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Müller las die geschriebenen Zeilen noch einmal durch und verschloß sie dann nebst dem Manuscripte in ein umfangreiches Couvert. Als er sich dann schlafen legte, war die Nacht bereits vorüber, und der Morgen brach herein. Deshalb legte er sich nicht in das Bett, sondern auf das Sopha, um bei Zeiten wieder aufzuwachen.
Seine Verkleidung hatte er natürlich abgelegt, bevor er sich das Licht anbrannte, da er keinen Augenblick sicher war, von dem alten Capitän durch die Glastafel belauscht zu werden. Doch hatte er bereits im Stillen beschlossen, ihm dieses Beobachten gehörig zu verleiden.
Er mochte kaum ein Stündchen geschlafen haben, als ihn der Schall von Pferdehufschlägen erweckte. Er erhob sich und trat an das Fenster. Es war ein Wagen angespannt worden, und soeben stieg der Maler ein, um sich nach dem Bahnhofe von Thionville fahren zu lassen. Sein hübsches Gesicht hatte einen sehr unternehmenden, hoffnungsvollen Ausdruck. Er gedachte wohl, mit großen Erfolgen heimzukehren; aber der da oben, von ihm unbemerkt, am Fenster stand, kannte diese Erfolge bereits genau. Er konnte sich auf die geistreiche Schwester verlassen, von der er wußte, daß sie den Franzmann so bedienen werde, wie es der Bruder von ihr erwartete.
Dieser nahm wieder auf dem Sopha Platz und schlief zum zweiten Male ein. Als er wieder erwachte, war es vom Schall einer überlauten, kreischenden Musik. Er warf den ersten Blick auf seine Uhr; es war wahrhaftig bereits neun Uhr. Der zweite Blick fiel durch das Fenster hinaus und hinunter in den Schloßhof. Dort standen sechs phantastisch bekleidete Musikanten, welche sich bemühten, mit zwei Clarinetten, einem Horn, einer Oboe, einer Posaune und einer Trommel irgend eine Art von Marsch zu Stande zu bringen. In ihrer Nähe hielten auf Pferden vier theatralisch aufgeputzte Personen, drei Männer und ein Frauenzimmer. Als der Marsch beendet war, erhob der Trommler seine Stimme und verkündigte, daß heute Nachmittag zwei Uhr Thionville nebst Umgegend das ungeahnte Glück haben werde, die weltberühmte Künstlertruppe anzustaunen.
Diese Leistungen wurden unter der pompösesten Titulatur aufgezählt, und da in dieser Gegend sich nur höchst selten einmal eine solche Gesellschaft sehen ließ, so war es kein Wunder, daß sämmtliche Schloßbediensteten zusammenliefen, und auch die Herrschaften an das Fenster traten, um die Künstlervagabunden in Augenschein zu nehmen.
Ganz in der Nähe der wunderlich aufgeputzten Reiter stand Alexander. Er hatte seine Freude an den Leuten und fragte, als der Tambour geendet hatte:
»Was kostet das Billet?«
»Nummerirte vordere Reihe fünf Franken, hintere Reihe vier Franken, erster Platz drei Franken, zweiter zwei, dritter einen Franken und Stehplatz außerhalb der Barriére einen halben Franken,« antwortete der Mann geläufig. »Wollen Sie einige Billets behalten, gnädiger Herr? Wenn Sie jetzt abonniren, erhalten Sie die besten Plätze von Nummer eins an!«
Er hatte mit geübtem Auge erkannt, daß der Frager jedenfalls der Sohn der Herrschaft sei; und so einem Lieblingssöhnchen vermögen die Eltern selten zu widerstehen.
»Fünf Billets vordere Reihe!« befahl Alexander.
Er hatte gar nicht darauf geachtet, daß die Baronin oben das Fenster öffnete und ihm winkte. Er zog seine Börse, welche trotz seiner Jugend stets wohl gefüllt war, und bezahlte fünfundzwanzig Franken. Die Künstler zogen befriedigt ab.
Nach kurzer Zeit klopfte es an Müller's Thür, und Alexander trat herein. Sein Gesicht war sehr geröthet, ob vor Freude, oder einem anderen Seelenaffecte, oder irgend einer Anstrengung, das ließ sich nicht bestimmen.
»Haben Sie sie gesehen, Monsieur Müller?« fragte er.
»Wen? Die Künstler?«
»Ja, natürlich!«
»Ich habe sie allerdings gesehen,« antwortete lächelnd der Deutsche, als er die vor Freude blitzenden Augen des Knaben sah.
»Ich habe fünf Billets genommen. Hier ist eins. Sie fahren natürlich mit, Monsieur.«
»Ah! Ich? Wer fährt noch mit?«
»Zunächst Mama –«
»Nicht möglich!« entfuhr es Müller.
»Warum nicht möglich? Sie zürnte mir; aber was ich will, das will Mama schließlich doch immer auch,« meinte Alexander in stolzem Tone.
»So sind noch zwei Billets übrig.«
»Sie sind bereits verschenkt. Marion und Mademoiselle Nanon fahren mit.«
»Diese Beiden?« fragte Müller erstaunt. »Waren sie sofort einverstanden?«
»O, eigentlich nicht. Marion meinte, es schicke sich nicht so recht für uns, diese Art von Schaustellungen zu besuchen; aber als Dank für die beiden Bouquets vom Heidengrabe wolle sie mir ihre Zusage geben. Ist dies nicht sehr lieb von ihr? Mademoiselle Nanon war somit gezwungen, sich ohne allen Widerspruch anzuschließen.«
»Und wenn nun ich widerspreche?« lächelte Müller.
»O, Sie widersprechen nicht,« behauptete Alexander; »das sehe ich Ihrem guten Gesichte ja sofort an. Nicht wahr, ich habe richtig gerathen?«
»Ja, ich werde Ihnen die Freude nicht verderben, mein lieber Alexander.«
»Ich danke Ihnen! Und wissen Sie, was Mama Ihnen sagen läßt?«
»Nun?«
»Sie sollen mit ihr und mir in einem Wagen Platz nehmen; im anderen fahren Marion und Nanon. Ist das nicht allerliebst von der Mama? Aber ich muß fort, denn bei einer solchen Veranlassung sind tausend Vorbereitungen zu treffen.«
Er eilte fort. Müller war es gar nicht unlieb, diesen Abu Hassan in seinen Kunstleistungen kennen zu lernen; aber fast förmlich verdutzt machte ihn die Einladung der Baronin, mit in ihrem Wagen Platz zu nehmen. Welchen Grund hatte sie dazu? War es die Anerkennung für die Liebe, welche er Alexander eingeflößt hatte?
