Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Als Müller den Abstand zwischen dem Fenster und der Außenecke des Thurmes mit demjenigen der innern Ecke seiner Stube verglich, sagte ihm bereits das bloße Augenmaß, daß die Mauer des Thurmes wenigstens zwei Ellen dick sein müsse. Und als er behutsam an diese Mauer klopfte, hörte er aus dem Tone, daß sie vielleicht nur einen Fuß stark sei.
Es war also klar, daß es hier eine Doppelmauer gab. Wozu? Welchem Zwecke diente der dazwischen liegende Raum? Doch wohl nur dem Lauschen und Beobachten!
Wo aber war das Loch, durch welches man in das Zimmer sehen konnte? Er musterte die ganze Wandfläche; er blickte sogar hinter den Spiegel; er bemerkte nichts. Die betreffende Oeffnung konnte sich nur in der Nähe des Ofenrohres oder in der gemalten Kante der Mauer befinden, das war klar.
Er setzte sich einen Stuhl hin, stieg hinauf und klopfte, doch nicht auffällig. Richtig, an dieser Stelle gab die Kante einen ganz anderen Ton. Sie fühlte sich auch glatter an; sie bestand aus Glas. Er hegte jetzt die feste Ueberzeugung, daß er beobachtet worden sei. Aber von wem? Gab es im Schlosse noch mehrere Doppelwände?
Er erkannte es als ein großes Glück, daß er diese wichtige Entdeckung bereits heute, bereits in der ersten Stunde gemacht habe. Wie nun, wenn er sich in Gegenwart des Lauschers entkleidet, und seinen künstlichen Buckel abgelegt hätte? Sein Geheimniß wäre ja sofort verrathen gewesen! Er hatte eine doppelte Veranlassung, vorsichtig zu sein. Auf der anderen Seite aber war es auch möglich, daß er aus seiner gegenwärtigen Erfahrung Nutzen ziehen könne.
Zunächst mußte er zu erfahren suchen, wer der Lauscher sei, denn nur im Zimmer desselben konnte der Eingang zu den Doppelwänden sein. Oder gab es auch noch andere Eingänge? Seine Gedanken wurden unterbrochen, denn es erschien ein Diener, welcher ihm meldete, daß er von dem Herrn Capitän und dem gnädigen jungen Herrn unten im Hofe erwartet werde.
Er gehorchte dem Rufe und fand die beiden Genannten seiner harrend. Der Haushofmeister stand mit einigen Dienern dabei, welche Waffen hielten. Alexander schien sich von seinem Schrecke bereits wieder erholt zu haben. Er sah zwar noch blaß, aber ganz und gar nicht krank aus. Er kam dem Erzieher entgegen und sagte:
»Monsieur Müller, ich wollte schlafen, aber es geht nicht. Großpapa sagte, daß Sie die Probe machen sollten, und da muß ich dabei sein.«
Der Capitän deutete nach einer Ecke des Schloßhofes und meinte:
»Sie sehen dort die Turnapparate. Gehen Sie hin, und zeigen Sie uns, was Sie leisten.«
»Sehr wohl, gnädiger Herr!«
Bei diesen einfachen Worten schritt Müller nach der Ecke, stellte sich vor den Bock und sprang, ohne Ansatz zu nehmen, oder die Hand als Stütze zu gebrauchen, über die ganze Länge desselben hinweg. Dann trat er zum Reck, legte die Hand an und machte, ohne sich eines Kleidungsstückes zu entledigen, den Riesenschwung mit nur einem Arme.
»Genügt dies, Herr Capitän?« fragte er.
»Großpapa, das hat noch Keiner gebracht!« sagte Alexander.
»Sehr wahr!« nickte der Alte. »Monsieur Müller, satteln Sie sich den Braunen, den man jetzt vorführt. Sie sollen die Schule reiten.«
Ein Stallknecht brachte das Pferd; ein Anderer trug Sattel und Zaum herbei.
»Ist nicht nöthig!« meinte Müller.
»Monsieur, der Braune ist schlimm!« warnte der Alte. »Er trägt nur mich; jeden Anderen wirft er ab.«
Das Pferd schien längere Zeit nicht aus dem Stalle gekommen zu sein. Es tanzte mit hoch spielenden Beinen und zerrte an dem Halfter, so daß der Knecht es kaum zu halten vermochte. Müller trat, ohne die Warnung des Alten zu beachten, hinzu und musterte das Pferd mit Kennermiene. Er nickte mit anerkennendem Lächeln und sagte:
»Sohn eines arabischen Halbblutes und einer englischen Mutter. Nicht, Herr Capitän?«
»Allerdings,« antwortete der Gefragte. »Aber, sagen Sie, Monsieur Müller, woher haben Sie dieses Kennerauge, welches – – Morbleu! Geht weg!«
Er sprang mit diesen letzten Worten zur Seite, denn Müller saß, man wußte gar nicht, wie er hinauf gekommen war, ganz plötzlich auf dem Pferde, hatte das Halfter ergriffen, und jagte nun mit dem Braunen im Hofe herum. Das Thier gab sich alle Mühe, den Reiter abzuwerfen, aber dieser saß so fest, als sei er angewachsen. Kannte er vielleicht ein geheimes Mittel? Fast schien es so, denn bereits nach kaum einer Minute hatte er das Pferd beruhigt und ritt nun die Schule durch, mit einer Sicherheit und Eleganz, als ob er sich vor tausend Zuschauern in der Arena sehen lasse. Dann, als er in Galopp war, legte er sich plötzlich vornüber, sprengte über den Hof hinüber und sprang mit einem kühnen, unvergleichlichen Satze über die drei Ellen hohe Hofmauer hinweg.
»Mille tonnerres!« schrie der Capitän. »Er muß den Hals brechen. Der Braune ist auf alle Fälle hin!«
Alles rannte nach dem Thore. Sie hatten es aber noch nicht erreicht, so stoben sie erschrocken zur Seite; denn von draußen rief die laute Stimme Müllers:
»Hollah, gebt Platz drin!«
Und in demselben Augenblicke kam er wieder über die Mauer hereingesprungen. Er ritt noch einige Male im Kreise umher, um das Pferd zu beruhigen, und sprang dann ab.
»Alle Teufel, wo haben Sie das Reiten gelernt?« fragte der Alte.
»Mein Lehrer war ein Ulan,« antwortete der Gefragte.
»Reiten alle Ulanen so, Monsieur?«
»Noch besser!«
»Ja, sie sind ein wildes Volk, diese Hulanes. Sie wohnen in der Wüste, heirathen zehn bis zwanzig Frauen und reiten die Pferde zu Tode. Aber jetzt sollen Sie schießen!«
Müller sagte nichts, doch hatte er Mühe, ein Lächeln über die Worte des Alten zu verbergen. Er kannte ja zur Genüge die Thatsache, daß die Franzosen höchst zweifelhafte Geographen sind, und daß sie die Ulanen für eine wilde Völkerschaft halten, welche an der östlichen Grenze von Preußen lebt, und beinahe zu den Menschenfressern gerechnet werden muß. Ehe man sie im Jahre 1870 in Frankreich kennen lernte, dichtete man ihnen die ungereimtesten Dinge an. Es war klar, daß man sie mit den Baschkiren und andern asiatischen Völkerschaften verwechselte.
Der Capitän nahm aus der Hand des Hausmeisters einen Hinterlader und sagte, empor zur Wetterfahne deutend:
»Alexander hat gestern jenen kleinen Ballon steigen lassen, welcher mit der Schnur hängen geblieben ist. Ich werde ihn treffen.«
Er legte an und drückte ab. Der Ballon war getroffen.
»Sehen Sie! Machen Sie es nach!«
Er reichte dem Lehrer das Gewehr und eine Patrone. Dieser betrachtete jenes aufmerksam und sagte:
»Ah, ein Mauser! Ich kenne das Gewehr nicht, aber ich hoffe, wenn nicht mit dem ersten so doch mit dem zweiten Schusse die Schnur zu treffen.«
Die Männer blickten einander mit ungläubigem Lächeln an. Er aber lud und zielte. Der Schuß blitzte auf, und der Ballon schwebte auf das Dach nieder. Die Schnur war zerrissen worden.
