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König Ludwig liebte die Rosen. Alles, was königlich war in ihm, neigte sich dieser königlichen Blume zu; was immer an Schönheitsdrang in seinem Herzen verborgen liegen mochte, fand seine Befriedigung in ihren herrlichen Farben, in ihrem köstlichen Duft.
Die Griechen waren des Glaubens, die rote Rose sei an jenem schönen Tage entstanden, an dem Venus den Askanios Askanios, der Sohn des Aeneas und der Krëusa, auch Julius genannt, kam mit seinem Vater nach Italien, wo er Alba Longa gründete. Er wurde der Stammvater der römischen Gens Julia. Anm. d. Übers. auf einem Lager von weißen Rosen schlummernd fand und ganze Hände voll der duftenden Blüten an ihre Lippen drückte, so inbrünstig und heiß, daß sie unter den Küssen der Göttin lieblich erröteten. Ludwig dem Elften war diese Legende unbekannt, aber er liebte trotzdem die rote Rose über alles und hatte eine Ecke des königlichen Gartens ganz ihrem Kultus geweiht. Im ältesten Teil des Gartens, dicht bei dem altersgrauen Turm, von dessen Warte aus der König die Sterne beobachtete und wo er über geheimer Weisheit brütete, befand sich eine Rosenterrasse, über deren Stufen schon die duftenden Blütenkelche sich rankten. Es war eine Wunderwelt der Rosen. Jede Schattierung in Rot war vertreten: vom leisesten rosigen Hauch der Blume, die der Mund der Göttin nicht einmal gestreift hatte, bis zum glühenden Rot ihrer Lippen, von der kaiserlichen Purpurfarbe bis zum tiefsten Schwarzrot glühten und leuchteten und dufteten die Kinder Aphrodites in allen Farbentönen. Wenn die Sterne täuschten und trogen – hierher kam König Ludwig von seinem Turm herab, die Namen der Heiligen auf den Lippen, um im Sonnen- oder Mondesschein sich am Wohlgeruch der Rosen zu erquicken und ein wenig Ruhe für sein ruheloses Herz, ein wenig Rast für seine rastlose Seele zu suchen.
Am Morgen nach seinem Besuch im »Tannenzapfen« saß König Ludwig in seinem Rosengarten und atmete mit Wonne die duftgeschwängerte Luft, während seine scharfen Augen bald auf einer auf seinem Knie liegenden Pergamentrolle ruhten, bald sich zu einem über ihn gebeugten Antlitz erhoben. Der Begleiter des Königs war ein alter Mann in einer pelzverbrämten Schaube, dessen Züge von vielen Jahren der Erfahrung und des Studiums zeugten, während seine Augen Dinge zu schauen schienen, die anderen Menschen verborgen blieben. In der einen Hand hielt er einen großen Himmelsglobus aus Kristall, und sobald Ludwig sich in das Studium seines Pergaments vertiefte, hielt der Gelehrte den Globus gegen das Licht und versenkte sich mit der Miene überlegener Weisheit in dessen glasige Tiefen.
Plötzlich blickte Ludwig auf, und ebenso plötzlich ruhte der Blick des Astrologen auf seinen Zügen.
»Der Stand und die Bedeutung der Gestirne ist dir bekannt,« sagte der König, »und du weißt auch um den seltsamen Traum, den ich vor drei Nächten gehabt habe.«
Mit ernster Miene neigte der Gelehrte sein Haupt. Mindestens ein dutzendmal hatte ihm der Fürst diesen Traum mit allen Einzelheiten erzählt, aber er lauschte dem erneuerten Bericht mit der nämlichen überraschten Aufmerksamkeit wie das erste Mal, als der König nun wiederum begann: »Mir träumte, ich sei ein Schwein und triebe mich in den Straßen von Paris herum, und da fand ich in einer Gosse eine Perle von unermeßlichem Wert. Ich setzte sie in meine Krone und sie erfüllte ganz Paris mit ihrem Licht. Aber dann drückte sie zu schwer auf meine Stirn, und ich warf sie von mir und. wollte sie in den Schmutz stampfen, aber da fiel ein Stern vom Himmel und verhinderte mich daran. In Schweiß gebadet, zitternd wachte ich auf.«
Rasch, mit einer vogelartigen Kopfbewegung, wendete sich der König dem Astrologen zu und fragte scharf: »Nun, was sagt Ihr dazu?«
Langsam schüttelte der Astrologe den Kopf, und langsam erwiderte er: »Die Sterne glänzen, und ihr Glanz führt die Augen der Sterblichen irre, und schwer ist es, ihre Meinung zu deuten. Dunkel sind die Träume, und schwer fällt es dem Geiste des Sterblichen, ihren Sinn zu ergründen, ihr Dunkel zu durchdringen.«
Der König runzelte die Brauen.
»Daß Sterne glänzen und Träume dunkel sind, weiß ich auch ohne dich! Um tieferer Weisheit willen nähre und kleide ich dich! Deute mir meinen Traum für Frankreich, wie Joseph Pharaos Traum gedeutet hat!«
Mit unbeweglichem Blick starrte der Astrologe in die kristallene Kugel, dann sprach er in gemessenem Ton: »Also deute ich den Traum Eurer Majestät: In den Tiefen, in der Hefe des Volkes lebt einer, der, zur höchsten Höhe gebracht, Eurer Majestät große Dienste leisten und doch so lästig sein kann, daß Sie ihn in die Tiefe zurückstoßen möchten, aus der er kam. Die Sterne künden ein solches Ereignis, und sieben Tage lang von heute an kann der Unbekannte Gutes wirken. Vergeblich habe ich immer wieder gesucht, ihn im Kristall zu erblicken, aber ich sehe nur eine große Menge Volkes, festliches Gepränge und Masken, ein Durcheinander von Soldaten, Schlachten und Blutvergießen und einen großen Sieg für Frankreich, und dann fällt ein Stern vom Himmel, und alles erblaßt.«
Einen Augenblick sann der König stumm vor sich hin, dann entließ er mit einer Handbewegung den Astrologen, und dieser begab sich über die Wendeltreppe in das Turmgemach zurück, wo er seinen geheimen Wissenschaften oblag. Aufgeregt, ohne ihrer zu achten, wandelte der König zwischen seinen Rosen hin und her – er dachte nur an die Sterne.
»Wenn François Villon König von Frankreich wär'?« flüsterte er vor sich hin. »Wie dieser verrückte Balladendichter Feuer und Flamme war gestern abend! Narren sind Kinder des Glücks, und so gut ein verrücktes Mädchen Frankreich für meinen hochseligen Herrn Vater gerettet hat, so gut mag dies auch ein verrückter Mann für mich tun!«
Ein schwerer Tritt schreckte ihn aus seinem Sinnen auf, und als er sich umdrehte, sah er den Gefährten seines gestrigen Abenteuers vor sich.
»Nun, Tristan, was ist geschehen?« fragte er besorgt, denn auf Tristans Zügen lag ein gewisses böses Lächeln, das stets der Vorbote schlimmer Neuigkeiten war.
»Der Vogel ist ausgeflogen, Majestät,« erwiderte dieser. »Die Verwundung Thibaut von Aussignys war nicht so schwer, als wir dachten. Nachdem er in sein Haus geschafft worden war, gelang es ihm, verkleidet aus Paris zu entkommen und, wie ich glaube, sich dem Herzog von Burgund anzuschließen.«
Gleichgültig zuckte der König die Achseln.
»Ich wünsche dem Herzog viel Vergnügen,« bemerkte er; »er ist meinem Feind gefährlicher, wenn er auf dessen Seite steht. Wo sind die Halunken von gestern abend?«
»Der Janhagel aus der Spelunke befindet sich im Gewahrsam von Messire Noel.«
»Und mein Nebenbuhler für den Königsthron?«
»Für den sorgt Barbier Olivier. Ich hätte den Kerl am liebsten kurzerhand gehenkt.«
»Deine Zeit wird kommen, Gevatter, sei ohne Sorge! Aber die Sterne künden mir, daß ich dieses reimeschmiedenden Lumpenhundes noch bedarf. Ich kenne eine Geschichte von Harun al Raschid …«
Tristan erstickte ein Gähnen und unterdrückte den Hohn, der ihm auf die Lippen kam.
»Wieder eine neue Geschichte, Majestät?« fragte er in kläglichem Ton, denn die Erzählungen des Königs waren für Tristan nicht immer unterhaltend.