Er schritt nachdenklich im Zimmer auf und ab, trat an den Spiegel, um sich zu betrachten, und fand, daß seine künstliche Hautfarbe an Tiefe verloren hatte. Er nahm ein kleines Fläschchen, welches Nußschalenextract enthielt, tauchte den Pinsel hinein und bestrich sich Gesicht, Hals und Hände von Neuem mit dieser die Haut verdunkelnden Feuchtigkeit, welche, da es leicht ist, mit diesem Extracte verschiedene, älter machende Schattirungen anzubringen, nicht wenig dazu beigetragen hatte, sein Aeußeres zu verändern.
Hierauf trat er an das Fenster und musterte die draußen liegende Frühlingslandschaft.
»Ah, was ist das?« fragte er sich. »Da draußen unter der Linde liegt Einer. Ist das vielleicht Fritz? Und von der Spitze scheint Etwas herabzuhängen, was ich auch noch nie gesehen habe. Ich muß sogleich das Fernrohr nehmen, um mich zu überzeugen.«
Er holte das Fernrohr, öffnete die Fensterflügel und visirte nach der Linde hinüber. Da sah er deutlich seinen Fritz mit dem Fernrohre sitzen. Dieser erkannte auch ihn genau, denn er zog den Hut vom Kopfe und grüßte mit demselben. Er hatte jedenfalls etwas Wichtiges zu berichten; dies zeigte seine Gegenwart bei der Linde.
Müller nahm sein weißes Taschentuch und winkte damit, zum Zeichen, daß er kommen werde, und sofort erhob sich Fritz, um nach dem Walde zu gehen.
Auch Müller verließ das Schloß, nachdem er die heute Nacht geschriebenen Briefe zu sich gesteckt hatte, und that, als wolle er sich ein Wenig ausgehen. Er schlenderte langsam dem Parke zu, nahm aber dann einen schnelleren Schritt an, und schritt dem Walde entgegen, in welchem an der verabredeten Stelle Fritz aus den Büschen trat.
»Guten Morgen, Herr Doctor,« grüßte er freundlich. »Ausgeschlafen?«
»Wenig geschlafen.«
»Ich gar nicht.«
»Gar nicht? Ah, Du hast Wache gehalten?«
»Ja, aber nicht da, wo ich sollte.«
»Wo sonst?«
»In einer alten Ruine, wo die Verschwörer zusammenkommen, und wo ich beinahe um das Leben gekommen wäre.«
»Du bist nicht klug!« rief Müller erschrocken. »Du hast Dich doch nicht etwa ohne meine Genehmigung in eineVersammlung dieser fanatisirten Franzosen gewagt?«
»Leider doch!« antwortete Fritz in kläglich komischem Tone.
»Und bist erwischt worden? Fritz, Du wirst uns wirklich noch verrathen!«
»Fällt mir gar nicht ein. Das Ding hat keine anderen Folgen gehabt, als daß ich während der Nacht zwischen den Sträuchern mir den Rücken wund gelegen habe.«
»So erzähle!«
»Nicht hier am Wege, sondern etwas tiefer im Walde. Hier könnten wir überrascht werden.«
Sie schritten weiter zwischen die Bäume hinein, und nun erzählte Fritz sein nächtliches Abenteuer. Sein vorhergehendes Zusammentreffen mit Nanon verschwieg er aber.
Als er geendet hatte, zeigte Müller's Gesicht einen ganz erstaunten Ausdruck.
»Wunderbar, daß ich von dieser Ruine noch nichts gehört habe!« sagte er. »Wie es scheint, sind die von uns gesuchten Vorräthe dort zu finden, während wir annehmen, daß sie in der Nähe des alten Thurmes versteckt seien. Ist es weit bis zu der Ruine?«
»O, gar nicht so sehr weit; kaum so weit wie bis zum Thurme.«
»So führe mich hin, ich muß sie sehen.«
Sie gingen, und unterwegs ließ Müller sich Verschiedenes noch ausführlicher berichten.
»Also einen eisgrauen Bart hatte der Redner?« fragte er.
»Ja; der Bart war dicht und lang. Als der Mann meine Anwesenheit entdeckt hatte, fletschte er die Zähne, wie ein Bullenbeißer, welcher Jemand anspringen will.«
»Er ist's! Es war kein Anderer!«
»Wer?«
»Der alte Capitän von Schloß Ortry. Und wenn mich nicht Alles trügt, so waren die beiden Anderen der Graf Rallion mit seinem Sohne, dem Obersten, der die Baronesse Marion zur Frau haben will.«
»Der Teufel soll sie ihm schaffen!« zürnte Fritz. »Die ist für einen Anderen bestimmt.«
Dabei blinzelte er seinen Herrn von der Seite an, doch dieser that, als ob er es gar nicht bemerke, sondern frug in gelassenem Tone weiter:
»Und Du weißt bestimmt, daß Du die beiden Anderen verwundet hast?«
»Ganz bestimmt. Dem Einen habe ich das Messer über das ganze Gesicht weg gezogen, und der Andere muß ein gewaltiges Loch in der Hand haben, denn ich entsinne mich, daß ich das Messer in der Wunde umgedreht habe, als ich davon sprang.«
»Sie haben sich heute noch nicht sehen lassen, aber ich werde es erfahren, ob sie es sind. Spät genug sind sie nach Hause gekommen. Aber, Mensch, was hättest Du denn gemacht, wenn die Thür nicht wieder geöffnet worden wäre?«
»So wäre ich durch die hintere Thür entsprungen.«
»Aber wohin?«
»Das weiß der liebe Gott, ich nicht!«
»Du wärst jedenfalls in einen unterirdischen Gang gerathen, und hättest da, wenn Du nicht vorher entdeckt worden wärst, auf schändliche Weise verhungern können!«
»Ich vertraute auf den lieben Gott, der bekanntlich keinen Deutschen verläßt.«
»Gegen ein braves Gottvertrauen habe ich nicht das Mindeste einzuwenden, doch darf es nicht zur Tollkühnheit verleiten. Sei vorsichtiger das nächste Mal! Ich bedarf Deiner und mag Dich nicht auf so leichtsinnige Weise verlieren. Das ist aber die Hauptsache nicht, sondern Du bist ein braver Kerl; ich habe Dich lieb und will nicht sehen, daß Dich Dein Muth in eine Lage bringt, aus welcher ich Dich nicht retten kann.«
»Dieses Wort danke Ihnen der liebe Gott, Herr Rittmeister!« sagte Fritz, die Hand seines Herrn ergreifend. »Vielleicht kommt die Zeit, in der ich es zu einem kleinen Theile vergelten kann.«
»Das kann man nicht wissen. Der Krieg bricht sicher los. Wir kämpfen neben einander; da ist es leicht möglich, daß wir einander Dienste leisten müssen, an die wir jetzt noch nicht denken mögen. Der Himmel sei uns dann gnädig gesinnt!«
Fritz kannte jetzt die Richtung sehr genau, in welcher er die Ruine zu suchen hatte. Sie erreichten sie wirklich eher, als sie den alten Thurm erreicht hätten. Als sie an der Front hinabschritten, in welcher sich die Einfahrt befand, erkannte Müller, daß es ein Kloster gewesen sein müsse.