»Wahrhaftig, Sie schießen eben so gut, wie Sie reiten und turnen!« rief der Alte. »Jetzt nun eine Fechtprobe. Ich bin überzeugt, daß ein Deutscher es mit keinem Franzosen aufnimmt. Hier, der Hausmeister weiß einen Degen zu führen. Er war Premier sergent Wachtmeister bei den Chasseurs d'Afrique. Ich stelle nämlich nur gediente Militärs bei mir an, was leider in Hinsicht auf Sie nicht der Fall ist. Wollen Sie es wagen, einen Gang mit ihm zu versuchen?«
»Wenn Sie befehlen, so gehorche ich, Herr Capitän,« antwortete Müller.
»So legen Sie los!«
Bei diesen Worten spielte ein beinahe unheimliches Zucken um den Mund des Alten. Sein weißer Schnurrbart zog sich empor, und es zeigte sich jenes gefährliche Fletschen der Zähne, welches stets unheilverkündend war. Er wußte, daß der Hausmeister ein sehr guter Fechter sei, und bei seinem rücksichtslosen Charakter wäre es ihm nur ein Amüsement gewesen, dem Deutschen eine Quantität Blutes abzapfen zu sehen.
Der Hausmeister hatte zwei gerade, schwere Chasseursdegen in den Händen. Er reichte dem Lehrer einen hin und sagte lächelnd:
»Monsieur Müller, bestimmen Sie gefälligst, wo ich Sie treffen soll!«
Müller prüfte den Degen und antwortete:
»Diese Degen sind ja scharf und spitz. Wir befinden uns nicht im Felde. Wollen wir nicht stumpfe Waffen wählen, und uns mit Haube und Bandagen versehen?«
»Ah, Sie fürchten sich?« höhnte der Franzose.
»Allerdings habe ich Furcht,« antwortete ruhig der Deutsche.
»Und das gestehen Sie?« fragte der Intendant mit verächtlichem Lächeln.
»Wie Sie hören! Aber Sie scheinen mich falsch zu verstehen. Ich habe nämlich Furcht, Sie zu verletzen; für mich freilich hege ich nicht die Spur von Bangigkeit. Sie haben mir erklärt, daß Sie mein Vorgesetzter sind. Darf ich einen Vorgesetzten verwunden?«
»Warum nicht, wenn Sie es fertig bringen! Also sagen Sie mir getrost die Stelle, an welcher ich Sie treffen soll!«
»Das werde ich unterlassen, denn damit würde ich für mich natürlich das Recht beanspruchen, Sie an der gleichen Stelle zu treffen.«
»Dieses Recht ertheile ich Ihnen. Also wo, Monsieur Müller?«
Der Gefragte zuckte die Achseln und sagte.
»Wenn denn einmal der Ort, an welchem man treffen soll, genannt werden muß, so treffen Sie diese Bestimmung lieber selbst. Ich bin hier fremd und muß vermeiden, mir Vorwürfe machen zu lassen.«
»Gut,« meinte der Intendant mit einem boshaften Blicke.
»Diese Degen sind zwar besser für den Stoß, aber wollen wir sie uns nicht lieber einmal über die Gesichter ziehen?«
»Ganz wie Sie wollen, Monsieur,« meinte Müller. »Ich mache Sie jedoch darauf aufmerksam, daß man dabei sehr leicht die Nase oder das Auge verlieren kann, wobei es außerdem noch jammerschade um Ihre seidene Weste sein würde.«
»Ah, Sie spotten! Sie meinen, daß ich es sein werde, der die Nase verliert! Ich werde Ihnen das Gegentheil beweisen. Herr Capitän, billigen Sie unsere Vereinbarung?«
Ueber das Gesicht des Alten zuckte ein wilder, kampfbegieriger Zug. Er nickte und sagte:
»Ich gestatte sie unter der Bedingung, daß keinerlei Folgen auf mich fallen. Sie stehen Beide in meinen Diensten. Wer von dem Anderen dienstunfähig gemacht wird, hat keinen Sous Entschädigung von mir zu verlangen.«
»Gut! Beginnen wir also!«
Droben stand die Baronin am offenen Fenster. Sie hatte die Proben, welche Müller ablegen mußte, mit angesehen; sie hatte auch jedes Wort, welches gesprochen worden war, deutlich gehört. Eine Andere hätte Widerspruch erhoben; sie aber freute sich auf den Kampf und legte sich weiter zum Fenster heraus, um besser zusehen zu können. Sie war ein Weib ohne Herz und Gemüth.
Der Intendant legte sich aus – die Klingen blitzten – da stieß er einen lauten Schrei aus und fuhr zurück. Der Degen entsank ihm, und seine beiden Hände fuhren nach dem Gesicht, aus welchem ein breiter Blutstrahl niederfloß.
»Alle Teufel, welch ein Hieb!« rief der Capitän.
»Er hat es gewollt,« sagte Müller gleichmüthig, »obgleich es mir leid thut, meinem Vorgesetzten zeigen zu müssen, daß er noch Verschiedenes zu lernen hat, ehe er davon reden kann, daß ich mich vor ihm fürchte.«
Der Intendant war quer über das Gesicht herüber getroffen. Der fürchterliche Hieb war ihm über den unteren Theil der Stirn und durch das Auge gegangen und hatte ihm dann den Nasenknochen tief gespalten. Das Auge war verloren. Der Verwundete brüllte vor Schmerz und Wuth.
Schafft ihn fort, und holt den Arzt!« gebot der Alte. »Wer hätte gedacht, daß er seinen Meister finden werde. Monsieur Müller, Sie sind ein ganzer Fechter. Man hat sich trotz Ihrer – hm, Unbefangenheit vor Ihnen in Acht zu nehmen. Sie haben Ihre Probe excellent bestanden; ich vertraue Ihnen meinen Enkel an.«
»Ich danke Ihnen, gnädiger Herr,« antwortete Müller. »Die Probe war etwas ungewöhnlich, aber da mir mein Gesicht jedenfalls lieber ist, als dasjenige des Herrn Intendanten, so mußte ich mich wehren.«
Er kehrte nach seinem Zimmer zurück, während der Intendant von einigen Dienern nach dem seinigen geschafft wurde.
Alexander hatte Alles mit angesehen und sagte jetzt zu dem Alten:
»Großpapa, dieser Monsieur Müller ist doch ein ganz anderer Mensch als meine früheren Lehrer. Er fürchtet sich nicht, selbst vor mir und Dir nicht, wie es scheint. Das gefällt mir. Ich werde ihn nicht wieder fort lassen.«
Und droben stand die Baronin. Sie hatte die Fenster geschlossen, stand vor dem Spiegel, um ihr schönes Bild zu betrachten, und murmelte:
»Welch ein Mann! Er that das Alles wie spielend. Selbst der Sprung war so leicht und graciös, so daß er von seiner Manneswürde nichts verlor. Ein solcher Sprung ist gefährlich, denn der Springer kann sich sehr leicht lächerlich machen, was schlimmer als eine Verletzung ist. Dieser Deutsche ist gebaut wie ein Adonis. Hätte er doch diesen fatalen Auswuchs nicht! Er wäre mir wahrhaftig lieber noch als der Director, welcher zu wenig Geist und Feuer besitzt.«
In seinem Zimmer angekommen, musterte Müller zunächst seinen Kopf. Glücklicher Weise saß seine Perrücke fest. Hätte er sie verloren, so wäre es sicher bemerkt worden, daß unter der falschen, schwarzen Bedeckung sich ein ächtes, blondes Haar verbarg. Es war überhaupt beinahe ein Wunder zu nennen, daß diese Perrücke nicht bereits während der gefährlichen Schwimmparthie in der Mosel verloren gegangen war. So hängt oft an Kleinigkeiten das Gelingen eines großen Planes.
