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Dom = ehrwürdiger Herr, früher französischer Königstitel, wird jetzt nur noch von manchen Geistlichen, besonders den Benediktinern geführt.
Es ist jammerschade, daß die Quellen einer ausführlichen Lebensbeschreibung des Meisters François Villon so spärlich fließen, daß man sie vom historischen Standpunkt aus eigentlich als gar nicht vorhanden betrachten muß. Aus seinen früheren Jahren liegen allerdings einige Daten vor, aber diese bestehen teils aus humoristischen, nicht ernst zu nehmenden Selbstbekenntnissen, teils aus Berichten solcher Zeitgenossen, die den unsteten Dichter nicht sehr ins Herz geschlossen hatten. Aus der Zeit seines Lebens aber, mit der sich diese Geschichte beschäftigt, ist wenig zu finden, und es wäre doch so viel zu suchen.
Das Schweigen Comines' Philippe de la Clite de Comines, Sieur d'Argenton, französischer Staatsmann, geb. 1445 auf Schloß C. in Flandern, war erster Vertrauter Karls des Kühnen, dann 1472 der Ludwigs XI., wurde 1486 von Karl VIII. abgesetzt, nach achtmonatiger Gefangenschaft in einem eisernen Käfig verbannt, später aber wieder zum französischen Gesandten in Venedig ernannt. Er starb am 17. Oktober 1509 in Argenton. Er schrieb das vorzügliche Geschichtswerk » Mémoires«, 1464-98. Anm. d. Übers. über unsern Helden läßt sich auf mancherlei Weise erklären; am richtigsten wohl aus der Eifersucht des einen Ministers auf den andern, der in kurzer Zeit so Vieles und Großes vollbrachte, vielleicht aber auch aus der Unkenntnis genauerer Umstände, denn es ist nicht unwahrscheinlich, daß König Ludwig seine Posse und ihre Folgen möglichst für sich behalten hat. Vielleicht traute aber auch Comines seinem kalten Verstand nicht die Fähigkeit zu, für die Erzählung eines solch merkwürdigen, echt orientalischen Abenteuers die richtigen Töne zu finden.
Als der gute Clement Marot es seinerzeit unternahm, die Werke unsres Dichters herauszugeben, wußte er, nachdem dieser schon längst Staub und Asche war, zwar viel zu des Dichters Lob und Preis, aber wenig oder nichts über dessen Leben zu sagen.
Wäre nicht Poitou mit seiner Abtei Bonne Aventure, deren Bücherei reich ist an historischen Handschriften aus jener Zeit, so säße man ganz auf dem Trockenen. Der größte Schatz dieser Klosterbibliothek besteht in den unbezahlbaren Manuskripten des Dom Gregory, der die kirchengeschichtliche Entwicklung Poitous im fünfzehnten Jahrhundert behandelt und sich dabei sehr ausführlich mit dem Leben François Villons befaßt, weil dieser in seinen alten Tagen ein eifriger Förderer und Schützer der Kirche geworden war. Leider hat die Zeit auch diesen schönen Pergamentblättern übel mitgespielt, und gar manche Rolle ist verschwunden, darunter gerade solche, die die Zeit behandeln, in der unser Held so plötzlich die Gunst seines Königs und die Huld seiner Dame gewann. Trotzdem sind einige Blätter vorhanden, die überströmen von Lob über das Verhalten Villons in der Zeit seiner Erhebung. Dom Gregory rühmt das glänzende Beispiel, das der Graf von Montcorbier seinen Nebenmenschen gab. Nach Anrufung vieler Heiligen und Engel aus den ersten Kreisen des Himmels sagt der würdige Mann der Kirche: »Hier sehen wir einen Mann, der die Blüte seiner Jahre inmitten von Schmutz und Gemeinheit aller Art verlebt und es dennoch verstanden hat, sich in gewissem Sinne die Reinheit seiner Seele zu bewahren und das himmlische Feuer auf dem Altar seines Herzens nicht verlöschen zu lassen, wenngleich es zeitweise auch nur als ein dürftiges Flämmchen brannte. Wie viele Männer mag es wohl geben, die so wie er die großen Taten, von denen sie in der Niedrigkeit geträumt, auch ausgeführt haben, wenn ihnen unter günstigeren Umständen die Gelegenheit dazu geboten wurde? Man kann wohl sagen, daß Meister François Villon das leuchtendste Beispiel eines Mannes ist, der, stets mit vollem Vertrauen an sich selbst glaubend, als er auf die Probe gestellt wurde, bewies, daß sein hohes Selbstvertrauen nicht auf den trügerischen Flugsand der Eitelkeit und Ruhmsucht, sondern auf den granitenen Felsen des wahren Glaubens und die unschätzbaren Lehren der Kirche begründet war.«
Aus alledem können wir wenigstens ersehen, daß Meister François Villon, Graf von Montcorbier, bewies, daß er nicht viel hinter der hohen Meinung zurückblieb, die er von sich selbst hegte und unwissentlich seinem verkleideten Herrscher kundgab. Aber gerade die sechs Bogen, auf denen Dom Gregory berichtet hat, was Villon während der Zeit seiner wunderbaren Erhöhung gesagt und getan hat, sind der Abtei Bonnaventure und somit auch der Welt verloren gegangen. Der Kustos der Klosterbücherei versichert, wie es in Frankreich bei geistlichen Kustoden üblich ist, mit tränendem Auge, daß dies Unheil durch die Greuel der Revolution herbeigeführt worden sei. Mag dem aber nun sein wie es will – die Blätter sind verloren und damit für diese Geschichte erledigt.