Sie durchschritten die Durchfahrt, doch sprang Fritz zurück, um sich vorher einige Kienäpfel zu holen, denn ohne Licht konnte man da unten im Saale nichts erkennen.
In dem großen Hofe angekommen, zeigte er seinem Herrn den Ort, wo er den Mann überfallen, und dann die Thurmecke, in welcher er ihn gefesselt hatte. Dann traten sie in die Thorpforte ein und schritten den Gang hinab. Fritz machte den Führer, da er das Beleuchtungsmaterial für unten aufsparen wollte. Sie gelangten an die Treppe und durch diese in den unteren Gang. Die Thür zum Saale war nicht verschlossen. Sie traten ein.
Jetzt zog Fritz seine Kienäpfel und ein Zündhölzchen hervor und brannte einen an. Das dunkelgelbe, rauchige Licht konnte nur wenig Helle verbreiten, aber sie erkannten doch, daß hier noch gar nicht aufgeräumt worden sei. Die Scherben der zerbrochenen Lampen lagen noch zertreten und zerstampft am Boden, und – sie wichen Beide erschreckt zurück, denn da öffnete sich die hintere Thür, und herein trat der alte Capitän mit einer großen Lampe und einem – Besen in der Hand.
Die Lampe hatte einen polirten Reflector, welcher den Schein des Lichtes verzehnfachte. Dieser Schein fiel auf die beiden Dastehenden. Der Capitän sah sie und erkannte Müller auf den ersten Blick. Ein schneller Gedanke durchzuckte ihn. Was wollte Müller hier? Er war ein Deutscher. War er vielleicht der gestrige Eindringling? Wer war der Andere, der neben ihm stand?
Mit raschen Schritten trat der Alte auf Müller zu und fragte drohend:
»Monsieur, was thun Sie hier?«
Der Gefragte hatte sich schnell gefaßt. Er antwortete im ruhigsten Tone:
»Etwas sehr Interessantes: ich durchstöbere diese alte Ruine. Hätte ich von ihrem Dasein etwas gewußt, so hätte ich mir auch eine Lampe mit gebracht, wie Sie, gnädiger Herr!«
Diese Antwort machte den Alten bestürzt.
»Sie haben nichts von ihr gewußt?«
»Nein.«
»Bis wann?«
»Bis vor wenig Minuten, wo wir sie erblickten.«
»Wir! Wer ist dieser Mann?«
»Ein Bekannter von mir.«
»Ah, Sie haben Bekannte hier?«
Der Alte zog die Schnurrbartspitzen empor und zeigte seine Zähne. Fritz sah sofort, daß es der gestrige Redner gewesen sei. Die letztere Frage war in einem so höhnisch inquirirenden Tone gesprochen, daß Müller auch ein schärferes Wort auf die Lippen kam:
»Verbieten Sie mir vielleicht, hier Bekanntschaften zu haben?«
Der Alte trat erstaunt einen Schritt zurück, setzte die Lampe zu Boden und sagte:
»Monsieur Müller, wie kommen Sie mir vor! Wer ist es, der hier Fragen zu stellen hat?«
»Ein Lebender jedenfalls nicht, sondern nur die Todten, denen dieses Kloster einst gehörte. Hier im Reiche des Verfalles, ist ein jeder dem Anderen gleich.«
Diese Antwort frappirte den Capitän. Er meinte etwas ruhiger:
»Sie sind hier fremd; ich durfte mich wohl wundern, daß sie von Bekanntschaft sprachen.«
»Wir lernten uns auf dem Schiffe kennen. Dieser Mann ist der Kräutersammler des Doctor Bertrand in Thionville.«
»Ah, der Mademoiselle Nanon gerettet hat?«
»Ganz derselbe.«
»Was thut er hier?«
Müller antwortete, da er den Verdacht des Alten ahnte:
»Ich litt gestern an Congestionen nach dem Kopfe, weßhalb ich mich sehr zeitig schlafen legte. Da aber die Zimmerluft das Uebel verschlimmert hat, so machte ich einen Spaziergang durch den Wald. Dort traf ich diesen Mann, welcher eine seltene Pflanze suchte, Sonnenthau, einen vorzüglichen Thee. Auch ich kenne das kleine, empfindsame Gewächs, welches zu den fleischfressenden Pflanzen gehört, und erbot mich, mit zu suchen. Wir kamen auf diese Weise tief in den Wald hinein und standen plötzlich vor dieser Ruine.«
»Von welcher Sie noch nichts gehört hatten?«
»Kein Wort!«
»Können Sie mir dies auf Ihre Ehre versichern?«
»Ich gebe mein Ehrenwort, bis vor kurzer Zeit vom Dasein dieser Ruinen nicht das Geringste gewußt zu haben!« versicherte Müller im Tone der Wahrheit. »Aber wozu diese Dringlichkeit? Wozu dieses Examen? Wozu diese Lampe und dieser Besen? Herrscht hier vielleicht ein Räuberhauptmann, ein Blaubart, ein menschenfressender Riese? Hat hier nicht ein jeder freien Zutritt, der sich für Alterthümer interessirt?«
»Schweigen Sie!« donnerte ihm da der Alte entgegen. »Wissen Sie, daß diese Ruine auf meinem Grund und Boden liegt?«
»Ich weiß es nicht, aber ich kann es mir denken.«
»Nun gut; ich bin der Grundherr, ich habe hier zu befehlen, und ich verbiete Ihnen, jemals dieses Kloster wieder zu betreten!«
»Mir, dem Erzieher ihres Enkels?« fragte Müller mit gut gespieltem Erstaunen.
»Ja.«
»Und Fremde dürfen Zutritt nehmen?«
»Wer sagt Ihnen, daß Leute hier gewesen sind?«
»Blicken Sie zu Boden! Sehen Sie, daß diese Spuren noch ganz frisch sind?«
»Daß geht Sie nichts an!« rief da der Alte. »Sie sollen hier nicht denken; Sie sollen hier nicht urtheilen! Ich bin der Herr. Packen Sie sich hinaus!«
Da zuckte der Deutsche gleichmüthig die Achsel und antwortete:
»Mir ist es sehr gleich, wer hier zu denken und zu urtheilen hat. Draußen aber wird man auch urtheilen, nämlich über die Art und Weise, mit welcher man von hier hinausgeworfen wird, über die Sonderbarkeit, daß ein Capitän der Kaisergarde hier mit dem Besen regiert, und über andere Dinge, welche fast vermuthen lassen, daß hier nicht Alles in Ordnung ist.«
Da sprang der Alte wüthend auf ihn zu, faßte ihn am Arme und rief:
»Monsieur, was wollen Sie mit Ihren Vorwürfen sagen, he?«
»Nichts weiter, als daß ich Ihrem Befehle, diesen Ort zu verlassen, zwar gehorche, dennoch aber streng darauf bestehen muß, fernerhin in anderer Weise angesprochen zu werden. Ein deutscher Doctor der Philosophie steht in gesellschaftlicher und intellectueller Beziehung keineswegs unter einem französischen Capitän der Kaisergarde!«
»Ah, das wagen Sie!« knirschte der Alte, indem sein Bart sich förmlich sträubte. »Ich werde Sie entlassen; ich werde Sie fortjagen!«
»Pah, das können Sie nicht. Sie sind der Herr Capitän Richemonte; mein Contract aber ist vom Herrn Baron de Sainte-Marie unterzeichnet und untersiegelt. Adieu, Herr Capitän!«
Er ging, und Fritz folgte ihm.