Später kam ein Diener, um ihm zu sagen, daß der junge Herr mit ihm auszugehen wünsche. Das war dem Erzieher lieb. Er hatte so am Besten Gelegenheit, den Umfang von Alexander's Kenntnissen und Fertigkeiten zu prüfen, und so die nothwendige Unterlage zu einem Lehrplan zu erhalten.
Als er, die Treppe hinabsteigend, den Hauptcorridor erreichte, öffnete sich eine Thür und er erblickte einen Mann, welcher mit gesenkten Augen ihm langsam entgegen geschritten kam. Es war der Baron, der sich vielleicht zu seiner Frau begeben wollte. Müller kannte ihn noch nicht, ahnte aber, als er den geistesabwesenden Ausdruck des bleichen Gesichtes bemerkte, sogleich, wer es sei. Er blieb stehen, um ihn vorüber zu lassen.
Sobald der Baron völlig herangekommen war, bemerkte er, daß Jemand da stehe. Er erhob das Auge langsam und richtete den starren Blick auf Müller. Da ging eine wunderbare, aber gewaltige Veränderung in diesem todten Gesichte vor: die Augen wurden langsam größer und erhielten den Glanz des Bewußtseins; die Brauen zogen sich empor, und der Mund öffnete sich in jener Weise, wie man es bei einem heftigen Erschrecken bemerkt. Er stand einige Augenblicke mit geöffnetem Munde und abwehrend ausgestreckten Armen da; dann drehte er sich plötzlich um und rannte nach der Thür zurück, aus welcher er gekommen war. Dabei stieß er mit kreischender Stimme, der man eine entsetzliche Angst anhörte, die Worte aus:
»Er ist's! Er ist's! Er sucht wieder die Kriegskasse. Flieht um Gotteswillen! Er sucht die Kriegskasse!«
Damit verschwand er hinter der erwähnten Thür. Auch Müller stand bewegungslos da. Die Worte des Irren hatten einen ungeheuren Eindruck auf ihn gemacht. Er stand noch ohne Regung da, als sich bereits mehrere Thüren öffneten. Die Baronin erschien und ebenso der alte Capitän, welcher heftig an ihn herantrat und ihn mit funkelnden Augen fragte:
»Was ist's? Was giebt's! Wer rief hier so laut?«
Es bedurfte der ganzen, ungewöhnlichen Selbstbeherrschung, welche Müller besaß, um sich zusammen zu nehmen. Sein Gesicht nahm augenblicklich einen ganz verwunderten Ausdruck an; er sah aus, wie Einer, der Etwas nicht begreifen kann. Er schüttelte den Kopf und antwortete:
»Ich kam soeben die Treppe herab, da rief ein Herr, den ich nicht kenne, da vorn im Corridore von Krieg und vom Fliehen. Welch ein eigenthümlicher Scherz!«
»Welche Worte hat er gebraucht?« forschte der Alte dringend. »Sagen Sie es genau, ganz und gar genau!«
»Die Worte Krieg und Fliehen.«
»Keine anderen?«
»Nein, wenigstens habe ich keine Anderen vernehmen können.«
Er hütete sich wohl, die Wahrheit zu gestehen. Er stand da ganz unerwartet vor der Lösung des Problems, welches auf das Tiefste in sein Leben, ja in das Glück seiner Familie und Anverwandten eingriff. Es lüftete sich hier auf einmal der Schleier eines Geheimnisses, für dessen Lösung er sehr oft so gern sein Leben hingegeben hätte. Wie viele, viele hundert Mal hatte er, hatte seine liebe, herzige Mutter, hatte sein alter, greiser Großvater und seine holde, schöne Schwester auf den Knieen gelegen, um Gott inbrünstig zu bitten, einen Lichtblick in das Dunkel fallen zu lassen! Vergebens! Und nun nach langen Jahren, nach dem Aufgeben aller Hoffnung, kam so unerwartet der erbetene Strahl, zwar nicht scharf und blendend wie ein Blitz, auch nicht hell und überzeugend wie das Licht des vollen Tages, aber doch vorbereitend und Ahnung erweckend wie das furchtsame, leise versuchende Grauen eines Morgens nach dunkler Wettersnacht. Da galt es, vorsichtig zu sein!
»Es ist mein Sohn, der Baron de Sainte-Marie,« meinte der Veteran jetzt kalt. »Sie müssen wissen, daß er an eigenthümlichen Anfällen leidet; ich weiß nicht, ob ich sie hysterisch oder anders nennen soll. Dann träumt er laut. Man darf ihn nicht beachten. Ich habe strengen Befehl, daß zu solchen Zeiten ein jeder sich sofort zurückzuziehen hat, da die Gegenwart Fremder den Grad der Anfälle auf das Gefährlichste steigert. Auch Sie haben diesen Befehl zu respectiren. Gäben Sie den Worten, welche der Kranke redet, nur die kleinste Beachtung, so würde ich Sie auf der Stelle entlassen, wenn nicht gar noch etwas Anderes geschähe!«
Seine Augen glühten in einem bösen Feuer, und seine Zähne zeigten sich. Er hatte in diesem Augenblicke ganz das Aussehen eines Mannes, dem das Wohl oder Wehe, das Leben der ganzen Menschheit nur eine Bagatelle gilt.
»Was wollten Sie übrigens hier auf dem Corridore?« fragte er.
»Ich stand im Begriff, mich nach dem Hofe zu begeben,« antwortete Müller demüthig.
»Was dort?«
»Der junge Herr erwartet mich dort. Er hat mich zu einem Spaziergange befohlen.«
»So gehen Sie! Aber merken Sie sich, daß kein Mensch, kein Fremder Etwas über die Anfälle meines Sohnes erfahren darf!«
Er drehte sich mit jugendlicher Raschheit auf dem Absatze um und schritt nach der Thüre zu, hinter welcher der Baron verschwunden war. Müller ging in den Schloßhof, wo Alexander ihn bereits erwartete.
Die Baronin hatte diese kurze, eigenthümliche Unterredung mit angehört. Sie folgte mit langsamen Schritten dem Alten. Als sie das Zimmer betrat, in welchem der Baron sich gewöhnlich aufhielt, fand sie dasselbe leer; aber aus dem angrenzenden Cabinet drang eine jammernde Stimme, zwischen deren abgerissenen, angstvollen Rufen man die harte, drohende Stimme des Capitäns erkannte. Sie trat dort ein.
Es war das Schlafzimmer des Barons. Dieser lag auf seinem Bette, hatte den Kopf unter die Kissen versteckt und wimmerte:
»Er ist da! Er ist da! Ich habe ihn gesehen und erkannt!«
»Schweig!« gebot der Alte. »Er war es nicht!«
»Er war es!« behauptete der Irre. »Er sucht die Kriegskasse!«
»Ich befehle Dir, zu schweigen!«
»Nein, nein, ich will nicht schweigen; ich kann nicht schweigen!« rief sein Sohn, indem er das Gesicht noch tiefer in die Kissen vergrub. »Ich mag die Kasse nicht; ich habe bereits eine geraubt. Ich habe die Kasse von Magenta gestohlen; wozu brauche ich die von Waterloo!«
»Schweig, sage ich, sonst muß ich Dich strafen!«
»Schlag zu, Alter! Schlag zu, Bösewicht!« rief der Baron. »Ich gehorche Dir doch nicht! Behalte Deine Kasse! Ich mag sie nicht! Das Gold trieft von Blut!«
Da zog ihm der Capitän die Kissen weg, erhob die geballte Faust und drohte:
»Mensch, noch ein Wort, und ich zeige Dir, wer Dein Meister ist!«
»Du nicht; Du bist es nicht!« rief der Kranke, indem er sich erhob und seinen Vater mit von Abscheu erfüllten Blicken anstarrte. »Du bist der Teufel, der Satan; aber mein Meister bist Du nicht! Mein Meister sitzt hier und hier!« Er schlug sich bei diesen Worten auf die Brust und vor die Stirn. »Er zermalmt mir das Herz und zerreißt mir das Gehirn. Ich mag die Kasse nicht. Ich gebe die eine zurück, und die andere lasse ich liegen. O, mein armer Kopf, mein armes Herz! Wie das brennt, wie das quält! Nur ein Blick meiner Liama kann diese Schmerzen heilen. Wo ist sie? Ich will sie sehen, sehen, sehen!«
»Schweig, sage ich nun zum letzten Male!« donnerte der Alte.