Aber ohne Rücksicht auf die Gefühle seines Gefährten zu nehmen, fuhr der König fort: »Die Geschichte, wie er einen Betrunkenen auf der Straße auflesen und in seinen Palast verbringen ließ. Als der Kerl dann wieder nüchtern geworden war, machten ihm die Hofleute weis, er sei der Kalif. Sein Verhalten dabei machte dem Beherrscher der Gläubigen viel Spaß, und ich verspreche mir jetzt eine ähnliche Belustigung.«
Tristan war sprachlos vor Staunen. Diese Art von Ergötzung war ihm neu und erschien ihm nicht besonders lustig.
»Und so wollt Ihr ihn also glauben machen, er sei der König, Majestät?« fragte er endlich.
Ein verschmitztes Lächeln flog über das boshafte Gesicht des Königs.
»Nicht ganz,« berichtigte er. »Aber wenn er erwacht, soll er glauben, er sei der Graf von Montcorbier und Großkonnetabel von Frankreich. Seine Possen mögen mich unterhalten, sein guter Stern soll mir dienstbar sein und sein gewinnendes Wesen mich an einem gewissen Mädchen rächen, das gewagt hat, mich zu verschmähen. Schicke mir Olivier hierher!«
Ernsthaft verneigte sich Tristan und drehte sich auf dem Absatz herum. In seinem Innersten fühlte er eine Art nachsichtiger Verachtung für die Einfälle seines Gebieters. War die Möglichkeit vorhanden, einen Mann aufknüpfen zu lassen, so sollte man seiner Ansicht nach keine Zeit verlieren. Er war nie für Katz- und Mausspielen – das einfachere Verfahren des Hundes mit der Ratte entsprach mehr seinem Geschmack.
Die Hände auf dem Rücken, den Kopf tief auf die Brust gesenkt, ging Ludwig rastlos hin und her. Gar vielerlei Gedanken wogten in ihm. Er war sich über die Unsicherheit seiner Lage ganz klar; er wußte, wie unbeliebt er bei seinem Volk, wie mächtig der Herzog von Burgund war, und wie wenig er sich auf die Ergebenheit der Pariser verlassen konnte, falls es dem Feinde gelang, auch nur einen Fuß in die Hauptstadt zu setzen. Wohl war er ehrgeizig, zuversichtlich und tapfer, aber er wußte, daß diese Eigenschaften nicht genügten, seinem Thron einen festen Halt zu gewähren. Die abergläubische Seite seines Wesens wendete sich beharrlich dem Unbekannten zu, und sein Geist forschte in Kristallen und Sternen nach übernatürlicher Erleuchtung. Für derartige Naturen werden Kleinigkeiten zu Schicksalsgewalten, und das Abenteuer vom Abend vorher hatte Macht gewonnen über die Einbildungskraft des Königs. Der pittoreske Lump, der so tapfer dem Wunsch Ausdruck gegeben hatte, König von Frankreich zu sein, um sein Vaterland vom Verderben retten zu können, hätte an und für sich wohl nur die Neigung des Königs zum Außerordentlichen gereizt, aber durch das Zusammentreffen mit seinem Traum und die unbestimmte Prophezeiung des Sterndeuters wuchs die Sache in den Augen des Königs zu ungeheurer Bedeutung an. Stets stand vor seinem Geiste die leuchtende Gestalt der reinen Jungfrau, die als gottgesandte Helferin seinen Vater aus größter Not gerettet hatte, und nun begann er allen Ernstes zu glauben und zu hoffen, daß sich an ihm durch den phantastischen Reimschmied ein gleiches Wunder vollziehen werde. Als der König gelegentlich aufsah, trat eine schönere Gestalt als die Villons in seinen Gesichtskreis, aber auch dies diente nur dazu, ihn in seinem Gedankengang zu bestärken.
Ein sehr schönes, stattliches Mädchen von vornehmer Haltung kam einen der Rosenwege entlang mit einem Arm voll leuchtender Blüten. Wäre der König in der griechischen Mythologie bewandert gewesen, so würde er sie unfehlbar mit einer der strahlenden Göttinnen des Pantheon verglichen haben. Aber auch so kam ihm die sieghafte Schönheit der jungen Dame voll zum Bewußtsein und verschärfte den Groll, den er trotzdem gegen sie hegte.
Dies Mädchen, das Thibaut von Aussigny heiraten wollte, dies Mädchen, das der König begehrte, dies Mädchen, dem der verrückte Dichter huldigte – welche Rolle würde es wohl spielen in der Komödie, die in den Gedanken des Königs immer festere Formen annahm? Katharine von Vaucelles erblickte den König und begrüßte ihn mit vorschriftsmäßiger Verbeugung.
»Wohin geht Ihr, Mädchen?« fragte Ludwig.
»Zu Ihrer Majestät der Königin, die mir befohlen hat, ihr Rosen zu pflücken, Majestät!« erwiderte sie gemessen.
»Gebt mir eine davon!« bat der König, und sie reichte ihm eine der schönsten, leuchtendsten Blumen an langem Stengel. Der König ergriff die Rose und fuhr mit ihr leicht über das rosige Blumenantlitz der Dame, die er dabei spöttisch betrachtete.
»Ihr seid ein hübsches Kind,« sagte er, »und hättet können eines Königs Liebste werden. Gut, gut, Ihr seid eben töricht gewesen. Wirbt nicht Thibaut von Aussigny um Eure Hand?«
»Er behauptet, daß er mich liebe, und ich erkläre, daß ich ihn hasse.«
»Er wurde gestern nacht in einer Kneipe schwer verwundet.«
Enttäuscht rief das junge Mädchen aus: »Nur verwundet, Majestät?«
Der König mußte herzlich lachen.
»Eure Besorgnis ist bewundernswert. Fürchtet nichts. Er wird sich wieder erholen, und der Mörder ist in unsrer Hand – er wird seiner Strafe nicht entgehen.«
Katharine trat dem König etwas näher. Ihre Augen glänzten feurig, auch klang ihre Stimme erregt.
»Majestät, ich zürne dem Mann nicht darum, daß er Thibaut von Aussigny verwundet hat.«
»Ihr seid die Güte selbst. Eine Frau auf dem Thron wäre ein Ding der Unmöglichkeit. Einen der ersten Männer des Landes verwunden heißt die Regierung selbst verwunden. Der Kerl wird dafür baumeln!«
Das Mädchen zuckte zusammen.
»Dieser Mann darf nicht sterben, Majestät! Thibaut war ein Verräter, ein Schurke …«
Ludwigs Heiterkeit steigerte sich immer mehr, aber äußerlich blieb er ernst.
»Hütet Euch, Lieblichste, nicht die ganze Tiefe Eures Empfindens zu verraten. Ihr Weiber seid die Quellen alles Mitgefühls! Wenn Euch aber, am Leben dieses Halunken etwas gelegen ist, so bittet bei dem Großkonnetabel für ihn.«
Katharine machte eine verächtliche Bewegung. »Thibaut ist unbarmherzig,« sagte sie, und ein harter Zug legte sich um ihren Mund, als sie an den Mann dachte, den sie haßte, und an den mißglückten Versuch, ihn zu beseitigen, aber bei den nächsten Worten des Königs milderte er sich wieder.
»Thibaut ist nicht mehr im Dienst. Versucht Euer Glück bei seinem Nachfolger!«
Flehend neigte sie sich vor.
»Und dessen Name, Majestät.«
»Es ist der Graf von Montcorbier,« antwortete er; »er ist fremd an unserm Hofe, aber ich habe ihn in mein Herz geschlossen. Unter sicherem Geleit ist er heute nacht aus dem Süden hier angekommen. Unser Bruder von Provence hat ihn mir angelegentlichst empfohlen, und ich glaube, er wird sowohl mir gute Dienste leisten, als auch stets dem Einfluß weiblicher Holdseligkeit zugänglich sein.«
Freundlich lächelte der König, während ihm die schnell fertigen Lügen so glatt über die Lippen gingen; die Zauberfäden seines Märchens, an denen er spann, machten ihm riesigen Spaß.
»Ihr sollt Audienz bei ihm haben.« Der König zauderte, dann erblickte er auf den Stufen der Terrasse die vertraute dunkle Gestalt des königlichen Barbiers, der ehrfurchtsvoll näherkam. Er rief ihm zu: »Olivier, wenn der Graf von Montcorbier im Garten Luft schöpft, so führe gelegentlich diese Dame zu ihm! Hast du verstanden?«
Damit wendete er sich wieder Katharine zu und kitzelte ihr Kinn noch einmal mit der langstieligen Rose.