»Ah, gehen Sie!« rief ihm der Alte nach. »Ich werde nachher mit Ihnen sprechen!«
Als die Beiden draußen angelangt waren, gingen sie erst eine Weile schweigend neben einander her. Dann aber bemerkte Fritz:
»Jetzt haben Sie sich einen unversöhnlichen Feind geschaffen.«
»Jedenfalls!«
»Der Ihnen niemals verzeihen wird!«
»Das muß ich geduldig tragen. Die Grobheiten dieses Mannes waren ganz darnach, mich herauszufordern. Ich habe ihm geantwortet; wir sind also Beide quitt.«
»O, noch nicht! Er wird Sie fortjagen!«
»Ich werde nicht gehen!«
»Wirklich nicht? So wird er Sie schinden und beunruhigen!«
»Ich werde mir das verbitten!«
»Er wird Ihnen die Lösung Ihrer Aufgabe unmöglich machen!«
»Ich habe ihn nicht zu fürchten, obgleich er Alles zu regieren gedenkt. Denken wir nicht an ihn! Ich habe Dir etwas Wichtigeres zu sagen. Kannst Du unbemerkt Hacken und Schaufeln besorgen?«
»Warum nicht?«
»Für heute Abend?«
»Sehr leicht.«
»Nun wohl; wir werden ein Grab öffnen.«
»Donnerwetter! Ein Grab aufmachen? Das klingt ja ganz unmöglich!«
»Kennst Du den Zauberer Abu Hassan, der heute in Thionville Vorstellungen giebt?«
»Ja. Er wohnt im Gasthofe, dem Doctor Bertrand gegenüber. Es ist ein Frauenzimmer bei seiner Truppe, welches mir heute eine förmliche Liebeserklärung gemacht hat.«
»Glücklicher Mann, die Liebe einer Künstlerin zu erregen!«
»Hm, die Kunst ist in ihr bereits über dreißig Jahre alt geworden, Herr Doctor!«
»Desto größere Anerkennung verdient sie. Aber, bleiben wir bei der Sache! Abu Hassan ist jedenfalls ein Orientale; die erste Frau des Barons stammte auch aus dem Oriente. Beide müssen in irgend einer Beziehung zu einander gestanden haben, denn er ist gekommen, sich ihre Gebeine zu holen.«
»Das kommt mir noch mehr als orientalisch vor. Aber was haben Sie, und was habe ich mit diesem Hassan und diesen orientalischen Gebeinen zu thun?«
»Wir sollen sie ihm mit aus der Erde hacken.«
»Warum denn gerade wir?«
»Ja, die Veranlassung ist geradezu lächerlich. Ich stieg gestern Abend am Blitzableiter herab, während er aus irgend einem Grunde um das Schloß herumstrich. Er hielt mich für einen Einbrecher, einen Dieb. Und da ein solcher sich wohl zur widerrechtlichen Oeffnung eines Grabes dingen läßt, so bot er mir zweihundert Franken, wenn ich ihm behilflich sein und noch einen Arbeiter bringen wolle, das Heidengrab zu öffnen.«
»Und Sie haben das wirklich angenommen?«
»Ja. Ich glaube nämlich fast, daß die Baronin gar nicht gestorben ist, und also auch nicht begraben worden sein kann. Entweder ist das Grab leer, oder es enthält eine falsche Leiche. Ich muß mich überzeugen und werde also heute Abend dort eintreffen.«
»Ich bin dabei; aber das Geld nehmen wir nicht.«
»Das versteht sich ganz von selbst! Richte es also so ein, daß Du noch vor elf Uhr mit den Werkzeugen am Grabe anlangst. Hier nun wollen wir uns trennen. Für morgen habe ich einen Weg für Dich. Hier sind Briefe. Du gehst mit ihnen über die Grenze und giebst sie drüben auf der ersten deutschen Postanstalt ab. Ich traue hier nicht recht, daß sie mir geöffnet werden könnten.«
Er gab ihm die Scripturen, und dann trennten sie sich.
Als Müller das Schloß erreichte, war es bereits über zwölf Uhr geworden. Ein Diener sagte ihm, daß der Herr Capitän soeben befohlen habe, den Doctor Müller zu ihm zu schicken, sobald er von seinem Spaziergange zurückgekehrt sei.
Also der Capitän befand sich bereits daheim! Das war für den Deutschen ein ganz unanfechtbarer Beweis, daß zwischen dem Schlosse und der Klosterruine ein kerzengerader unterirdischer Weg vorhanden sei. Er fürchtete den Alten nicht im Mindesten und begab sich in größter Seelenruhe nach dem Zimmer desselben.
Er saß am Schreibtische und schrieb. Als Müller eintrat, erhob er sich rasch, warf die Feder auf den Tisch und sagte:
»Monsieur, ich habe Sie zu mir kommen lassen, um Ihnen das zwischen mir und Ihnen zu bestehende Verhältniß einmal klar zu machen.«
Er befand sich augenscheinlich in einem Zustand hochgradiger Erregung. Dieser Umstand aber beirrte den Deutschen ganz und gar nicht. Er antwortete:
»Das ist mir außerordentlich lieb. Auch ich liebe die Klarheit, und werde gegenwärtig gern das Meine beitragen, um zu ihr zu gelangen.«
Der Alte that, als ob er die Kampfbereitschaft, welche in diesen Worten lag, gar nicht bemerkte, oder er bemerkte sie wirklich nicht, sondern fuhr im rücksichtslosesten Tone fort:
»Sie haben sich vorhin in der Ruine eine Sprache erlaubt, die ich nicht dulden kann!«
Der Deutsche zuckte die Achsel und meinte:
»Da liegt die Schuld jedenfalls an meiner musikalischen Begabung.«
»Wie meinen Sie das?« fragte der Capitän stutzend.