»Ich schweige nicht!« rief der Sohn. »O, Liama, meine süße Liama! Gebt sie hin, die Kasse; gebt sie hin!«
Da fiel die Faust des Capitäns auf ihn nieder, nicht einmal, sondern in vielen, ununterbrochenen Hieben und Schlägen. Aber der Kranke rief fort. Er wehrte sich nicht gegen die herzlose, grausame Züchtigung seines eigenen Vaters, aber er hielt auch nicht inne, nach seiner Liama und der Kasse zu rufen. Die Arme des Capitäns ermüdeten; er wendete sich zu der Baronin, welche ohne das geringste Zeichen von Theilnahme Zeugin der Unmenschlichkeit gewesen war, und sagte:
»Der Anfall ist heftiger, als jeder andere zuvor. es gelingt mir nicht, ihn einzuschüchtern. Versuchen wir das andere Mittel.«
Während der Kranke immer weiter wimmerte, antwortete sie:
»Das ist mir unangenehm, halten Sie es für ein Vergnügen, mich –«
»Sie werden es thun!« unterbrach er sie mit drohender Stimme. »Oder soll die Dienerschaft erfahren, wie es steht und um was es sich handelt?«
Sie zuckte die Achsel und fragte:
»Und wenn ich es doch nicht thue, was dann?«
»So haben Sie aufgehört, Baronin de Sainte-Marie zu sein!«
Sie zuckte zusammen, wagte aber doch die Frage:
»Ich möchte doch wissen, wie Sie das anfangen wollen, Herr Schwiegerpapa?«
»Ja, die Baronin will ich, die Baronin de Sainte-Marie!« rief der Irre, dessen Geisteskraft nur dazu hingereicht hatte, diesen Namen aufzunehmen.
»Schweig', Unvorsichtiger!« rief der Alte, indem er abermals zuschlug. Und zu der Baronin gewendet, fuhr er fort: »Ich weiß sehr genau, wie ich es anzufangen habe; ich bin, bei Gott, der Mann dazu! Wie wollen Sie beweisen, daß Sie die Frau meines Sohnes sind?«
»Ich habe Zeugen!«
»Sie sind todt!«
»So sind Sie deren Mörder. Die Listen der Mairie und des Kirchenbuches werden beweisen, was ich bin.«
»Die Blätter sind verschwunden,« antwortete er höhnisch.
»So sind Sie der Dieb! Uebrigens brauche ich weder Zeugen noch Bücher. Ich würde Alles verrathen.«
»Und für lebenslänglich in das Zuchthaus wandern,« lachte er mit teuflischem Grinsen. »Wer will meinen Sohn bestrafen? Er ist ein Wahnsinniger. Wer will mich anklagen? Ich war nicht dabei. Wollen Sie meinem Befehle gehorchen, oder sich und Ihren Sohn um die Baronie bringen? Ich frage zum letztenmale.«
Der Baron krümmte sich unter den Fäusten des Alten, der sich jetzt alle Mühe gab, ihm den Mund zuzuhalten.
»Sie sind wahrhaftig ein Teufel!« knirschte die Baronin, indem sie sich anschickte, zu gehen.
»Und Sie sind eine Stallmagd, eine elende Bauerndirne. Gehorchen Sie sofort!« rief er ihr mit funkelnden Augen nach.
Sie kehrte mit vor Zorn hoch gerötheten Wangen in das Wohnzimmer des Barons zurück und begab sich in das gegenüberliegende Gemach. Dieses war klein und zeigte nichts als eine Waschtoilette, einen Spiegel und einen Kleiderschrank. Sie öffnete den letzteren und nahm das einzige Gewand heraus, welches er enthielt. Es war die Festkleidung eines Bauernmädchens aus dem Argonner Walde. Sie schien hier für ganz besondere Zwecke aufbewahrt zu werden, jedenfalls auch für denselben Zweck, dem sie jetzt dienen sollte.
Während das Jammern und Wehklagen des Barons herüberdrang, warf sie ihre gegenwärtige Kleidung ab, legte das andere Gewand an und ordnete ihr Haar in anderer Weise. Obgleich dies so schnell ging, daß sie nach kaum fünf Minuten fertig war, hatte sie doch eine außerordentliche Sorgfalt dabei entwickelt. Sie hatte sich die größte Mühe gegeben, alle ihre Reize hervorzuheben und in das beste Licht zu stellen. Sie stand jetzt da als üppig schönes Bauernmädchen, schön und verführerisch, daß sie im Stande war, auch festere Grundsätze zu Schanden zu machen. Sie betrachtete sich noch einige Augenblicke lang höchst wohlgefällig im Spiegel und flüsterte dabei:
»Und dies Alles soll einem Verrückten gehören! O, wenn doch dieser Deutsche nicht – nicht buckelig wäre!«
Sie erröthete selbst über diesen Gang ihrer Gedanken und begab sich dann zu den beiden Männern zurück, welche Vater und Sohn waren, obgleich der Erstere dem Letzteren als Peiniger gegenüberstand.
»Endlich!« rief der Alte, indem er sich erhob. »Versuchen Sie Ihre Macht; ich werde im anderen Zimmer warten.«
Er entfernte sich und sie trat zu dem wimmernden Baron.
»Henri!« sagte sie mit dem sanftesten Tone ihrer Stimme.
Sein Kopf hatte sich wieder unter die Kissen vergraben; dennoch hörte er das Wort und horchte auf.
»Wer rief?« fragte er. »Bist Du es, meine Liama?«
Sie beugte sich zu ihm nieder und flüsterte liebevoll:
»Komm, mein Henri, blicke mich an!«
Er erhob den Kopf, wendete ihn nach ihr und blickte sie an. Es ging wie ein Zug des Erkennens über sein bleiches Gesicht. Er lächelte matt und sagte:
»Ah, das schöne Mädchen vom Brunnen an der Dorfschänke. Ich bin heute durch das Dorf geritten, als Du am Brunnen standest. Hast Du mich gesehen?«
»Ja, ich habe Dich gesehen,« antwortete sie, indem sie sich auf den Rand des Bettes niedersetzte.
»Ich habe mich nach Dir erkundigt,« sagte er, indem er sich noch weiter emporrichtete. »Deine Mutter ist todt, und Dein Vater ist der Hirte. Nicht?«
»Ja,« flüsterte sie.
»Hast Du einen Geliebten, Du schönes, holdes Kind?«
»Nein; ich habe noch niemals einen gehabt.«
»So hat Deine Lippen noch Niemand geküßt?« fragte er, indem er den Arm um sie schlang.
Seine Blicke bekamen immer mehr Selbstbewußtes, und er musterte sie, als ob er angestrengt nach seiner Erinnerung suche.
»Noch Niemand,« antwortete sie.