»Und nun geht, Kind, damit meine Frau, Eure Königin, nicht auf ihre Rosen warten muß!«
Katharine verbeugte sich tief und schritt langsam die zum Palast führenden Stufen hinan. Ludwig blickte ihr nach, bis sie verschwunden war, dann drehte er sich lebhaft nach seinem Diener um.
»Nun, mein guter Barbier, wie steht's mit François Villon?«
»Ein Krug Wein mit einem Schlafmittel darin tat gestern nacht im Gefängnis seine Wirkung, und heute früh erwachte er in einem Palast, in einem königlichen Bett. Dann wurde er gewaschen und rasiert, in prächtige Kleider gehüllt und mit den erlesensten Wohlgerüchen parfümiert. Er sieht so verändert aus, daß ihn sein bester Freund nicht wiedererkennen würde. Ich glaube, er kennt sich selbst nicht mehr, aber trotzdem benimmt er sich, wie wenn er zeitlebens Höfling gewesen wäre.«
Der König kicherte.
»Ich zweifle nicht daran, daß der Esel, als er ins Fell des Löwen gekrochen war, sich selbst für den Löwen hielt. Aber ist er denn nicht verwundert?«
»Ich glaube, er ist es viel zu sehr, um Verwunderung zu verraten. Seine Umgebung versichert mit den ernstesten Gesichtern der Welt, er sei der Großkonnetabel von Frankreich. Es scheint mir, daß er zu träumen glaubt und die Sache so hinnimmt, weil ihm der Traum angenehm dünkt.«
»Vergiß ja nicht,« schärfte ihm Ludwig ein, »daß unter jeder Bedingung an der Erzählung festgehalten werden muß: Der Bursche ist heute nacht aus der Provence hier angekommen. Niemand außer mir, dir und Tristan darf erfahren, wer er ist. Verbreite überall am Hofe, daß er der Graf von Montcorbier, ein Günstling unsres Bruders von Provence und jetzt mein Freund und Berater sei. Wie du weißt, Olivier, bin ich dir wohl gewogen, und auch Tristan und ich sind sehr gute Freunde, aber weder sein noch dein Kopf säße mehr fest auf der Schulter, wenn mir mein Spaß durch Unvorsichtigkeit oder Schwatzhaftigkeit verdorben würde.«
Olivier verneigte sich tief.
»Für Tristan kann ich nicht einstehen,« sagte er dann, »aber für mich. Ich verstehe zu schweigen, wenn es meine Pflicht ist, den Mund zu halten.«
»Gut!« sagte Ludwig. »Für Tristan bürge ich selbst. Laß mir den Kerl herschicken!«
Mit einer erneuten Verbeugung entfernte sich Olivier und ging in den Palast zurück. Nachdenklich roch der König an Katharines Rose, deren Duft ihn zu beruhigen schien, denn er blieb, sich behaglich sonnend, in Gedanken versunken stehen und weidete seine Seele an dem Hochgenuß, den ihm das Spiel mit andrer Menschen Leben stets bereitete.
»Diese Männchen und Weibchen lass' ich nach meiner Pfeife tanzen wie Marionetten an ihrem Draht. Es wäre doch ein Kapitalspaß, wenn Katharine den König verschmäht hätte, um ihre Neigung diesem Bettler zuzuwenden. Er wird dafür gehenkt, daß er mich verspottet hat, aber trotz seiner Lumpen und Flicken hat er sich als König aufgespielt, und nun soll er wenigstens einmal Pracht und Herrlichkeit kosten.«
Als er die Terrasse entlang blickte, sah er Olivier zurückkommen. Er vermutete gleich, daß dieser dem neuen Großkonnetabel als Herold diene. Hinter Olivier kam denn auch ein Schwarm von Pagen, und hinter diesen wurde eine in Goldbrokat gekleidete gleißende Gestalt sichtbar.
»Aha, da kommt mein Bänkelsänger,« sagte Ludwig zu sich selbst, »und zwar so prunkend und hochtrabend, als sei er im Purpur geboren.«
Rasch verschwand er in dem alten Turm, während die Prozession die Treppe zum Rosengarten herunterstieg. In der Tür des alten Turmes befand sich ein mit einem verstellbaren Laden versehenes kleines Gitter, und hinter diesem Gitter beobachtete nun der König den Fortgang der von ihm selbst in Szene gesetzten Komödie. Olivier hatte recht gehabt: Meister Villon war völlig verändert. Schon des Barbiers eigene Kunst hatte sein Gesicht so geglättet und verschönt und die es umrahmenden Locken so zurechtgesetzt und geordnet, daß es dem alten Gesicht des Vagabunden glich wie der Mond einer Laterne. Dazu war er gekleidet wie ein Prinz von Geblüt: die Mittagssonne schien aus seinem Anzug von Goldbrokat neuen Glanz zu ziehen, die Luft war geschwängert von den Wohlgerüchen, die von ihm ausströmten, und die Welt im allgemeinen schien durch die Pracht seines Rauchwerkes und seiner Juwelen an Schönheit gewonnen zu haben. Obgleich sich der aufgetakelte Dichter in einem gräßlichen Dilemma befinden mußte, brachte er es doch fertig, sich in einer seinem Pomp entsprechenden Weise zu gehaben. Olivier verbeugte sich tief vor der in Goldbrokat gehüllten Gestalt.
»Wollen Euer Exzellenz vielleicht geruhen, in dieser Rosenlaube ein wenig zu rasten?« fragte er.
Der so prächtig angetane Mann sah ihn verwundert an. In Wahrheit befand sich der goldene Herr auch in einer verwunderlichen Gemütsverfassung. Soeben hatte er im Spiegel ein sauberes, glattrasiertes Gesicht erblickt, mit elegant frisiertem Haar, und nun versuchte er dies Gesicht in Einklang zu bringen mit dem ihm bisher vertrauten ungewaschenen, unrasierten und ungekämmten. Er beäugte die goldschimmernden Kleider, die ihn umhüllten, und seine Gedanken wühlten, sich zurückerinnernd, in einer schauderhaften, zusammengestoppelten, befleckten Garderobe. Rings um ihn her standen feierliche Pagen mit goldenen Bechern und Kannen in den Händen, und er zermarterte sich das Gedächtnis, um zu ergründen, auf welche Weise er von Meister Robin Turgis vom »Tannenzapfen« in diese glänzende Umgebung gekommen sein möchte. Sein Kopf schmerzte von der vergeblichen Anstrengung, und er gab sie auf. Olivier wiederholte seine Aufforderung, und endlich fand Villon Worte, aber seine Stimme klang ihm fremd und hohl und schlug hart, wie ein Kommando, an sein Ohr.
»Meine Vortrefflichkeit wird geruhen, alles zu tun, was Ihr vorschlagen werdet, mein guter Herr,« antwortete er, während er in der Tiefe seines Herzens dachte, es werde am besten sein, sich diesen fremden Trabanten anzupassen, die er mit dem, was er vom wirklichen Leben kannte, so ganz und gar nicht in Übereinstimmung zu bringen vermochte. Der Barbier verbeugte sich tief.
»Sofort werde ich Euch mit einigen kleinen Staatsangelegenheiten belästigen müssen,« bemerkte er dabei.
Villon lächelte ihm huldvoll zu, während er sich im stillen fragte, was der andre eigentlich meine; aber er fühlte, daß es einem weisen Mann gezieme, keine Verwunderung zu zeigen. Die Umstände waren allerdings sehr befremdlich, aber keineswegs unangenehm, und da war es jedenfalls am klügsten, sie von der heiteren Seite zu nehmen.
»Keine Belästigung, vortrefflicher Knirps,« erwiderte er. »Derartige Pflichten sind ebensoviele Freuden für den echten Mann.«
Wieder verbeugte sich Olivier.
»Seine Majestät werden wahrscheinlich später geruhen, Euch mit allerhöchst Ihrer Anwesenheit zu beehren.«
Wiederum erglänzte Villons Antlitz in Huld und wiederum fand er, wie er glaubte, Worte, die der Lage der Dinge bestmöglich angepaßt waren. Vielleicht fühlte er sich in diesem wunderbaren Land der Träume als Diener und Freund des Königs. Wenigstens konnte es nichts schaden, solche Gefühle an den Tag zu legen, wenn sein feierlicher Gefährte sie als selbstverständlich vorauszusetzen schien.