»Nun, ich habe mich früher sehr mit Harmonielehre und Generalbaßstudien beschäftigt, und seit jener Zeit bin ich immer ein Freund des Harmonischen geblieben. Ich antworte in Dur, wenn man mich in Dur fragt, und rede in Moll, wenn man in Moll zu mir spricht. Der Herr Capitän beliebte, in der Ruine eine Redeweise anzuwenden, welche sehr strignendo klang; mein musikalisches Rechtsgefühl erlaubte mir nur, strignendo zu antworten.«
»Larifari! Was verstehe ich von Ihrem Dur, Moll und Strignendo! Ich habe Sie einfach zu fragen, ob Sie mich als Ihren Herrn anerkennen, dem Sie unbedingt und auf alle Fälle zu gehorchen haben. Antworten Sie strikte: Ja oder Nein?«
»Nein!«
»Ah, also wirklich Nein?«
»Wirklich Nein!«
»So jage ich Sie zum Teufel!« brauste der Alte auf.
»Ich gehe nicht!«
»Nicht? Das wollen wir sehen! Ich werde Sie zu zwingen wissen!«
»Sie können mir gar nicht zumuthen, wirklich zum Teufel zu gehen, wenn es Ihnen wunderlicher Weise einfällt, mich zu ihm zu schicken. Ich weiß bis heute noch nicht, wo sich die Wohnung dieses ehrenwerthen Monsieurs befindet. Ich werde auch überhaupt nicht gehen, wenn Sie mich fortschicken, denn Sie haben kein Recht dazu.«
»Sie widerstehen mir?«
»Allerdings. Ich bin vom Baron de Sainte-Marie engagirt, nicht von Ihnen!«
»Oho! Ich habe an seiner Stelle den Contract unterzeichnet und besiegelt, und ich werde an seiner Stelle auch die Ausweisung unterschreiben und petschiren.«
»Versuchen Sie es! Sie werden sehen, daß ich Sie nicht fürchte, Herr Capitän!«
So war ihm noch Keiner gekommen. Er fletschte die Zähne, trat auf den Deutschen zu, und rief mit ganz und gar nicht unterdrückter, sondern mit dröhnender Stimme:
»So werde ich Sie mit meinen Händen erfassen und hinauswerfen!«
Müller lächelte ihm mit größter Freundlichkeit entgegen und antwortete:
»Oder die Pistole nehmen und mich erschießen, wie den Fabrikdirector. Verstanden?«
Da fuhr der Alte zurück, als habe er ein Gespenst gesehen. Seine Augen öffneten sich weit, eben so sein Mund, aber nicht vor Schreck, sondern vor ungeheurem Zorn.
»Herr!« donnerte er. »Soll ich Sie zermalmen?«
»Das würde Ihnen schwer werden. Mir wird es nie einfallen, ein Blanquet auszustellen, welches Sie dann mit der Erklärung ausfüllen, daß ich mich selbst morde, weil ich Ihre Gelder unterschlagen habe, die Sie doch den Augenblick vorher in guten, echten, leider aber gezeichneten Banknoten einsteckten.«
Jetzt stutzte der Alte doch. Er war so betroffen, daß er kein Wort hervorbrachte.
»Ich hätte Ihnen,« fuhr Müller fort, »wirklich die Klugheit zugetraut, mit einem Manne meines Kalibers richtig sprechen zu können; aber ich sehe leider, daß ich mich täuschte. Sie beherrschen die ganze Besitzung, so daß alle Welt Sie flieht und fürchtet; aber dem armen, buckeligen Deutschen vermochten Sie doch nicht, Respect abzunöthigen. Ein Mann der Wissenschaft, zumal meiner Wissenschaft, fürchtet keinen Menschen.«
»Ihrer Wissenschaft? Welche Wissenschaft nennen Sie denn so speciell die Ihrige?«
»Die Magie.«
»Die Magie? Unsinn! Reden Sie zu alten Weibern von der Magie, aber nicht zu mir. Mit diesem Schwindel machen Sie mich nicht zum Fürchten, Monsieur Müller!«
Er hatte seine Fassung wieder gewonnen und blickte den Deutschen finster an. Dieser hielt den herausfordernden Blick gelassen aus und antwortete lächelnd:
»Sie irren. Haben Sie einmal etwas vom Erdspiegel gehört, in welchem Derjenige, der es versteht, Alles sehen kann, was er will, selbst die tiefsten Geheimnisse eines Menschen?«
»Unsinn, und abermals Unsinn!«
»Ich werde Ihnen das Gegentheil beweisen. Ich wollte sehen, was Sie thaten, und blickte in meinen Spiegel. Da sah ich Sie durch eine Stelle der Täfelung in das Gemach des Directors treten; ich sah ihn das Geld aufzählen; ich sah ihn das Blanquet ausstellen; ich sah Sie dann, am Schreibtische sitzend, das Blanquet ausfüllen; ich sah Sie dann in den Hintergrund des Zimmers treten, während er am Schreibtische las, was Sie geschrieben hatten; ich sah, wie er dann nach der Leitung sprang, wie in Ihrer Hand der Schuß aufblitzte, wie Sie das Blanquet so legten, daß es gesehen werden konnte, wie Sie in Ihre Wohnung gingen, um das Geld zu verbergen, und sich dann schnell umkleideten, um den Glauben zu erwecken, daß Sie soeben erst erwacht seien. Mein Erdspiegel zeigte mir die Leitung; darum fand ich sie sogleich.«
Während dieser Worte war eine schreckliche Veränderung mit dem Alten vorgegangen. Seine Augen waren vor Angst eingesunken, seine Wangen erbleicht. Sein Schnurrbart hing trostlos hernieder, und er selbst war auf einen nahen Stuhl gesunken. Dieser Deutsche schilderte den Hergang so genau, als ob er selbst dabei gewesen wäre. War die Geschichte vom Erdspiegel wirklich keine leere Sage?
»Ist's wahr?« stöhnte er. »Ist's wahr?«
»Vollständig wahr. Ich habe das Alles nicht blos gesehen, sondern auch gehört, Wort für Wort. Ich hörte die Versprechungen, welche Sie dem Director machten; die Erklärung, welche Sie seiner Liebe zur Baronin gaben; ich hörte, daß Sie ihn bereits am Vormittage mit ihr im Boudoir beobachtet hatten. Ich hörte von der Gratification, mit der Sie ihn kirrten; ich hörte Alles, Alles, bis der Schuß fiel, denn dann war ja nichts mehr zu hören.«
»O, mein Gott, mein Gott!«
»Und so sehe ich noch jetzt das geraubte Gut, welches Sie dort im geheimen Fache hinter dem dritten Kasten verborgen halten; ein leiser Druck genügt, um die Feder zu öffnen. Soll ich es Ihnen zeigen?«
Er trat näher.
»Nein, nein!« schrie der Alte entsetzt, indem er seine Arme abwehrend ausstreckte.