»So soll es ein Baron sein, der sie zuerst küßt. Komm, beuge Dich zu mir herüber. Ich will Liebe trinken von Deinen Lippen, Liebe, denn sie ist der einzige, süße Nektar der Götter.«
Sie hielt ihm den Mund entgegen. Er schlang auch den anderen Arm um sie. Ihr Busen lag an seinem Herzen, und die Lippen der Beiden preßten sich zu einem langen, langen Kusse zusammen. Aber während dieses Kusses ging eine merkwürdige Veränderung mit ihm vor. Seine Lippen lösten sich langsam von den ihrigen; seine Züge nahmen einen unruhigen Ausdruck an. Er betrachtete ihr Gesicht, er legte die Hand auf ihre volle Brust, wie um ihre Gestalt, ihr Wesen zu untersuchen; er ergriff die Zöpfe ihres Haares, um sie genau zu betrachten; sein Blick wurde nach und nach finsterer, und endlich sagte er:
»Mädchen, Du belügst mich! Das war kein Kuß von Lippen, die noch nie geküßt haben; der Kuß eines reinen Mädchens ist anders. Wer so küßt wie Du, der hat die Liebe kennen gelernt. Wie heißest Du?«
»Adeline,« antwortete sie, indem ihr Gesicht den Ausdruck der Besorgniß annahm.
»Adeline?« fragte er, sichtlich mit einem Gedanken ringend, den er noch nicht zu beherrschen vermochte. »Adeline? Ach, jetzt habe ich es! Adeline, die Hirtentochter, die heimliche Geliebte des Sohnes des Maire! Dieser Sohn des Maire sollte sie nicht heirathen, obgleich Beide sich bereits so innig verbunden hatten, als ob es auf der Mairie geschehen sei. Sie war so klug, den Baron de Sainte-Marie zu zwingen, sie zu heirathen und den Sohn ihres Geliebten dann als den Seinigen zu betrachten. Das bist Du! Bist Du das?«
»Du irrst!« antwortete sie, indem sie den Arm um seine Schulter schlang, um ihn mit gut gespielter Zärtlichkeit an sich zu drücken.
Da aber schob er sie zornig zurück und antwortete:
»Ich irre mich nicht! Hältst auch Du mich für wahnsinnig? O, ich weiß Alles! Du hast mich betrogen, aber Du betrügst mich nicht wieder. Du hast mich beobachtet, als ich nach der Kriegskasse – o, mein Gott, die Kriegskasse! Und dann mußte ich, um Dein Schweigen zu erkaufen, meine herrliche Liama – o Liama, meine süße, einzige Liama!«
Er stieß die Baronin mit aller Gewalt von sich und wühlte sich wieder in das Bett hinein. Wie oft hatte, wenn er in sein Toben verfallen war, die Strenge seines Vaters ihn eingeschüchtert, oder, wenn dieses nicht geholfen hatte, die Schönheit der Baronin, die dann stets als Mädchen angekleidet war, ihn in Banden geschlagen und beruhigt. Aber heute hatten beide Mittel ihre Kraft verloren. Er begann von Neuem zu wimmern und zu rufen, so daß der Capitän eintrat.
»Nun?« fragte er die rathlos dastehende Schwiegertochter.
»Es hilft nichts, gar nichts,« antwortete sie.
»So haben Sie es nicht klug genug angefangen,« tadelte er. »Liama, meine Liama will ich sehen!« rief der Kranke, indem er aufsprang. »Wo habt Ihr sie?«
Er ballte seine Faust und seine Lippen wurden feuchte. Der Alte wußte, daß dann stets der höchste Grad des Paroxismus eintrat, daß ihm der Schaum vor den Mund trat, und seine Kräfte sich verdoppelten, so daß er kaum zu bändigen war.
»Was thun wir?« fragte er.
»Wo ist sie? Zeigt sie mir, sonst geht Alles zu Grunde und in Trümmern!« gebot der Baron, indem er drohend auf die Beiden zutrat.
»Zeigen Sie sie ihm!« antwortete die Baronin, indem sie angstvoll vor dem Kranken zurückwich.
»Es wird kein anderes Mittel geben, als dieses,« meinte er. Und zu seinem Sohne gewendet, sagte er:
»Wen willst Du sehen?«
»Liama, meine Geliebte, mein Weib!«
»Sie ist ja todt!«
»Todt?« hohnlachte der Kranke. »Denkt Ihr, ich weiß nicht, daß Ihr mich betrügen wollt?«
»Du hast Sie ja selbst mit begraben.«
»Begraben? Ja. Aber sie ist auferstanden. Ich will sie sehen; ich muß sie sehen; ich muß ihr sagen, daß ich die Kriegskasse nicht behalten mag, und daß sie mir vergeben soll, obgleich ich ein – ein Mörder bin. Vorwärts! Ich warte nicht!«
»Nun gut, Du sollst sie sehen,« entschloß sich der Alte. »Komm!«
Er nahm seinen Sohn beim Arme und winkte der Baronin zu, das Zimmer zu verlassen. Diese aber trat näher und erklärte:
»Ich gehe mit!«
Da blickte der Alte sie halb verwundert und halb zornig an und fragte:
»Warum?«
»Ich will das Bild sehen, die Wachspuppe, von welcher Sie zu mir –«
»Pah!« unterbrach er sie barsch. »Das ist nicht für Weiber!«
»O, warum nicht?« antwortete sie mit fester Stimme. »Ich will mich endlich überzeugen, ob Sie ein ehrliches Spiel mit mir treiben. Ich muß endlich einmal wissen, wo sich der Eingang zu Ihrem Geheimnisse befindet. Ich will endlich einmal aufhören, der Spielball Ihrer Intriguen zu sein. Ich gehe nicht von der Stelle; ich muß heute erfahren, woran ich bin!«
»Ah, Madame, kennen Sie die Sage vom verschleierten Bilde zu Sais?« fragte er, indem er sie mit einem höhnischen Blicke überflog.
»Ich kenne es,« antwortete sie.
»Und Sie wissen auch, daß Derjenige, welcher den Vorhang lüftete, sterben mußte?«
»Ich weiß es.«
»Nun wohl, so halten Sie sich von diesem Vorhange fern, denn ich nehme an, daß Sie noch nicht gewillt sind, auf Ihr junges Leben zu verzichten!«
»O, Herr Capitän, wollen Sie damit etwa sagen –«
»Daß Sie sterben müßten, wenn Sie versuchen, mein Geheimniß zu ergründen! Ja, das will ich allerdings sagen.«
»So würden Sie mein Mörder sein!«
»Der würde ich allerdings sein, Madame,« antwortete er, indem er ihr näher trat. Und mit drohendem Tone fuhr er fort: »Entfernen Sie sich also schleunigst aus diesem Zimmer. Es ist mir ganz gleich, ob der Tochter eines Schweinehirten auf meine Veranlassung der Athem ausgeht oder nicht. Verstanden?«
Der Kranke stand dabei, ohne ein Glied zu rühren, oder ein Zeichen zu geben, daß er höre und begreife, was gesprochen wurde. Der Alte hatte ihm versprochen, daß er Liama sehen würde, das war ihm genug.
»Und wenn ich auf meinem Willen beharre?« meinte die Baronin stolz.
»So werde ich Ihnen zeigen, wie viel Ihr Wille hier auf Ortry gilt!«
Er holte, ehe sie es sich versah, aus, und schlug sie mit der Faust auf den Kopf, daß sie besinnungslos zusammenbrach. Dann klingelte er. Ein Diener erschien im Wohnzimmer. Er begab sich dorthin und befahl:
»Die Frau Baronin ist ohnmächtig geworden; ihre Mädchen mögen kommen, um sie nach ihren Gemächern zu tragen!«
Sobald der Bediente sich entfernt hatte, nahm er den Baron beim Arm und zog ihn fort. Als die Mädchen kamen, fanden sie keinen einzigen Menschen in den Zimmern, welche der Baron bewohnte. Die beiden Männer waren spurlos verschwunden, obgleich sie den Corridor nicht betreten hatten.
Dieses geheimnißvolle Kommen und Verschwinden war von der Dienerschaft sehr oft bemerkt worden, ohne daß eine Erklärung dazu gefunden werden konnte. Müller war so glücklich gewesen, diesem Geheimnisse gleich am ersten Tage seines Hierseins auf die Spur zu kommen. Es sollten noch ganz andere Entdeckungen seiner warten.