»Immer hocherfreut, den lieben Ludwig zu sehen. Wir sind sehr gute Freunde, er und ich. Die Leute sagen ihm häßliche Dinge nach, aber sie kennen ihn nicht, das dürft Ihr mir glauben!«
Er tat sein Möglichstes, die Bruchstücke seiner Erinnerung zusammenzustoppeln, um zu ermitteln, woher seine Freundschaft mit dem König eigentlich stamme, aber sein Kopf war schwer und schwindlig, und es war ihm zu Mute wie einem Menschen, der in einem dunklen Zimmer vergebens nach der Türklinke sucht. Die Stimme des Barbiers unterbrach seine inneren Kämpfe.
»Dürfen wir uns als entlassen betrachten, Monseigneur?«
Villons Gesicht erhellte sich; er dachte, es sei ganz angenehm, allein zu sein mit seinem verzweifelten Ringen nach Klarheit, und dies um so mehr, als die Pagen, wie François wohl bemerkt hatte, die goldenen Kannen und Becher auf den Marmortisch niedergestellt hatten. Sein Instinkt sagte ihm, daß in solch köstlichen Gefäßen auch ein köstlicher Stoff enthalten sein müsse.
»Gewiß, gewiß,« versicherte er, aber als der Barbier eben gehen wollte, besann er sich eines andern, hielt ihn am Ärmel zurück und zog ihn vertraulich zu sich heran.
»Verweilt noch einen Augenblick,« flüsterte Villon ihm zu. »Mein schändliches Gedächtnis – Ihr wißt ja, was mir das oft für Possen spielt, wie vergeßlich ich bin. Wollt Ihr nicht so gut sein, mir noch einmal zu sagen, wer ich eigentlich zufällig bin?«
Des Barbiers Züge verrieten auch nicht die leiseste Spur von Überraschung bei dieser immerhin ungewöhnlichen Frage.
»Monseigneur, Ihr seid der Graf von Montcorbier,« antwortete er ernst. »Ihr seid letzte Nacht aus der Provence in Paris angelangt, hierher empfohlen durch den König der Provence, bei dem Ihr in hohem Ansehen steht. Aber noch größer ist, wie ich glaube, die Gunst, die Euch der König von Frankreich zuwendet, denn er hat geruht, Euch zum Großkonnetabel von Frankreich zu ernennen. Es ist der ausdrückliche Wunsch Seiner Majestät, daß Ihr dessen stets eingedenk sein möget.«
Villon lachte, aber trotz aller Anstrengung klang dies Lachen nicht wie recht von Herzen kommend und nicht ganz natürlich.
»Selbstverständlich! Wie dumm von mir, dies zu vergessen! Nun sagt mal, guter Meister Langfuß, sollte man nicht glauben, daß ein Mann in einer so erhabenen Stellung auch über ein gut Teil Macht, Einfluß, Autorität und all dergleichen verfüge?«
»Durch die Gnade Seiner Majestät seid Ihr der erste Mann im Reich.«
Villon atmete erleichtert auf. Der Traum begann eitel Glanz zu werden.
»Ganz recht, ganz recht! Aber hat meine so erhabene Stellung auch in Beziehung auf Taschengeld angenehme Folgen?«
»Wenn Ihr nur in Eure Tasche greifen wollt,« schlug Olivier vor, auf Villons juwelengeschmückten Gürtel deutend. François langte in die an dem Gürtel hängende Tasche und zog die Hand voller funkelnagelneuer Goldstücke hervor, die fröhlich in der Junisonne funkelten. Mit einem freudigen Ausruf ließ er die Münzen wie einen kleinen Goldstrom von einer hohlen Hand in die andre gleiten und betrachtete ihr Gleißen und Glitzern mit der Wonne eines neuen Midas. Aber der erste Gedanke, der bei dem Anblick dieses überraschenden Reichtums in seinem Herzen aufstieg, war ganz selbstloser Art.
»Auf Ehre, goldene Rechenpfennige! Lieber Herr, habt doch die Güte und schickt sofort einen zuverlässigen Mann mit einer guten Handvoll dieser Dinger in die Kirche der Zölestiner; dort soll er den Büttel nach der Wohnung der Mutter Villon fragen, eines armen alten Weibs, die schwer heimgesucht ist durch einen Tunichtgut von Sohn. Die soll der Mann aufsuchen – sie wohnt im siebenten Stock und ist deshalb dem Himmel um so näher, wie sie es auch verdient – und der soll er das Geld geben, damit sie sich Nahrung, Feuerung und Kleidung davon kaufe.«
Viel zu verwirrt, um mit sich selbst über seine Lage ins klare zu kommen, fühlte er doch, daß die arme alte Frau, die er so zärtlich liebte, in seinen Wundertraum hineingehöre und ihren Anteil an dem Feengold haben müsse.
Ehrerbietig verneigte sich Olivier.
»Das soll sofort geschehen,« sagte er und schob die großen Goldstücke in seine Tasche. Dann deutete er auf eine kleine goldene Klingel, die einer der Pagen auf den Tisch gestellt hatte, und fügte hinzu: »Solltet Ihr irgend einen Wunsch haben, so braucht Ihr nur zu läuten.«
»Sehr gut, ich danke Euch,« antwortete Villon feierlich, worauf sich die Pagen mit tiefen Ehrfurchtsbezeigungen nach dem Palast zurückzogen. Der König an seinem Lauscherplätzchen war höchlich befriedigt, daß seine Befehle so pünktlich ausgeführt wurden und daß sich auch nicht die geringste Spur versteckter Heiterkeit bemerklich gemacht hatte.
Sobald Villon sich allein befand, sah er sich vorsichtig um, und sein Blick umfaßte die ganze Umgebung: die grauen Mauern des Palastes, die von Rosen überwucherten Stufen zur Terrasse und den altersgrauen, düsteren Turm mit seiner Sonnenuhr, vor allem aber den unermeßlichen Reichtum an köstlichen Rosen ringsum.
Sekundenlang schloß er die Augen, dann riß er sie wieder weit auf, als ob er erwarte, daß sich mittlerweile alles verändert habe; aber alles blieb, wie es war.
Auf den Fußspitzen schlich er sich über das Gras bis zu einem marmornen Ruhesitz, den eine große Statue des Gottes Pan zu beschirmen schien – das Geschenk eines orientalischen Fürsten an Ludwig. Hier ließ sich Villon nieder und versuchte, den Kopf in die Hände gedrückt, seine Erinnerungen zu sammeln. Aber merkwürdigerweise schien der gestrige Abend Jahrhunderte weit zurückzuliegen. Wohl entsann er sich dunkel der häßlichen Gefängniszelle mit dem Strohlager auf dem Fußboden und eisernen Ketten an den Wänden; auch der verdrießlichen Gesichter der mürrischen Schließer konnte er sich erinnern. Einer von diesen hatte ihm einen Krug Wein gereicht, und er hatte gierig getrunken, wie er es zu tun pflegte, und damit hatte er sich Vergessen getrunken.
Aber warum war er ins Gefängnis gekommen? Sein Kopf schmerzte, und aus den wechselvollen Ereignissen der letzten Nacht begannen sich verworrene Bilder zu formen. Sein Gedächtnis ging zurück bis zu der Entrüstung, die er über Frankreichs Erniedrigung empfunden hatte, als er die Ballade vortrug; dann tauchte die Erscheinung eines Engels auf, der irgend ein gar nicht engelhaftes Verlangen an ihn stellte, und darauf folgte ein Streit, ein Kampf im Finstern, den plötzlich die Fackeln der Wache erhellten. Er erinnerte sich auch noch des Bandes, das ihm von der Galerie herabgeworfen worden war; er griff in die Brusttasche seines goldenen Rockes, und siehe da: das Zeichen war vorhanden, wenn auch das zarte Weiß und Gold die Spuren der Berührung mit dem Fußboden der Spelunke an sich trug. Dann war seine Gefangennahme gefolgt, der Gang durch die nächtlichen Straßen bis in ein ihm unbekanntes Gefängnis, der Geschmack von Wein, und dann: Schlaf – Schlaf.