»Ich sehe sogar die Nummern der Noten,« fuhr Müller fort. »Sie sind 10468, 17391, 21869, und so weiter, und darauf befinden sich die Anfangsbuchstaben der Firmen, von denen sie der Director erhielt. Sagen Sie selbst, ob der Erdspiegel ein solcher Unsinn ist, wie Sie sich auszudrücken beliebten!«
Da richtete der Alte einen furchtsamen, angstvollen Blick auf ihn und fragte:
»Und das Alles ist Wahrheit?«
»Pah, zweifeln Sie immerhin daran, wenn Sie es vermögen! Aber sehen Sie es wenigstens ein, daß ein deutscher Doctor Ihnen ebenbürtig ist! Sie haben mir gedroht, mich hinauszuwerfen. Nun wohl, so werde ich Sie zwar nicht hinauswerfen, aber hinausführen lassen, nämlich von den Sergeanten der Polizei. Das Blut des Directors schreit zum Himmel; ich kann beweisen, wer sein Mörder ist, und die Baronin soll den heimlich Geliebten gerächt sehen!«
Da fuhr der Alte empor.
»Nein, nein, nur dieses nicht! Sie sind ein fürchterlicher Mensch! Was verlangen Sie denn eigentlich von mir?«
»Sehr wenig. Ich verlange Ihre Unterschrift, daß Sie der Mörder des Directors sind.«
»Unmöglich!« rief der Capitän.
»Sehr möglich und sogar nothwendig! Hören Sie mich an! Sie geben mir diese Unterschrift, welche Sie mit Ihrem Siegel sowohl, als auch mit Ihrem Stempel versehen. Ich bewahre dieselbe auf, bis ich von hier freiwillig abgehe. Scheiden wir im Guten, so erhalten Sie die Unterschrift zurück, und Niemand wird erfahren, was Sie thaten. Scheiden wir im Bösen, so kommt die Schrift in die Hände der Baronesse. Ich gebe Ihnen fünf Minuten Bedenkzeit. Sind diese verflossen, ohne daß Sie sich zu der Unterschrift bequemen, so lasse ich die Polizei kommen. Ich brauche meine Beweise gar nicht; es genügt einfach die Thatsache, daß man die Noten bei Ihnen findet, während Sie in den Acten deponiren, daß der Director sie unterschlagen habe. Also fünf Minuten, sie beginnen jetzt. Entscheiden Sie sich!«
Der Alte sah sich gefangen; es half ihm kein Leugnen. Nur eine Rettung gab es: diesen Deutschen niederzuschießen gerade wie den Fabrikdirector.
Die Hand des Capitäns näherte sich dem Kasten, in welchem er seine Waffen liegen hatte; da aber griff der Deutsche in seine Tasche, zog den Revolver hervor und drohte:
»Die Hand vom Kasten, oder ich schieße Sie nieder wie einen Hund, wie ein Raubthier, das Sie ja auch sind! Drei Minuten! Sie haben nur noch zwei. Ich scherze nicht, ich gebe Ihnen mein Ehrenwort, daß ich nicht eine Secunde länger warte!«
Da griff der Alte nach dem dritten Kasten, um die Banknoten heraus zu nehmen. Er wollte sie vernichten; dann gab es keinen Beweis mehr gegen ihn. Aber sofort stand Müller bei ihm und hielt ihm seine Hand.
»Halt! Mich überlisten Sie nicht! Sie haben noch eine halbe Minute, dann klingele ich die ganze Dienerschaft zusammen. In deren Gegenwart dürfen Sie dann die Noten herausnehmen, eher aber nicht.«
Er blickte nach der Uhr.
»Fünf Minuten um! Nun?«
»Sie sind ein Teufel!« ächzte der Alte.
»Pah, was nutzt das ewige Verhandeln! Ich warte nicht!«
Bei diesen Worten faßte er den Glockenzug und schellte. Da aber sprang der Alte auf und schrie in entsetzlicher Angst:
»Halt! Halt! Ich unterschreibe!«
»Was ich dictiren werde?« fragte Müller.
»Ja, Alles!«
In diesem Augenblicke trat der Diener ein. Der Capitän blickte voller Angst auf Müller, was dieser sagen werde. Der Deutsche wandte sich nach der Thür und sagte:
»Der Herr Capitän läßt Ihnen sagen, daß ich als Erzieher des Baron Alexander das Recht beanspruchen kann, an der Familientafel zu speisen. Es ist also von jetzt an für mich dort zu serviren!«
Der Domestike verbeugte sich und schritt heraus, vor Verwunderung ganz wirr im Kopfe. So etwas Unerhörtes war in diesem Hause noch niemals passirt.
»Auch das noch!« rief der Alte. »Ich wiederhole es, Sie sind ein Teufel!«
»Und Sie ein Satan!« lachte Müller. »Raisoniren Sie übrigens nicht, sondern schreiben Sie, sonst sehe ich mich veranlaßt, nochmals zu klingeln, und dann stehe ich für nichts.«
»Sie werden das Blatt keinem Menschen zeigen?«
»So lange wir Freunde sind, keinem Menschen.«
»Gut, so dictiren Sie!«
Er nahm einen Bogen Papier her und griff zur Feder. Müller dictirte folgende Zeilen:
»Ich gestehe hiermit ein, daß mein Fabrikdirector kein Selbstmörder ist, sondern von mir erschossen worden ist. Die Banknoten, welche er nach meiner Aussage mir unterschlagen haben soll, hat er mir fünf Minuten vor dem tödtlichen Schusse ausgezahlt.
Ortry, den 19. Mai 1870.
Albin Richemonte, Capitän.«
Der Wortlaut dieses Eingeständnisses gefiel dem Capitän nicht. Er widersprach, er bat, er drohte; es half ihm nicht; der Deutsche beharrte eisern auf seinem Vorsatze. Endlich hatte er das Papier unterschrieben und untersiegelt in der Hand; da trat er zur Klingel und zog daran.
»Um Gotteswillen, was wollen Sie noch?« fragte der Alte besorgt.
»Bleiben Sie ruhig,« antwortete Müller. »Ich beabsichtige nichts Ihnen Gefährliches.«
Und als der Diener eintrat, befahl er:
»Der Herr Capitän läßt die gnädige Baronesse und Mademoiselle Nanon zu sich bitten.«
»Aber was sollen denn diese?« fragte der Alte, als der Diener sich entfernt hatte.
»Sie sollen Ihre Unterschrift recognosciren,« antwortete Müller. »Bei Ihnen muß man vorsichtig sein. Sie könnten sonst Alles ableugnen und für gefälscht erklären.«
Der Capitän hätte den Deutschen erwürgen mögen, aber er mußte seine Wuth verbergen. Im Stillen aber gelobte er sich Rache.
»Ich werde ihn beobachten, wenn er nachher geht,« dachte er. »Ich werde sehen, wo er das Papier verbirgt. Ich werde es mir holen und die Banknoten an einem anderen Ort verstecken; dann habe ich ihn überlistet, und er ist machtlos.«
Er brachte bei diesem Entschlusse weder den Erdspiegel, oder, was ja ganz dasselbe war, die vorsichtige Klugheit Müller's in Rechnung.