Er war mit Alexander zunächst nach dem Schloßgarten gegangen, um sich die Gewächshäuser und sonstigen Anlagen zu betrachten; dann hatten sie den Park aufgesucht und sich sehr lebhaft in demselben herumgetummelt. Während dieser Zeit hatte Müller seinem Zögling Alles zu Gefallen gethan; er erkannte in dem Knaben eine jener Naturen, welche sich am Leichtesten leiten lassen, wenn man ihnen den Schein läßt, daß sie es sind, welche regieren. Er behandelte ihn darnach, und so kam es, daß Alexander großen Gefallen an seinem neuen Lehrer fand, der gar nicht that, als ob er ihn unter seine pädagogische Dressur nehmen wolle, sondern sich sogar herbeiließ, Eichkätzchen mit ihm zu jagen.
Als der Knabe sich davon ermüdet fühlte, machte er den Vorschlag, nach dem Parkhäuschen zu gehen, um sich dort auszuruhen. Müller willigte ein. Sie fanden das kleine, einfache Häuschen, welches nur einen einzigen Raum besaß, in welchem einige Holzstühle und ein Tisch standen. Hier saßen sie, und Müller, der seine Augen offen hatte, zumal da er gewahr geworden war, daß sein eigenes Zimmer eine Doppelmauer hatte, bemerkte, daß die eine Wand des Häuschens, trotzdem sie, wie die anderen, nur aus Brettern bestand, eine Dicke von einigen Fuß besaß. Das fiel ihm auf.
Aus diesem Grunde suchten im Laufe der Unterhaltung seine Augen diese Wand ganz unwillkürlich immer wieder und – ah, was war das? Hatte sich wirklich ein Theil der Mauer jetzt ganz leise verschoben?
Er nahm sein Taschentuch hervor und zog die Brille von der Nase, wie um die Erstere abzuputzen; dann wischte er sich die scheinbar blöden Augen langsam aus und hatte so Gelegenheit, ungesehen von einem unsichtbaren Beobachter unter dem Tuche hervor mit dem einen, halb geschlossenen Auge die Stelle der Wand zu mustern, von welcher er bemerkt zu haben glaubte, daß sie bewegt worden sei.
Wirklich, es war ein ganz, ganz schmaler Riß entstanden, und Müller hätte darauf schwören mögen, ganz genau den Punkt bezeichnen zu können, wo ein schwarzes, glänzendes Auge durch die Spalte lausche. Es stand unumstößlich fest, daß sich eine Person zwischen der Doppelwand befand, welche ihn und den Knaben belauschte. Dieser Theil der Wand war jedenfalls nach Art der Zugthüren zu bewegen, welche anstatt in Angeln auf einer Schiene oder in einem Falze auf kleinen Rollen oder Rädern gehen.
Wer aber war der Lauscher? Das war des Capitäns Auge. Doch hatte Müller keine Zeit, über diesen Gegenstand nachzudenken. Er mußte sich hüten, bemerken zu lassen, daß er die Spalte entdeckt habe. Darum drehte er sich unbefangen von dieser Richtung ab und nach Alexander hin, mit welchem er eine lebhafter geführte Unterhaltung begann.
Nach einigen Minuten hatte, wie ihm ein flüchtiger Blick verrieth, die Spalte sich wieder geschlossen, und da gerade jetzt Alexander vor das Häuschen trat, um einen Habicht zu beobachten, welcher in der Höhe seine Kreise zog, so entstand im Innern der Hütte eine augenblickliche, lautlose Stille, während welcher man ein Blatt hätte fallen hören können. Da, horch, entstand unter dem Fußboden ein eigenthümliches Geräusch. Es war, als ob Schlüssel klirrten, als ob dann eine schwere Thür in kreischenden Angeln sich bewege. Das war allerdings nicht mit solcher Deutlichkeit zu hören, daß man es mit Sicherheit behaupten konnte, aber Müller hatte ein scharfes, gutes Gehör, auf welches er sich verlassen konnte. Er beschloß, baldigst diese auffälligen Erscheinungen zu untersuchen. Je eher dies geschehen konnte, desto besser war es, denn dieses Schloß Ortry war ein zu zweifelhafter Aufenthalt, als daß es gerathen sein konnte, die Entdeckung nützlicher Geheimnisse zu verzögern.
Nachdem die Beiden sich ausgeruht hatten, sprach Müller den Wunsch aus, nach dem Eisenwerk zu gehen, um sich dasselbe zu besehen. Alexander stimmte bei, doch wurden Beide vom Director nicht sehr freundlich aufgenommen.
»Sind Sie vom Herrn Capitän geschickt, gnädiger Herr?« fragte er Alexander.
»Nein.«
»Oder haben Sie eine Erlaubnißkarte?« wendete er sich an Müller.
»Auch nein. Bedarf es einer solchen?« fragte dieser.
»Allerdings.«
»Das scheint mir wunderbar. Ich habe oft ganz ähnliche Werke besucht, deren Besitzer und Leiter es sich zur Freude gemacht haben, Fremde zu informiren. Es kann dem Besitzer eines industriellen Etablissements nur lieb sein, zu hören, daß seine Anlagen in einem Rufe stehen, der sogar den Laien herbeizieht.«
»Ich gebe das zu,« meinte der Director abweisend. »Sie werden jedoch eben so bereitwillig zugestehen, daß wir oft verschwiegen sein müssen. Es kann uns nicht gleichgiltig sein, ob unsere Concurrenten erfahren, mit welchen Mitteln und auf welche Weise wir arbeiten, welche Handgriffe wir anwenden, und zu welchem chemischen Verfahren wir uns entschlossen haben.«
»Halten Sie mich für einen Concurrenten?« lächelte Müller.
»Ich halte Sie für das, was Sie sind, nämlich für einen Mann, der von unseren Dingen ganz und gar nichts versteht. Sie sind nicht der Mann, der uns gefährlich werden könnte; aber ich habe nun einmal Weisung, keinen Menschen ohne Erlaubnißkarte einzulassen, und bitte Sie, davon abzustehen.«
»Herzlich gern,« antwortete Müller. »Ich will Sie keineswegs in Gefahr bringen. Adieu!«
Er wandte sich ab, um zu gehen. Er wußte nun, was er hatte wissen wollen, und fühlte sich befriedigt. Nicht aber so Alexander. Er blieb stehen und fragte:
»Bedarf auch ich einer Erlaubnißkarte?«
»Allerdings, sobald Sie nicht in Begleitung des Capitäns erscheinen.«
Da richtete sich der Knabe hoch empor und sagte:
»Wissen Sie, daß Sie mir gar nichts zu befehlen haben? Sie haben mir hier nicht das Mindeste zu verbieten. Wäre ich allein, so würde ich in den Werken herumlaufen, ganz wie es mir gefällt. Aber ich will Herrn Müller nicht verlassen. Das aber muß ich Ihnen sagen, daß Sie ihn mit höflicheren Worten von Ihrer Pflicht benachrichtigen sollten. Er ist ein Mann, der mehr versteht als Sie. Sie sind ein Grobian gewesen!«
Er folgte seinem Lehrer nach, der alle diese Worte gehört hatte.
»Monsieur Müller,« sagte er, »Ich muß Ihnen Etwas mittheilen!«
»Was?«
»Daß ich noch niemals einen Lehrer in Schutz genommen habe!«
»Ah!«
»Daß ich es mit Ihnen thue, mag Ihnen beweisen, wie lieb ich Sie habe. Sie werden bei mir bleiben müssen. Sie sind ganz anders, als die Vorigen, und ich werde mich hüten, Sie wieder fortzulassen. Morgen beginne ich, Deutsch zu lernen.«
Müller war hoch erfreut über diesen unerwartet schnellen Erfolg. Er erkannte, daß der Knabe ganz gute Fonds besaß, welche bisher leider nur vernachlässigt worden waren.