Als er sich seiner wieder bewußt ward, lag er in einem weichen Bette statt auf einem Haufen Stroh, und die Dunkelheit, die ihn umfing, war nicht die eines Gefängnisses. Plötzlich wurde ein Vorhang zurückgezogen, der Raum, in dem er lag, füllte sich mit sanftem Licht, und das, was er um sich sah, setzte Villon so in Verwunderung, als hätten sich die Pforten des Paradieses vor ihm geöffnet. Nun hatte er gesehen, daß er in einem prächtigen Bett, zwischen feinen Linnen und purpurseidenen Decken, lag; das Bett stand in einem köstlichen Gemach mit wertvollen Wandbehängen und einer Decke, an der goldene Sterne blinkten; purpursamtene Vorhänge verhüllten Fenster mit bunten, wappengeschmückten Scheiben, süße, linde Düfte erfüllten die Luft, und aus der Ferne drangen die Töne einer Laute herein.
Dann war, dessen entsann er sich noch genau, ein feierlicher Mann in Schwarz gekommen, mit ebenso feierlichen Begleitern, und die nahmen ganz merkwürdige Dinge mit ihm vor, als da sind: Baden, Parfümieren, Haarkämmen, Rasieren und dergleichen mehr. Und dann steckten ihn diese Leute in feine, weiche Leinwand und in pelzgefütterte, juwelengeschmückte Kleider und verwandelten den verkommenen Vagabunden in das Ebenbild eines großen Herrn. Und dann beschien die Sonne ein herrliches Mahl, das von ebenfalls feierlichen Leuten auf Gold und Silber aufgetragen wurde. Darauf war dann die Aufforderung zu einem Gang in die freie Luft gefolgt, und nun saß er hier in dem duftenden, in allen Farben prangenden Rosengarten. Villon fühlte sich krank an Kopf und Herz durch die Anstrengung, sich so viel aus seiner letzten Vergangenheit zusammenzureimen. Es war ihm zumute, als habe er durch eine titanische Gewalttat eine Welt in Trümmer geschlagen und sei nun von der Vorsehung berufen, sie wieder einzurenken und zusammenzuflicken. Staunend schlug er sich gegen die Stirn.
»Vergangene Nacht war ich ein Ausgestoßener und schlief ein auf dem Strohlager eines Kerkers – heute früh erwache ich in einem fürstlichen Bett, und meine Diener nennen mich Monseigneur! Auf dreierlei Weise läßt sich diese merkwürdige Geschichte erklären: entweder ich bin betrunken, oder ich bin verrückt, oder ich träume. Bin ich betrunken, so kann ich nie und nimmer Burgunderwein von Bordeauxwein unterscheiden – ein trauriger Fall. Machen wir die Probe.«
Der Marmortisch stand nicht weit entfernt. Die goldenen Kannen hatten bei dem in glänzender Erinnerung lebenden Frühstück gedient, und er entsann sich, daß die aufwartenden Diener gesagt hatten, das eine Gefäß enthalte Burgunder, das andere Bordeaux. Nun erhob er sich und schlich wieder sachte über den Rasen nach dem Tisch, nahm einen der goldenen Krüge auf und roch wie ängstlich an dessen Inhalt. Dann goß er davon in einen goldenen Becher. Vorsichtig hob er ihn an die Lippen und kostete bedächtig.
»Bei Gott!« rief er. »Nie ist je in den Weingeländen Burgunds ein edlerer Saft zur Reife gediehen!«
Er leerte den Becher, füllte einen andern aus der zweiten Kanne und roch und kostete ganz wie zuvor. Wiederum fand sich sein Gaumen höchst befriedigt.
»Eine solche Quintessenz gepreßter Veilchen kann nirgends anders wachsen als in den Tälern von Bordeaux. Also betrunken bin ich nicht! Ich glaube aber auch nicht, daß ich verrückt bin, denn im Grunde meines Herzens weiß ich ganz genau, daß ich der arme François Villon bin, der mittellose Magister der freien Künste, und nicht die Spur von einem Großkonnetabel von Frankreich. Dann träume ich also, bin in der Kaminecke des ›Tannenzapfen‹ eingeschlafen, nachdem ich den gemausten Krug ausgetrunken hatte, und alles, was seither war, habe ich nur geträumt. Mein Kampf mit Thibaut von Aussigny – der König, der im letzten Augenblick auftauchte – diese Kleider – diese Diener – dieser Garten – nichts als Träume, Träume, Träume. Ich werde nächstdem aufwachen und höllisch frieren, höllisch Hunger haben und höllisch armselig dran sein. Mittlerweile aber ist der Stoff hier ganz trinkbar.«
Eben war er dabei, sich noch einen Becher Wein einzuschenken, als ein Schatten vor seine Füße fiel und Olivier le Dain neben ihm stand, der mit seiner ehrfurchtsvollen Miene den verzauberten Dichter ansprach: »Euer Gnaden werden mir vergeben, aber es ist der Wunsch des Königs, daß Ihr jetzt über verschiedene Gefangene das Urteil sprechen sollt.«
Villon starrte ihn an.
»Ich? Und hier?«
»So ist es des Königs Wunsch und Wille.«
»Was für Gefangene?«
»Gewisse Schurken und Vagabunden, Männer und Weiber, die man gestern nacht bei einer Prügelei in der Weinschenke ›zum Tannenzapfen‹ festgenommen hat.«
Nachdenklich streichelte Villon sein Kinn. Ein fester Gedanke schien sich seines wirren Kopfes zu bemächtigen. Hier war eine Möglichkeit gegeben, den wahren Zusammenhang der Dinge festzustellen. Neugierig beugte er sich vor und fragte den lauschenden Barbier beinahe flüsternd: »Sagt mir, ist Meister François Villon, der Dichter und Vagabund, der Taugenichts und Lump, auch unter ihnen?«
Olivier lächelte mit der Miene eines Mannes, der gewöhnt ist, sich der guten Laune großer Herren anzupassen.
»Eure Exzellenz geruhen zu scherzen. Soll ich die Gefangenen kommen lassen?«
»Kann ich mit ihnen verfahren, wie ich will?«
»Ganz wie Ihr wünscht. So ist der Wille des Königs.«
Ergeben in die neue verwunderliche Sachlage lehnte sich Villon zurück. Schon mancherlei seltsame Träume hatte er geträumt, aber doch noch keinen so seltsamen wie den gegenwärtigen.
»Ein Dieb ist der beste Diebsfänger,« philosophierte er für sich. »Gut, so führt sie also vor!«
Mit einer Verbeugung verschwand Olivier in dem Rosengang, durch den er gekommen war. Als er gegangen war, schlug sich François dröhnend an die Stirn, als hoffe er, auf diese Weise seiner fünf Sinne wieder mächtig zu werden.
»Ach, mein armer Kopf!« stöhnte er. »Wache ich? Schlafe ich? Welch ein Quiproquo!«
Ein Gefühl von Widerwillen gegen den ehrfurchtsvollen Untergebenen stieg in ihm auf. »Dieser verdammte Kerl in Schwarz ist so verflucht feierlich. Ich möchte wissen, ob ich ihn aufknüpfen lassen könnte – er hat so ein ausgesprochenes Galgengesicht.«
Kaum hatte er diesen freundlichen Gedanken gefaßt, als das Geräusch vieler Schritte und das Klirren von Waffen hörbar wurde. Von der Seite des Palastes her führte ein kleiner Trupp Soldaten eine Anzahl gefangener Männer und Frauen in den Rosengarten. Sofort erkannte Villon in den Gefangenen seine vertrauten Freunde aus dem »Tannenzapfen«. An der Spitze der Soldaten marschierte ein niedlicher Offizier, ein richtiger Hofoffizier, halb Seide, halb Stahl, halb Geck, halb Krieger, der offenbar von seinen eigenen Vorzügen durchdrungen und ausschließlich mit ihnen beschäftigt war. Auch er war dem Dichter bekannt, denn es war der »weiß und rote« Herr, der Katharine begleitete, als er sie zum ersten Male erblickt hatte, und der, wie er von Katharine selbst wußte, Noel le Jolys genannt wurde.
»Der Puppenkopf, der nach meiner Dame angelt,« grollte François. »Der Kerl verdirbt mir den ganz Traum.«
Villon war von tiefem Mitgefühl für seine Spielkumpane und von tiefem Widerwillen gegen den weißen und roten Offizier erfüllt. Seine Freunde sahen so bedrückt, so bekümmert und elend aus, während der andre in Selbstbewunderung und Selbstzufriedenheit förmlich zu schwimmen schien, was Villons Herz mit bitterem Groll über die Ungerechtigkeit des Schicksals erfüllte.