Es dauerte gar nicht lange, so erschienen die beiden Damen, ganz begierig, zu wissen, was der so seltene Ruf zum Capitän bedeute. Sie waren erstaunt, Müller bei ihm zu sehen, und ihr Erstaunen wuchs, als dieser sie anredete:
»Mesdemoiselles, ich stehe im Begriffe, mir eine sehr große Gefälligkeit von Ihnen zu erbitten. Der Herr Capitän hat mir hier einen Revers ausgestellt, zu dessen Giltigkeit unbedingt erforderlich ist, daß zwei Personen bezeugen, daß Unterschrift, Siegel und Stempel wirklich von ihm stammen. Würden Sie die Gewogenheit haben, dies durch ein paar Worte und Ihre Unterschrift zu beurkunden?«
»Gern!« sagte Marion bereitwillig. »Großpapa, Du hast das geschrieben, untersiegelt und gestempelt?«
»Ja,« antwortete er, innerlich knirschend. »Aber Ihr Beiden dürft es nicht lesen!«
»Gut, so legen wir Etwas darauf!«
Sie bedeckte den Inhalt mit einem Papierblatte und schrieb dann zwei Zellen. Als sie fertig war, schob sie die Schrift der Freundin hin. Diese unterzeichnete und nun las Marion vor:
»Wir haben geschrieben: »Daß diese Unterschrift nebst Stempel und Siegel in Wirklichkeit von der Hand meines Großvaters, des Capitäns Albin Richemonte, stammen, bescheinigen wir mit unserer Unterschrift. Marion de Sainte-Marie. Nanon Charbonnier.« Ist es so richtig?«
»Ganz und gar,« antwortete Müller, indem er sich verbeugte. »Nehmen Sie unseren herzlichsten Dank!«
Sie sahen, daß sie entlassen seien, dennoch aber fragte Marion den Deutschen:
»Ich hörte von Alexander, daß Sie mit uns nach Thionville fahren?«
»Ja; er hat mich, so zu sagen, zu dieser Tour gepreßt,« antwortete er lächelnd.
»Uns ebenso, doch müssen wir dies schwere Leiden mit Geduld ertragen. Adieu!«
Als sie sich entfernt hatten, erhob sich der Alte und stand in der Ueberzeugung, daß er seinen Gegner doch noch betrügen werde, in stolzer Haltung da.
»Nun sind wir wohl fertig!« fragte er.
»Ja, obgleich ich eigentlich noch im Sinne hatte, dafür zu sorgen, daß die Banknoten nicht verschwinden, sondern als Beweis zurückbleiben. Allein sie sind nicht mehr nothwendig dazu. Ihre Unterschrift und diejenige der Damen genügen vollständig.«
»So können Sie gehen!«
Er wendete sich in imponiren sollender Haltung ab. Müller aber blieb stehen und beobachtete ihn mit stillem Lächeln. Da wendete er sich rasch wieder um und fragte:
»Nun, ich denke, wir sind fertig!«
»Allerdings, nämlich bis auf eine kurze Bemerkung. Ich bin überzeugt, daß Sie mich noch immer zu niedrig taxiren. Ihre persönliche Haltung, Ihr so schnell veränderter Ton, sind eine Unvorsichtigkeit, denn sie lassen mich vermuthen, daß Sie noch immer glauben, mich zu überlisten. Ich weiß, in welcher Weise dies einzig nur geschehen kann: Sie werden durch ein gewisses, matt geschliffenes Glas beobachten, wohin ich das Papier lege und es mir dann stehlen. Sie werden ferner den Noten einen anderen Aufbewahrungsort geben; dann stehe ich macht- und beweislos Ihnen gegenüber, und Sie können mich wie einen Hund vom Hause jagen. Oder Sie machen es noch kürzer: Sie schießen mir eine Kugel durch den Kopf; das ist gründlich gehandelt. Da muß ich Ihnen nun leider sagen, daß ich Ihnen Schach und Matt biete. Ich fahre nachher nach Thionville. Von da aus geht eine Estafette mit diesem Papiere nach meiner Heimath, wo dasselbe heilig aufbewahrt wird. Widerfährt mir bei Ihnen hier das geringste Leid, so wandert das Papier zum Staatsprocurator. Was dann folgt, das können Sie sich ausmalen, nachdem ich Sie jetzt verlassen habe. Adieu, Herr Capitän!«
Er ging, aber hinter sich vernahm er noch die vor Wuth förmlich herausgekeuchten Worte:
»Hole Dich der Teufel! Dieses Geschöpf des Satanas ist wahrhaftig allwissend!« –
Kurze Zeit später fuhren die beiden Wagen vom Schlosse ab nach Thionville, und Müller wurde wirklich von der Baronin eingeladen, in dem ihrigen Platz zu nehmen. –
Gegenüber von dem Hause, in welchem Doctor Bertrand sein Domicil aufgeschlagen hatte, befand sich ein Gasthof, welcher besonders von den Angehörigen des Mittelstandes besucht zu werden pflegte. Dort hatte der Zauberer Abu Hassan mit seiner Künstlertruppe Wohnung genommen.
Keiner von seinen Leuten wußte, woher der Chef eigentlich stammte, und Keiner kannte die Quellen, aus denen er schöpfte. Mochte die Einnahme eine noch so karge sein, Hassan hatte immer Geld, seine Mitglieder zu befriedigen.
Niemand ahnte, daß er dieses Leben nur gewählt hatte, weil es ihn überall im Lande herumführte und ihm reichliche Gelegenheit gab, Nachforschungen anzustellen, ohne dabei auffällig zu werden. Es galt der Entdeckung eines Geheimnisses, der Rache eines Verbrechens. Er hatte Jahre lang vergebens gesucht, hatte bereits die Hoffnung aufgeben wollen, und nun, nun stand er plötzlich vor dem Anfange des Endes.
Im kleinen Stübchen, welches an die große Gaststube stieß, saß Fritz Schneeberg bei einem Glase Wein. Neben ihm saß eine der Künstlerinnen. Sie hatte auf alle Fälle bereits dreißig Jahre zurückgelegt; ihr Gesicht predigte laut von übermäßig befriedigten Leidenschaften, doch hatten Puder und Schminke das Ihrige gethan, ihr ein möglichst anziehendes Aussehen zu geben. Sie war bereits für die Vorstellung in ein leichtes, durchsichtiges Flittergewand gekleidet. Das blaue, goldbeflimmerte Mieder ließ Hals, Nacken, Busen und Arme frei, und das Röckchen, kaum noch weiß von Farbe, bedeckte kaum die Oberschenkel und gab dem Blicke die starken, mit durchscheinenden Tricots bekleideten Beine zur ungeschmälerten Besichtigung. Trotz ihrer vollen, schweren Gestalt war sie die Seilkünstlerin der Truppe, und selbst der sonst so lobeskarge Director hatte ihren Leistungen stets nur seine Anerkennung zuertheilt.