Es war bereits um die Dämmerung, als sie das Schloß erreichten. Dort trafen sie die Gerichtspersonen, welche gekommen waren, den Thatbestand der Verunglückung des Grooms festzustellen. Sie mußten bis zum morgenden Tage hier verweilen, doch wurde dadurch die Lebensordnung der Schloßbewohner in keiner Weise alterirt, denn punkt zehn Uhr gingen diese, wie gewöhnlich, bereits zur Ruhe.
Müller hatte sich einige Lichter versorgt. Im Laufe des Nachmittags waren seine Effecten aus Thionville gekommen. Dabei befand sich eine kleine Blendlaterne. Er hatte sich mit derselben versehen, weil er ja wußte, daß er als Eclaireur nach Ortry ging, und als solcher sehr leicht in die Lage kommen konnte, dieses nützliche Instrument zu gebrauchen. Als er keine Bewegung mehr im Schlosse wahrzunehmen vermochte, zog er sich um, aber im Dunkeln, um nicht durch die Glastafel beobachtet werden zu können.
Er legte einen Bart an, zog über seine dunkele Hose eine Blouse, wie man sie in jenen Gegenden trägt, und tauschte die Stiefel mit leichten Schuhen um, welche den Schritt nicht so leicht hörbar werden ließen. Den Buckel hatte er abgeschnallt.
Es konnte ihm nicht einfallen, sich zur Treppe hinab zu begeben. Er hatte sich während des Tages bereits einen anderen Weg ersehen. Nachdem er die Thür fest verschlossen, und einen geladenen Revolver zu sich gesteckt hatte, öffnete er das nördliche Fenster und schwang sich durch dasselbe hinaus auf das Dach. Da dasselbe ziemlich eben war, konnte er ganz ohne Gefahr dort aufrecht gehen; aber er that das nicht, sondern kroch in liegender Stellung fort, da sich seine hohe Gestalt sonst gegen den Himmel abgezeichnet hätte, und von unten auffällig werden konnte.
So kam er an den Blitzableiter. Er hatte ihn am Tage bemerkt und mit seinem scharfen Auge geprüft. Die Leitung war nach alter Weise aus starken, viereckigen Eisenstäben hergerichtet, und wurde von breiten Haltern unterstützt, welche in Entfernungen von höchstens zehn Fuß von einander standen, so daß der stärkste Mann da ganz gefahrlos auf und nieder klettern konnte. Uebrigens war von der Mauer schon längst der Bewurf abgefallen; ein solcher Kletterer konnte, wenn nicht Jemand ganz in der Nähe stand, gar nicht bemerkt werden.
Müller legte sich mit den Beinen über die Dachrinne hinab, faßte dann den Leiter und rutschte auf den obersten Halter hinunter, von diesem auf den zweiten und so weiter. Als er von Außen die zweite Etage erreichte, kam er zwischen zwei Fenster zu halten, welche erleuchtet waren. Er warf einen vorsichtigen Blick hinein und gewahrte – den Capitän. Was hatte dieser Seltsames vor?
Müller bemerkte nämlich, daß der Alte eine Pistole sehr sorgfältig lud und in die Tasche steckte, dann trat er zu einem Schranke, dessen Thür er öffnete. Der Lauscher glaubte, er werde irgend ein Kleidungsstück aus dem Schranke nehmen; statt dessen aber stieg er ganz hinein und zog die Thür hinter sich zu. Müller wartete ein Weilchen, doch der Alte kam nicht wieder heraus. Was war das?
»Ist in dem Schranke eine geheime Verbindungsthür verborgen?« fragte sich der Lehrer. »Nein, sie wäre ja überflüssig, da gleich daneben eine Thür in das Nebenzimmer führt. Oder befindet sich im Schranke der Eingang zu den Doppelmauern? Das wäre eher zu glauben.« In diesem Falle aber mußte Müller vorsichtig sein, denn es stand zu vermuthen, daß der Capitän soeben einen seiner Beobachtungsgänge angetreten habe. Wie nun, wenn er auch nach dem Parkhäuschen kam?
Müller stieg weiter herab und schlich sich nach dem Garten, als er die Erde erreicht hatte. Von dort aus ging er nach dem Parke.
Es war zwar dunkel, aber beim hellen Scheine der Sterne konnte man doch immerhin bemerkt werden. Darum hielt er sich immer unter dem Schutze der Bäume, welche die Rasenstellen des Parkes begrenzten. Eben wollte er über eine kleine Lichtung hinüberhuschen, als er den Schritt anhielt.
»Pst!« erklang es leise neben ihm. »Ich hörte Sie kommen.«
Wer war das? Es hatte wie eine weibliche Stimme geklungen. Er sollte keinen Augenblick im Zweifel bleiben, denn eine warme, weiche Hand erfaßte die seine, und zu gleicher Zeit legte sich ein voller, zärtlicher Arm um ihn.
»Ich dachte, Sie erwarteten mich bereits,« flüsterte es weiter. »Ich konnte nicht eher kommen, denn mein Schwiegervater ging erst jetzt von uns fort, und dann mußte ich ja erst Alexander zur Ruhe bringen, welcher nicht müde wurde, von seinem neuen Erzieher zu erzählen. Da wir uns hier treffen, brauchen wir nicht viel weiter zu gehen. Komm, unter jenen Eschen steht eine Bank!«
Sie zog ihn leise fort, ohne den Arm von ihm zu nehmen. Was sollte er thun? Für wen hielt sie ihn? Es war die Baronin; das hatten ihm ihre Worte bereits verrathen. Er war als Kundschafter hier. Es gab vielleicht Gelegenheit, etwas Wichtiges zu erfahren. Er beschloß, die ihm angetragene Rolle aufzunehmen und so weit wie möglich zu spielen. Die Baronin erwartete einen heimlichen Liebhaber; das war sicher; er fühlte keine Gewissensbisse, das untreue Weib zu täuschen.
Sie erreichten die Bank. Er setzte sich, und die Dame nahm auf seinem Schooße Platz. Diese Vertraulichkeit war der sicherste Beweis, daß Derjenige, dessen Stellvertreter Müller so unerwartet geworden war, bereits längere Zeit mit ihr in heimlichem Verkehre stand. Sie legte sich fest, innig und warm an ihn, und aus den vollen, üppigen Formen, welche er fühlte, bemerkte er, daß er sich vorhin nicht getäuscht hatte, als er an ihrer Stimme und aus ihren Worten sie als die Baronin erkannte.
Aber für wen galt denn er? Dies zu erfahren, war die Hauptsache. Sie selbst kam ihm zur Hilfe, denn sie sagte:
»Alexander erzählte mir, daß er heute mit Monsieur Müller bei Ihnen gewesen sei. Sie haben sich aber geweigert, ihn einzulassen.«
Ah, also der Director war der heimliche Geliebte dieses Weibes! Müller fühlte sich erleichtert. Er hatte fast ganz die Gestalt des Directors; sein falscher Bart glich dem des Letzteren zufälliger Weise fast ganz; auch hatte er ja mit diesem Manne gesprochen und seine Stimme zur Genüge gehört, um sie leidlich nachahmen zu können.
»Ich durfte ja nicht,« antwortete er leise.
»Allerdings! Dieser alte Capitän ist sehr streng; aber dennoch wünsche ich, daß Sie Rücksicht auf Alexander nehmen, der ja Ihr zukünftiger Herr ist, und daß Sie Monsieur Müller freundlicher begegnen.«
Sie sprach im Flüstertone, und so wurde es Müller leicht, seine Stimme zu verstellen, da dies im Flüstertone am wenigsten schwierig ist.
»Diesen Deutschen? Ah!« sagte er.