»Wie jämmerlich und schmutzig meine armen Teufel aussehen,« dachte er, während die Soldaten ihre Gefangenen vor ihm in Reih' und Glied aufstellten und ihr rosiger, duftender Befehlshaber zierlich vortrat und Villon begrüßte, dem er gleichzeitig ein Schriftstück überreichte.
»Monseigneur,« meldete er geziemend, »hier sind die Namen dieser Nachtvögel verzeichnet.«
Villon nahm das Papier und blickte dem jungen Mann fest in die Augen.
»Haben wir uns schon früher einmal gesehen?« fragte er.
»Leider nein,« erwiderte der Offizier. »Eure Exzellenz sind ja an unserm Hof aufgetaucht wie ein neuer Komet. Ihr müßt uns zur Unterhaltung unsrer Damen viel von der Provence erzählen.«
Noch immer hielt Villon die Augen ernst auf ihn gerichtet, auch als er fragte: »Messire Noel, wenn wir zufällig beide, Ihr und ich, Lust zeigen sollten, die gleiche Rose zu pflücken hier in diesem Garten – wer von uns beiden würde wohl gewinnen?«
Der Verstand des liebenswürdigen Gecken schien der Sachlage nicht ganz gewachsen zu sein, wenigstens versicherte er: »Ich verstehe Euch nicht.«
Villon zuckte die Achsel. Dann setzte er sich wieder, warf einen Blick auf das Papier und befahl: »Laßt René von Montigny vortreten!«
Nachgerade hatte er die Überzeugung gewonnen, daß er doch nicht in den Irrgängen eines Traumes wandle, sondern alles wirklich sei, wenngleich er sich aus ihm unklaren Gründen in eine glänzende, machtvolle Stellung versetzt sah.
»Der Laffe hat mich nicht erkannt, das steht fest; vielleicht geht's bei meinen Eisenfressern ebenso,« dachte er, während René, von zwei Soldaten vorgestoßen, nun mit herausfordernder, trotziger Miene vor ihm stand.
Voll Interesse über die merkwürdige Wendung der Dinge beugte er sich etwas vor.
»Du bist?« fragte er.
Mürrisch erwiderte Montigny: »René von Montigny, von vornehmer Herkunft, aber in Mißgeschick geraten.«
»Aber nicht durch deine Schuld – natürlich!«
»Wie Euer Gnaden ganz richtig bemerken – nicht durch meine Schuld. Ich bin arm, aber, dank dem Himmel, ehrlich.«
Diese Bemerkung, die zu Nutz und Frommen aller Anwesenden laut gemacht worden war, wurde mit schallendem Gelächter begrüßt. – Villon griff die Versicherung auf.
»Seit wann?« fragte er. »Seit heute nacht?«
»Ich verstehe nicht, was Euer Gnaden meinen.«
»Als Jason in Kolchis seinen Acker bestellte, säte er Drachenzähne und erntete Krieger. Was pflanzest du in deinem Garten, Sire von Montigny?«
Überrascht sah René auf, aber seine Antwort ließ nicht auf sich warten.
»Kohl.«
Aber Villon schüttelte den Kopf.
»Pfeile. Meister René, burgundische Pfeile, äußerst schädliches Gemüse. Nimm dich in acht! Das ist verpestetes Gewächs und könnte leicht den Gärtner vergiften. Tritt ab!«
Starr vor Staunen stierte René den Sprechenden an. Sein teuerstes Geheimnis war diesem bekannt! Zum ersten Male wagte er es, dem mächtigen Herrn ins Gesicht zu sehen, und Villon gab den Blick herausfordernd zurück. Aber in Montignys Augen war keine Spur des Erkennens zu entdecken. Er fand nichts Gemeinsames zwischen dem glänzenden Herrn, der ihn verhörte, und dem abgerissenen Reimschmied, mit dem er so manches Abenteuer erlebt hatte, und im nächsten Augenblick neigte er ehrfurchtsvoll sein Haupt.
»Wenn Euer Gnaden geruhen wollten,« bat er mit flehend ausgestreckter Hand.
»Tritt ab!« wiederholte der unerbittliche Villon, und der widerstrebende Montigny wurde an seinen Platz zurückgezerrt, während Villon den nächsten Namen, Guy Tabarie, las.
Mittlerweile hatte der geistreiche Villon den Humor der Verhältnisse erfaßt und war nun überzeugt, daß er ein Erkanntwerden durch die übrigen, viel weniger gewandten und scharfsinnigen Kumpane nicht mehr zu fürchten habe. Wohl hatte er die langen Falten zu Seiten seiner Kopfbedeckung benützt, um sein Gesicht teilweise zu verhüllen, aber auch ohne dies fühlte er sich jetzt sicher.
Guy Tabarie spielte eine klägliche Figur, als er, von den Soldaten heftig vorwärts gestoßen, über den Rasen wankte und wie ein zitternder Fleischklumpen vor seinem einstigen Freunde niedersank. Zitternd und bebend kniete der rote, dicke Mann zu den Füßen des vermeintlichen Großkonnetabel und flehte um Gnade. Mit strengen Blicken betrachtete ihn Villon, der nur mit Mühe das Lachen unterdrückte.
»Kommst du mit reinen Händen?« fragte er. Guy streckte die Hände vor wie ein Schuljunge, den man nach der Anwendung von Wasser und Seife fragt, und stammelte unzusammenhängend und verwirrt: »Ein so anständiger Bursche, gnädigster Herr, als nur je einer versucht hat, Leib und Seele zusammenzuhalten auf dem Weg, dem schmalen Weg, der …«
»Hier unterbrach ihn Villon: »… der auf die Galeere führt, Meister Tabarie!«
Guys Fettwülste wackelten in kläglichem Protest: »Nein, nein! In mir lebt die Furcht des Herrn so stark wie in irgend einem andern Manne in Paris!«
Villon beugte sich etwas zu seinem Opfer nieder und flüsterte ihm die Frage ins Ohr: »Kennst du die Kirche von Saint-Maturin, Tabarie?«
Tabarie riß in entsetztem Staunen seine kleinen Schweinsaugen weit auf und stotterte ein »Nein, durchaus nicht, Euer Gnaden,« mit einem Staunen, das an sich schon ein Geständnis bedeutete.
Mit weiser Miene schüttelte Villon den Kopf.
»Meister Tabarie, Meister Tabarie, dein Gedächtnis läßt dich im Stich! Erst Mitte März bist du bei nachtschlafender Zeit in diese Kirche eingebrochen und hast die goldene Platte vom Altar geraubt. Die Furcht des Herrn ist nicht groß in dir!«
Hätte er den Worten eines Zauberers gelauscht, – Tabarie hätte kein erstaunteres Gesicht machen können.
»Alle Heiligen!« rief er. »Dieser Großkonnetabel ist der leibhaftige Satan! Monseigneur, ich bin verführt worden! Monseigneur, ich war nicht allein, ich …«
Villon hatte genug von der Unterhaltung mit dem dicken Halunken. Er winkte, und ein Soldat riß die Fettmasse wieder auf ihre Beine empor und führte den armen Teufel unter dessen leidenschaftlichsten Unschuldsbeteuerungen an seinen Platz zurück.
Nun rief Villon gleichzeitig zwei Namen auf, und Colin von Cayeulx und Casin Cholet wurden vorgeknufft.
Villon trat zwischen die beiden Schurken und betrachtete ihre Gesichter, auf denen sich heuchlerische Unterwürfigkeit und aufrichtige Furcht spiegelte.
»Seid ihr gute Bürger, ihr Leute?« fragte er, worauf Colin sofort erklärte: »Ich würde mich schämen, mein eigenes Lob zu singen, aber über meinen Freund hier kann ich offen reden, und ich erkläre, daß der König keinen getreueren Untertan und Paris keinen friedlicheren Bürger hat, als diesen Casin Cholet.«
Damit winkte er diesem einen innigen Gruß zu, was Casin mit freundlichem Grinsen und noch freundlicheren Worten erwiderte.
»Wenn ich auch meine kleinen Vorzüge besitzen mag, so danke ich sie doch nur dem Beispiel dieses Herrn. Blindlings und demütig habe ich mich von ihm leiten lassen. Sieh Colin von Cayeulx an und lerne, wie ein braver Mann leben soll, pflegte ich mir zu sagen.«
Über Villon weg blinzelten die beiden einander zu, denn sie hofften, daß ihre gegenseitige Lobhudelei auf den herablassenden hohen Herrn ihren guten Eindruck nicht verfehlen werde. Villon aber lächelte.