Jetzt also saß sie neben dem Deutschen, verschlang dessen volle, kräftige Gestalt mit gierigen Augen und versuchte, den nackten Arm um seinen Arm zu legen, was ihr aber nicht gelang, da er sich bei allen diesen Bewegungen abweisend zurückbog.
»So komm doch her! Nur einen einzigen Kuß, Goldjunge!« bat sie ihn.
»Laß mich, Mädchen!« antwortete er. »Ein Schluck Wein ist mir lieber als tausend Küsse von Dir!«
»Oho!« zürnte sie. »Sehe ich denn etwa gar so widerwärtig aus?«
»Hm! Ich denke mir, den Wein hat noch Niemand getrunken, Du aber bist zehntausendmal geküßt worden. Das langt noch gar nicht zu. Und von wem?«
»Von wem, das geht Dich nichts an! Jetzt sehe ich Dich, jetzt will ich Dich. Höre, ich bin den Männern stets gut gewesen; sie haben mich finden können, wo sie nur wollten, aber jetzt, jetzt habe ich Dich so lieb, daß ich der ganzen Männerwelt entsagen könnte um Deinetwillen.«
»Entsage ihr ja nicht, denn mich kriegst Du nicht!« lachte er.
»Nicht? Warum? Hast Du etwa bereits eine Geliebte?«
»Leider nein!«
»Nun, warum sperrst Du Dich! Ich will Dich haben, und ich muß Dich haben! Ich bin so völlig vernarrt in Dich, daß ich mich gar nicht mehr kenne. Und außerdem siehst Du Jemandem aus meinen ersten Jugendjahren so täuschend ähnlich, daß es mir ist, als müsse ich an Dir gut machen, was ich als Kind an ihm verbrochen habe.«
»Verbrochen? Wer war das?«
»Das geht Dich nichts an. Und dennoch erzähle ich es Dir, wenn Du mir einen Kuß giebst!«
»Ich mag es nicht erfahren!«
Bei solchen stark sinnlichen Naturen macht man sehr häufig die Erfahrung, daß sie sich gerade von Denen am Meisten angezogen fühlen, die von ihnen abgestoßen werden. So war es auch hier. Sie griff mit den Armen abermals nach ihm, er aber schob sie zurück. Das erweckte endlich doch ihren Zorn.
»Höre, Bursche, was bildest Du Dir ein!« rief sie. »Was bist Du denn? Ein Kräutermann, weiter nichts; und ich bin eine viel gesuchte Künstlerin, an deren jeden Finger sich gern zehn Männer hängen.«
»Oho, schneide nicht auf!«
»Aufschneiden? Ah, warum will mich denn der Bajazzo heirathen, he? Warum macht er mir das Leben so schwer? Warum läßt er mir weder bei Tag noch bei Nacht Ruhe? Warum schwört er mir Rache, wenn ich seine Bewerbung zurückweise?«
»Nun, jedenfalls weil er sich auch an einem Deiner Finger aufhängen will!«
»Nein, nicht deshalb, sondern weil er weiß, daß er ein riesiges Geld mit mir verdienen kann. Die Männer und Burschen sind ja Alle ganz vernarrt in mich!«
»So hat dieser Bajazzo weder Liebe zu Dir noch irgend ein Ehrgefühl!«
»Das fällt ihm auch Beides gar nicht ein. Er ist ja eigentlich mein Stiefvater.«
»Alle Teufel! Wie alt ist er denn?«
»Weit in die Fünfzig. Meine Mutter, seine zweite Frau, ist früh gestorben, und von dieser Zeit an hat er mich in der Welt herumgeschleppt. Als ich Kind war, hat er meine kleine Gage stets in seine Tasche gesteckt; als ich größer und klüger wurde, hielt ich meine eigene Kasse. Das will er ändern. Ich soll seine Frau werden, damit er es wieder machen kann wie früher. Aber er bringt es nicht so weit, der Lüdrian, der Trunkenbold. Er säuft von Früh bis Abend, so daß es ein wahres Wunder ist, daß er den Hals noch nicht gebrochen hat. Lieb wäre mir das. Doch lassen wir ihn! Komm' her, Schatz, Du bist mir lieber als alle, alle Anderen!«
Sie wollte ihn fassen; er schob sie zurück. Das verdoppelte ihre Begierde. Sie stand auf, um mehr Kraft anwenden zu können.
»Du willst nicht?« fragte sie. »Wirklich nicht? Nun, so will ich Dir zeigen, daß ich mir nehme, was ich nicht freiwillig bekomme.«
Sie warf sich auf ihn mit der ganzen Kraft ihres schweren Körpers. Sie umfaßte ihn mit aller Anstrengung ihrer geübten Muskeln. Er wehrte sich. Sie achtete nicht darauf, daß ihr beim Ringen das Mieder zerriß, und daß das leichte Röckchen an der Ecke des Tisches vollständig Schiffbruch nahm, so daß sie nun fast ganz entkleidet auf ihm lag.
Aber Fritz war ein kräftiger Patron. Er faßte sie bei den Ellenbogen, daß ihr die Gelenke knackten; er schob sie von sich ab. Sie hatte sich an seiner Brust festgegriffen und wollte nicht loslassen.
»Packe Dich, Dirne!« rief er endlich zornig. »Das ist kein Spaß mehr!«
Er gab ihr einen kräftigen Stoß, so daß sie rückwärts flog, aber in ihrer Faust blieb der vordere Theil seiner Blouse und des Hemdes hängen.
»Siehst Du, was Du anrichtest!« meinte er mit verdoppeltem Zorne. »Nun sehe ich aus wie ein Vagabund und kann nur gleich nach einer neuen Blouse laufen.«
Sie aber hörte seine Worte gar nicht; sie stand fast steif vor ihm und starrte nach seinem Hals. Er bemerkte das und fragte:
»Was hast Du, daß Du mich so anstarrst?«
»Dieser Zahn, o, dieser Zahn! Zeig her, zeig her!«
Sie griff nach der Kette, zog den Zahn näher und betrachtete ihn mit funkelnden Augen.
»Was ist's mit dem Zahn?« fragte er.
»Er ist's, er ist's. Es ist der eine! Mensch, Du siehst ihm so ähnlich, dem die beiden Zwillingsknaben geraubt wurden, diese Aehnlichkeit ist mir sogleich aufgefallen; ich war ein achtjähriges Mädchen, und er war nicht viel älter als Du jetzt. Sage, woher hast Du diesen Zahn?«
Die Worte des Mädchens hatten ihn aufmerksam gemacht.
»Doch von meinen Eltern,« antwortete er.
»Wer waren sie?«
»Das weiß ich nicht; ich bin ein Findelkind.«
»Ein Findelkind!« schrie sie förmlich auf. »Wo hat man Dich gefunden?«
»In der Nähe eines Dorfes bei Neidenburg in Ostpreußen,« antwortete er, und richtete voller Erwartung seine Augen auf das erregte, vor ihm stehende Mädchen.
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