Immerhin läßt sich aber aus späteren Feststellungen und mündlichen Überlieferungen ungefähr konstatieren, was Meister François Villon als Graf von Montcorbier während der sieben glanzvollen Tage, die ihm sein scherzhafter König bewilligte, vollbracht hat. Wir wissen bestimmt, daß Ludwig einen ausgezeichneten, kaltblütig überlegenden Ratgeber an ihm fand, dessen Weisungen er unbedingt Folge leistete, was durch des Konnetabels gesunden Menschenverstand, seine Voraussicht und seine hervorragende Menschenkenntnis vollauf gerechtfertigt war. Wir wissen, daß sich Villon ebenso trefflich als Staatsmann wie als Krieger erwies und in den Künsten des Krieges und des Friedens gleich erfahren war. Seine Kenntnis von Cäsars Kommentaren und seine angeborene Begabung für Strategie, unterstützt durch Mutterwitz und feurige Beredsamkeit, gewannen ihm Ohren und Herzen der großen Heerführer des Königs, die ihm zuerst widerwillig, dann aber ebenso entzückt und begeistert anhingen und Folge leisteten wie einstens ihre Väter der Jungfrau von Orleans.
Unser Held spielte aber seine zwei Rollen so gewandt, daß es der Allgemeinheit vorkam, als spiele er nur eine, und zwar die des flotten, glänzenden Hofmannes. Waren seine Morgenstunden durch Beratungen mit dem König und dessen Generalen ausgefüllt, waren seine Vormittage ausgefüllt mit Erlassen, Bekanntmachungen und Verfügungen, die allesamt den Zweck hatten, die Bürden und Lasten des Volkes zu erleichtern, so verbrachte er die Nachmittage und die Abende, ja selbst einen Teil der Nächte inmitten glänzender Feste. Vergnügen folgte auf Vergnügen, Bankette, Bälle und Maskeraden lösten einander ab, ein Fest immer herrlicher und prächtiger als das andre. Diesen Teil seines Lebens stellte der Graf von Montcorbier ganz besonders ins Licht, und zwar mit einer bestimmten Absicht. Seine Sendlinge entwichen aus Paris und traten als Überläufer ins Heer des Herzogs von Burgund, unter dem Vorwand, daß sie mit der verlorenen Sache des Königs nichts mehr zu tun haben wollten. Alle diese Leute erzählten dem gläubigen Feind dieselbe Geschichte: Daß nämlich der neue Günstling des Königs ein Verschwender und ein Narr sei, der keinen andern Lebenszweck kenne, als Madrigale zu dichten, die Laute zu schlagen, Humpen zu leeren und Frauenhände beim Tanzen zu drücken. Dies alles brachte auf den Herzog von Burgund die von Villon gewünschte Wirkung hervor und führte Folgen herbei, von denen wir wieder mehr wissen, da Dom Gregorys Manuskript am siebenten Tag von Meister Villons Wunderwoche wieder einsetzt.
Von Dom Gregory, der, trotzdem er Mönch war, doch ein mildes Verständnis für die geheimen Wege Liebender gehabt zu haben scheint, erfahren wir, daß während dieser sieben Tage die Freundschaft zwischen Villon und Katharine in erfreulicher Weise gedieh und zu einer schönen, großen Leidenschaft emporwuchs, was der ganze Hof mit Interesse, Messire Noel le Jolys dagegen mit wachsender Wut beobachtete. Es scheint aber, daß Meister Villon keinen Versuch machte, sich ihr direkt zu erklären oder zu ergründen, wie hoch er in Katharines Herz stehe, bis zu dem entscheidenden Tag, bis zum letzten, an dem es ihm möglich war, sich seine Rettung zu sichern. Vielleicht fürchtete er durch zu frühes Wagen alles zu verlieren, vielleicht sollte auch der letzte Augenblick seiner Herrschaft der schönste und lieblichste werden – jedenfalls zog er die Entscheidung hinaus.