»Ihr seid also Kastor und Pollux in der Tugend und Reinheit. Entsinnt ihr euch nicht mehr des jungen Mädchens, das ihr letzten Fastnachtdienstag entführt und bei der ›fetten Grete‹ gefangen gehalten und erst gegen Lösegeld freigegeben habt?«
Der Eindruck, den diese Worte auf die beiden Schurken machten, war verblüffend. Diese abscheuliche Tat fiel ihnen wieder ein, und sie zitterten bei dem Gedanken, daß sie ruchbar geworden sei. In einem Augenblick war die vorgespiegelte Freundschaft bis auf die letzte Spur verschwunden, und mit der Wut kläffender Hunde warfen sie sich gegenseitig Beschuldigungen und Anklagen an den Kopf.
»Das war Colins Schandtat!«
»Das war Casins Abenteuer!«
»Ich habe es tief beklagt!«
»Ich habe nichts damit zu tun gehabt!«
Alle Achtung vor der Obrigkeit vergessend, fingen sie an, über die Person ihres Richters weg aufeinander loszuschlagen, und sie waren im Begriff, eine regelrechte Prügelei zu beginnen, als Villon der Sache ein Ende machte und auch sie an ihre Plätze zurückführen ließ.
Nun war noch einer übrig – Jehan le Loup, der mit übereinandergeschlagenen Armen und gesenkter Stirn die Bemühungen seiner Gefährten beobachtete. Villon gab ein Zeichen, und der Mann wurde gebracht. Als er vor ihm stand, klopfte ihm Villon auf die Schulter.
»Für einen Gefangenen scheinst du recht guten Mutes zu sein,« bemerkte er.
Die freundliche Herablassung des Würdenträgers ermutigte den Schurken, und er erwiderte keck: »Mein gutes Gewissen erhält mich aufrecht.«
Noch blieb Villons Miene freundlich, als er die nächste Frage stellte, aber so leise, daß sie nur an Jehans Ohr drang: »Das freut mich, zu hören! Auf welche Weise kam denn Thevenin Pensete ums Leben?«
Einen Augenblick zuckte es in Jehan le Loups Zügen, aber dann preßte er die Finger fest zusammen, und es gelang ihm, sich zu beherrschen, so daß er gelassen zu entgegnen vermochte: »Wie sollte ich das wissen, Monseigneur?«
Villon trat ihm näher und sagte noch leiser: »Wer könnte es besser wissen als du? Der wüste Streit beim Kartenspiel, heftige Schimpfreden, ein Griff nach dem Einsatz, ein umgeworfener Tisch, eine ausgelöschte Kerze, ein Stoß im Dunkeln, ein Stöhnen und – exit Thevenin Pensete. Du läßt deinen Dolch nicht rosten!«
Jehans graues Gesicht ward noch grauer und häßlicher, aber er bewahrte Fassung und Haltung.
»Monseigneur, ich habe ihn geliebt wie einen Bruder.«
»Ja, wie Kain seinen Bruder Abel,« sagte Villon und winkte, daß Jehan zu den andern zurückgebracht werde.
Bisher hatte Villon die Sache viel Spaß gemacht. Er hatte sich an den Ängsten seiner Freunde ergötzt und sie nach Herzenslust verblüfft. Als nun aber sein Blick auf die Gruppe der Mädchen fiel, die sich zu Füßen der Panstatue aneinander schmiegten wie scheue Vögelchen, kam ihm das Bewußtsein, daß die schwierigere Aufgabe noch vor ihm liege. Er winkte Noel herbei und befahl: »Führt diese vier Damen dort vor!«
Der Laffe machte ein langes Gesicht.
»Damen, Messire? Diese vier Straßendirnen?«
»Es sind Frauen, lieber Hauptmann, und wir sind Edelmänner, oder sollten es wenigstens sein, und müssen ihnen demgemäß begegnen,« wies ihn Villon zurecht.
Messire Noel blickte finster, und seine Hand fuhr nach dem Degen; im nächsten Augenblick sah er aber ein, wie töricht es wäre, mit solch großem Herrn Streit anzufangen, und begnügte sich damit, achselzuckend zu fragen: »Und die Hochstaplerin in Hose und Wams?«
»Laßt sie noch einen Augenblick.« Und nun traten auf ein Zeichen Noels die vier Mädchen mit niedergeschlagenen Augen heran, während Huguette, nachlässig an die Statue Pans gelehnt, allein zurückblieb und die Szene mit gutgelauntem Spott beobachtete.
Als die Mädchen dicht vor ihm standen, sprach Villon: »Nun, junge Damen, was für ein Geschäft treibt ihr denn, daß ihr in eine solche Lage gekommen seid?«
Jehanneton knickste: »Ich mache Kappen als Helmfutter.«
Rasch folgte Isabeau: »Ich bin Spitzenklöpplerin – ein ehrbares Gewerbe, meiner Treu.«
Die nächste war Blanche: »Ich bin Pantoffelmacherin.«
Denise machte den Beschluß: »Und ich bin Handschuhnäherin.«
Der Mutwille lachte aus Villons Augen.
»Eines so gut wie das andre! Doch ein Wörtchen im Vertrauen!« Und der Reihe nach flüsterte er jedem der jungen Mädchen etwas ins Ohr, worüber jedes erstaunte, zurückfuhr, errötete und lachte.
Es ist ewig zu beklagen, daß der Nachwelt nicht übermittelt worden ist, was der Dichter jeder einzelnen zugeraunt hat. Man weiß nur, daß er ganz genau Bescheid wußte mit einzelnen physischen Eigentümlichkeiten, und mit Abenteuern, von denen jede glaubte, sie seien nur ihr allein bekannt. Das Nähere muß sich die Phantasie des einzelnen selbst ausmalen.
Tatsache aber ist, daß die vier Mädchen ihre Köpfe zusammensteckten wie Spatzen und aufgeregt durcheinandersprachen: »Der Herr ist ein Hexenmeister! Denkt nur, er sagt …« – »Nein, so ein Wunder! Er weiß …!« – »Hört nur! Mir hat er erzählt …!« – »Was glaubt ihr wohl, was er zu mir gesagt hat?«
Und jede flüsterte der andern ins Ohr, was Villon gesprochen hatte, bis dieser selbst sie unterbrach: »Frauenzimmerchen, Frauenzimmerchen, die Welt ist ein höllisch schlechter Ort für den Armen. Ich könnte euch eine lange Predigt halten über eure Torheit und Sündhaftigkeit, aber die Worte bleiben mir in der Kehle stecken. Hier ist ein Goldstück für eine jede. Jetzt geht und pflückt euch von diesen Rosen hier, von meinen Rosen, und nehmt sie mit in euer Heim, das heißt, was ihr, Gott sei's geklagt, euer Heim nennt.«
Jehanneton stieß einen Ruf der Überraschung aus.
»So sind wir frei?«
Traurig entgegnete Villon: »Frei? Arme Kinder, euresgleichen ist niemals frei. Geht und betet zu Gott, daß er, um der Töchter eurer Töchter willen, die Männer bessere.«
Seine ausgestreckten Hände waren voller Goldstücke, aber sie leerten sich schnell, als die gierigen Mädchen sich darüber stürzten. Dann verließen sie ihn unter Knicksen und Danksagungen und verschwanden hochbeglückt in den Gängen des Rosengartens.
Nun wendete sich Villon wieder den männlichen Gefangenen zu, die sein Tun mit angstvollen Blicken beobachtet hatten.
»Was diese Männer betrifft,« sagte er zu Noel, »so laßt sie gehen, wohin sie wollen, aber zuerst gebt ihnen zu essen und zu trinken und einen Sack voll Geld.«
Diese Worte wirkten gleich lähmend auf die Gaunerbande wie auf Noel, nur gefielen sie der einen so gut, als sie dem andern mißfielen.
Noel zeigte im Blick die Verachtung, die er nicht auszusprechen wagte. Die Männer stürzten auf Villon zu und überschütteten ihn mit Dankbarkeitsergüssen.
