarze Magie, und die Weisheit der Böhmen, Ägypter und Araber hat kein Geheimnis mehr für ihn.«
Kaum war René zu Ende, so gab die gekrümmte Gestalt Noel ein Zeichen der Entlassung, worauf dieser sich ehrfurchtsvoll verbeugte und im Turm verschwand. Nun winkte der König den riesigen Mann im Pilgerkleid heran, und Thibaut näherte sich ihm gemessenen, langsamen Schrittes. Als er aber seine Beute in Griffweite vor sich hatte, streckte er seine große Hand aus und faßte seinen Feind am Hals, den er ihm mit der Linken schweigend zusammenpreßte, während er in der rechten Hand einen Dolch schwang. Die schwarze Gestalt brach unter Thibauts Griff zusammen, sie zitterte und schnappte nach Luft, aber Thibauts Hand war zu stark für ihn, und er vermochte nicht, zu sprechen oder um Hilfe zu rufen. Thibaut zischte ihm zu: »Majestät, ich kann Euch Euer Schicksal künden. Gebt keinen Laut von Euch, oder Ihr seid ein Kind des Todes.«
Damit hielt er die Spitze seines Dolches dem Gefangenen dicht an den Hals und lächelte, als er ihn erbeben sah.
»Ich bin Thibaut von Aussigny, Majestät, den Ihr für tot hieltet, aber der lebt und Euch gefangen nimmt.«
Mittlerweile waren seine Genossen aus dem Dunkel hervorgetreten und drängten sich nun drohend um den König.
»Ihr seid uns ins Netz gegangen. Schweigt Ihr, so seid Ihr wenigstens noch ein lebender Mensch, versucht Ihr aber nur ein Wort zu sprechen, so seid Ihr nur noch eine Leiche, ein Rabenaas. Ihr sollt vor dem Burgunder im Staube knieen, Ihr sollt dem Herzog als Schemel dienen für seine Füße.«
Die zusammengebrochene Gestalt zuckte und wand sich, als sei jedes Wort Thibauts ein Peitschenhieb, der Ludwig ins Fleisch schneide. Seine bebenden Hände umklammerten Thibauts Arm krampfhaft – sein ganzes Verhalten war derart, daß er seinen Gegner mit tiefster Verachtung erfüllte. Thibaut stieß den König zurück und dieser sank als eine hilflose schwarze Masse, als ein Häuflein Furcht und Elend zur Erde nieder.
»Ist es denn menschenmöglich, daß ein König solch ein feiger Hundsfott ist? Sei ohne Sorge! Der Burgunder wird dir kein Härchen krümmen, wenn du tust, was er von dir verlangt. Auch ich tu' dir nichts zuleid', du Tropf, wenn du meinem Willen gehorchst.«
Das Häuflein Elend schluchzte so kläglich, daß es Thibaut ganz übel wurde beim Anblick einer solch schamlosen, erbärmlichen Furcht.
»So laß doch das Gewinsel!« zürnte er.
René von Montigny hatte jede Bewegung des Gefangenen scharf beobachtet und fiel nun Thibaut ins Wort: »Aber er lacht ja!«
Mit einem Ausruf der Verwunderung beugte sich Thibaut zu dem auf der Erde liegenden Mann hinab, der ihm so herzhaft ins Gesicht lachte, daß der Riese, wie von einem schweren Schlag getroffen, zurückprallte. In diesem Augenblick wurde die Tür des Turmes aufgerissen und Tristan erschien auf der Schwelle.
»Der König!« rief er mit Stentorstimme.
In der nächsten Minute war wie durch einen Zauberschlag der kleine Raum von den Armbrustschützen der schottischen Leibwache umringt, starke Hände bemächtigten sich der verblüfften Verschwörer, und um deren Verwunderung die Krone aufzusetzen, erschien Ludwig selbst unter der offenen Tür, und sie sahen im Mondenschein, wie sein boshaftes Gesicht befriedigt lächelte.