»Gott schütze Euch, gnädiger Herr!«
»Lang lebe der Großkonnetabel!«
»Ein höchst seltener Konnetabel!«
»Eure Exzellenz ist eine ganz vortreffliche Exzellenz!«
Villon drängte sie zurück und sagte: »Geht eurer Wege und sorgt – falls ihr es könnt –, daß es bessere werden.«
Gröhlend und tanzend vor Freude, machten sie ohne weiteres Zögern von dieser Erlaubnis Gebrauch und entfernten sich ebenfalls durch die Gänge des Rosengartens, wo sie die Weiber suchten und fanden, um mit ihnen in die Labyrinthe von Paris zurückzukehren.
Jetzt wendete sich Villon an Noel, dem er befahl: »Ihr könnt Eure Soldaten entlassen. Ihr selbst erwartet mich in Rufweite!«
Als Noel gehorcht und sich entfernt hatte, ging Villon auf Huguette zu, die noch immer mit verächtlicher Gleichgültigkeit auf ihrem schönen Gesicht an der Statue lehnte.
»Woher, in Gottes Namen, mag es kommen, daß mir heute die ganze Welt so anders erscheint, als bisher?« fragte sich François, während er auf Huguette zuschritt. »Ist es das sogenannte bessere Selbst, das sich regt, oder liegt es nur an dem feinen Linnen und dem Purpur?«
Zu dem Mädchen aber sprach er: »Schöne Herrin, Ihr habt ein liebliches Gesicht und auch, wie Ihr es ja deutlich zeigt, eine liebliche Gestalt. Warum tragt Ihr Euch so?«
Das Mädchen zuckte ihre grüne Achsel und verlegte das Schwergewicht ihres Körpers von einem grünen Bein aufs andre, während sie schamlos erwiderte: »Mir zuliebe, weil es bequem ist, und den andern zuliebe, damit sie sich an meinem schönen Wuchs ergötzen können.«
Noch vergangene Nacht war von allen Menschen dieses Mädchen allein ihm vertraulich nahe gestanden, mit ihm befreundet gewesen, und heute fand sie sich schon abgrundtief unter seiner märchenhaften Größe. Seine nächsten Worte waren voll Mitleid.
»Seid Ihr ein glückliches Weib, Herrin?«
»Glücklich genug,« antwortete sie und knipste herausfordernd mit dem Finger, »falls nicht Narren wie Ihr mich ins Gefängnis werfen, weil ich das Leben auf meine Weise lebe.«
»Ein Narr mag ich sein, aber Euch habe ich nicht ins Gefängnis geworfen – da sei Gott vor!«
Ein eigentümlicher Ausdruck zeigte sich in Huguettes Augen, und sie trat etwas näher an ihn heran. Aus ihrer Stimme klang es wie Liebkosung, die Haltung ihrer Hände war eine Liebkosung, jede Linie ihres verführerischen Körpers war eine Liebkosung. Es war, als wolle sie ihn mit katzenartiger Geschmeidigkeit umschmeicheln, als sie flüsterte: »Eure Stimme klingt mir bekannt, Monseigneur! Habe ich vielleicht schon die Ehre gehabt, Euch dienen zu dürfen?«
Villon fuhr vor ihr zurück: körperlich und gemütlich fühlte er sich angeekelt. Ihn jammerte der Dirne sowohl, als seiner selbst.
»Wer weiß!« erwiderte er, worauf das Mädchen lachte und sich zur Seite drehte.
»Und was liegt auch daran? Was habt Ihr mit mir vor, Herr?«
»Euch freizulassen, mein zierlicher Raubvogel; diese wilden Schwingen sind nicht dazu bestimmt, gestutzt zu werden und sich an engen Wänden zu zerstoßen. Kann ich irgend etwas für Euch tun?«
Im nämlichen Augenblick war ihre geschmeidige Verführungskunst wie weggeblasen und ihr ganzes Wesen war nur zitterndes Flehen.
»Was ist aus Meister François Villon geworden?«
»Warum fragt Ihr?«
»Als wir gestern nacht ins Netz gerieten, befand er sich in unsrer Gesellschaft, aber im Gefängnis war er nicht mit uns zusammen, und auch jetzt befindet er sich nicht hier. Ist er noch am Leben?«
Villon zauderte einen Augenblick mit der Antwort.
»Er ist am Leben. Er ist von Paris verbannt, aber er lebt.«
Huguette faltete die Hände und sagte inbrünstig: »Allen Heiligen sei's gedankt!« Und in ihrer Stimme lag etwas, das Villon von der Wahrheit und Aufrichtigkeit ihrer Empfindung überzeugte.
»Was kümmert Euch denn das Schicksal dieses Kerls?«
»Weil ich eine Närrin bin, bilde ich mir ein, ihn zu lieben!«
»Aber um Gottes willen, warum denn?«
»Das kann ich Euch nicht gut erklären, Messire. Der Blick seiner Augen, der Ton seiner Stimme – das Etwas – das Nichts, das das Herz eines Weibes schmelzen macht wie Wachs im Feuer. Nie hat er ein Weib beglückt, und ich möchte einen Eid darauf leisten, daß auch er noch nie bei einem Weibe glücklich war. Gebt ihm den Mond und er verlangt als Dreingabe auch noch die Sterne. Er glaubt nichts; er verlacht alles. Er ist ein falscher Affe – und doch: ich wollte, ich hätte solch ein Kind geboren!«
Ein plötzlicher Schmerz durchwühlte das Herz des Mannes, wie wenn das Mädchen es ergriffen hätte und stückweise zerfetzte, aber leichthin erwiderte er: »Sprechen wir nicht mehr von diesem Halunken! Jetzt glaubt er an mehr und verlacht weniger als zuvor. Er freut sich seines Lebens so sehr, daß ihm der Kopf bis in den Himmel wächst und die Sterne als goldener Staub zu seinen Füßen fallen. Paris kann sich freuen, diesen Maulaffen los zu sein.«
»Ihr seid ein heiterer Herr!«
»Mit Euch möchte ich mehr gut als heiter sein. Wollt Ihr diesen Ring tragen zum Andenken an mich? Denkt, er komme von Meister François Villon, der sich stets freundlich Eurer feurigen Augen erinnern wird.«
»Laßt mich Euer Gesicht besser sehen,« bat sie, denn er hatte während der ganzen Zeit seine Züge so gut als möglich mit den tief herabhängenden breiten Falten seiner Kopfbedeckung beschattet. Statt aber diesen Wunsch zu erfüllen, rief er Noel le Jolys herbei und sagte: »Hauptmann, gebt dieser Dame ehrenvolles Geleite.«
Dann entfernte er sich und ließ das Paar allein: das männische Weib und den weibischen Mann, die einander betrachteten; sie ihn mit schlecht verhehlter Mißachtung, er sie mit offener Bewunderung.
»Ihr seid ein schönes Mädchen,« versicherte Noel, geradeswegs auf sein Ziel losgehend.
»Das ist mir längst bekannt.«
Nun dämpfte Noel die Stimme: »Wo wohnt Ihr?«
Im Nu war Huguette wieder ganz bei ihrem Geschäft. Sie ließ ihm den Ring des Großkonnetabel in die Augen blitzen, während sie antwortete: »Im ›Goldenen Schädel‹, dicht neben dem ›Tannenzapfen‹. Wollt Ihr mich aufsuchen?«
Noel erhob beteuernd die Hand: »So wahr ich ein Mann bin: ich komme.«
Nachdem auf diese Weise ein gutes Einvernehmen angebahnt war, trollte sich das Pärchen weiter und war bald aus Villons Gesichtskreis verschwunden. Er blickte den beiden sinnend nach.
»Gott verzeih mir's, ich bin ein höchst kläglicher Bußprediger! Jeder dieser Schurken hat den Galgen mehr als verdient, aber ich kein Haarbreit weniger, und noch habe ich nicht so viel Hofluft eingeatmet, daß ich zum Heuchler taugte. Jedenfalls macht das ›Rechtsprechen‹ Durst, und ob ich nun verrückt bin oder nicht, ob ich wache oder träume – jedenfalls will ich trinken, solange ich kann.«
Damit kehrte er zu den goldenen Kannen zurück, schenkte sich einen Becher Burgunder ein, betrachtete, wie der Wein im Sonnenschein glühte, und führte den Becher zum Munde.
»Der holdesten Frau diesseits des Himmels!« toastete er, aber ehe noch seine Lippen den Rand des Pokals berührt hatten, stellte er ihn wieder auf den Tisch zurück.
Olivier le Dain war auf der Terrasse erschienen, und mit ihm kam eine Dame.
»Bei Gott,« rief er, »wenn mich nicht meine Augen täuschen, so ist sie's selbst!«