»Ich weiß, daß Sie die Deutschen hassen, ebenso wie ich; Ihre ganze jetzige Thätigkeit ist ja darauf gerichtet, sie zu verderben; aber ich möchte mit ihm eine Ausnahme machen. Alexander liebt ihn.«
»Das wäre ja wunderbar!«
»Ja, er hat noch keinen seiner Lehrer geliebt; aber Monsieur Müller hat ihm das Leben gerettet, und dann auch sein Herz zu gewinnen vermocht. Uebrigens ist er nicht mit anderen Schulmeistern zu vergleichen.«
»Warum nicht, meine Theure?«
»Ah, endlich einmal ein zärtliches Wort: meine Theure! Wissen Sie, daß Sie heute Abend ungemein zurückhaltend sind?«
Sie schmiegte sich an ihn und küßte ihn mit der Gluth eines leidenschaftlichen, treulosen Weibes. Er wagte es kaum, diesen Kuß zu erwidern.
»Auch Ihre Küsse sind kalt. Ich werde Sie zu strafen wissen, und zwar sofort!«
»Womit?« fragte er auf diese Drohung.
»Damit, daß ich Ihnen sage, daß dieser Deutsche Ihnen bei mir gefährlich werden kann.«
» Fi donc! Dieser buckelige Kerl!«
»Wenn Sie ihn reiten, fechten und schießen gesehen hätten, so würden Sie ganz und gar nicht an diesen kleinen Fehler denken, an dem er doch unschuldig ist. Ich möchte wirklich wissen, ob er ebenso feurig küßt, wie er den Degen führt.«
Es war klar, daß dieses Weib ihren vermeintlichen Liebhaber eifersüchtig machen, und dadurch anregen wollte, seine Zärtlichkeit zu verdoppeln. Müller legte also die Arme fest um sie, drückte sie mit nachgeahmter Innigkeit fest an sich, und vermochte es nun auch nicht zu verhindern, daß sie ihren Mund mit aller Kraft auf den seinigen legte, welches ihn fast in Verlegenheit brachte. Nicht nur ihre Lippen, sondern auch ihre Zunge war bei diesem Kusse thätig. Da aber lösten sich plötzlich ihre Arme von ihm; sie fuhr zurück und sagte:
»Was ist das? Sie haben ja ganz andere Zähne!«
»In wiefern?« fragte er.
»Ich habe ja noch heute Morgen Ihre Zahnlücke gefühlt!« Er bemerkte, daß sein Incognito sich in großer Gefahr befinde, und antwortete:
»Hm, leicht erklärlich! Der Dentist brachte mir heute den bestellten Zahn.«
»Ah, Sie lügen! Es fehlte Ihnen keiner; die beiden vorderen standen etwas zu weit auseinander. Zeigen Sie Ihre rechte Hand!«
O weh, jetzt war die Schäferstunde vorüber, denn es fiel erst jetzt Müller ein, daß er heute während seines Gespräches mit dem Director bemerkt hatte, daß diesem, jedenfalls in Folge eines kleinen Unfalles, an der rechten Hand ein Fingerglied fehlte.
Sie hatte, ehe er es verhindern konnte, seine Hand ergriffen, welche sie befühlte. Kaum hatte sie es bemerkt, daß sie vollständig sei, so sprang sie empor, um zu entfliehen. Eben so schnell jedoch besann sie sich. Sie drehte sich wieder um und fragte:
»Kennen Sie mich?«
Sollte er sie schonen? Nein; sie war es nicht werth!
»Ja,« antwortete er.
»Nun, wer bin ich?«
»Die Baronin de Sainte-Marie.«
»Gut, so bitte ich um gleiche Karten! Wer sind Sie?«
Er erhob sich und trat einen Schritt zurück.
»Das werden Sie jetzt nicht erfahren, Madame!«
»Jetzt nicht, aber später vielleicht?«
»Möglich!«
»So sagen Sie mir wenigstens was Sie sind!«
»Ich bin Officier,« antwortete er.
»Woher? In welcher Truppe?«
»Das muß ich leider verschweigen.«
»So lügen Sie! Ein Officier ist gewöhnlich ein Ehrenmann, und ein solcher wird die Täuschung, in welcher sich eine Dame befindet, nicht in der Weise benutzen, wie Sie es gethan haben!«
»Unter Umständen kann er vielleicht dazu gezwungen sein, theuere Baronin.«
»Welche Umstände wären dies? Was wollen Sie des Nachts in Ortry? Ich kenne keinen Officier, welcher das Recht oder die Erlaubniß hätte, zu dieser Stunde hier zu verkehren.«
Was sollte er antworten? Da kam ihm die beste Ausrede, die er geben konnte:
»Denken Sie an Paris!«
»Ah, Sie haben mich in Paris gekannt?«
»Halten Sie dies für unwahrscheinlich? Kann Sie jemand vergessen, der Sie dort gesehen und bewundert hat?«
»Und Sie wollen sich mir wirklich nicht entdecken?«
»Heute noch nicht, meine Gnädige.«
»So geben Sie mir Ihr Ehrenwort, daß Sie mich nicht verrathen, und den Inhalt unserer Conversation keinem Menschen mittheilen wollen!«
»Ich verspreche Ihnen gern, auf diese schöne Stunde nur Ihnen allein gegenüber zurückzukommen. Ist Ihnen dies genug«
»Ja, aber Ihr Gesicht muß ich dennoch sehen!«
Sie trat rasch zu ihm heran, warf die schönen, üppigen Arme um seinen Nacken und versuchte, seinen Kopf tiefer zu ziehen. Es gelang ihr nicht.
»Dann bitte, wenigstens noch einen Kuß!« bat sie in verführerischem Tone.
Es war klar, daß sie dabei ihr Gesicht abermals in die Nähe des seinigen bringen wollte, um ihn genauer anzusehen, als sie es vorher gethan hatte.
»Den sollen Sie gern haben!« lachte er leise.
Er bog sich zu ihr herab und küßte sie; zu gleicher Zeit jedoch legte sich seine Hand ihr auf beide Augen, so daß sie nicht das Geringste erkennen konnte. Im nächsten Augenblicke hatte er sich von ihren Armen losgemacht, und sie hörte an dem schnellen Rauschen seiner Schritte, daß er sich entfernte.
Sie stand da, mehr berauscht als erschreckt. Er war Officier und hatte ihr sein Ehrenwort gegeben; ihr Ruf stand in keinerlei Gefahr. Aber wer war er denn? War er wirklich von Paris hierhergekommen, nur um aus Liebe zu ihr des Nachts das Schloß zu umschleichen? Stand er jetzt vielleicht in Thionville in Garnison? Ah, dann kam er jedenfalls wieder! Er hatte ja gehört, daß sie einem Andern erlaubte, sie heimlich zu treffen; er durfte alle Hoffnung haben, diese Erlaubniß auch zu erhalten.
Ein schöner, voller, kräftiger Mann war es gewesen; das hatte sie gefühlt. Noch umwob sie der feine, eigenthümliche Duft, der von ihm ausgegangen war; von seinen Kleidern, seinem Barte oder seinen Haaren; sie wußte es selbst nicht, denn sie hatte nicht darauf geachtet, und erst jetzt dachte sie an dieses Parfüm, nachdem er fortgegangen war.
Was aber nun? Durfte sie den Director warten lassen? Nein. Sie hatte ihm ihr Wort gegeben und mußte es halten. Darum schlich sie sich leise dem Orte zu, an welchem das Stelldichein stattfinden sollte.
Müller hatte sich schnell entfernt. Er schritt dem Parkhäuschen zu, aber jetzt mit völlig unhörbaren Schritten. Er war klug geworden; seine Schritte waren vorher doch noch so unvorsichtig gewesen, daß die Baronin ihn bemerkt hatte.
Er kam am Häuschen an und stand bereits im Begriffe, einzutreten, als er von Innen ein Geräusch vernahm, als ob man Bretter leise zur Seite schiebe. Er trat zurück und versteckte sich hinter einen Busch. Ein dünner Lichtschein drang durch die Spalten der Wand, aber nur einen Augenblick lang; dann wurde es wieder dunkel.
Jetzt öffnete sich leise die Thür. Ein Mann trat hervor. Da Müller tief am Boden kauerte, so zeichnete sich ihm die Gestalt dieses Mannes gegen das Sternenlicht so genügend ab, daß er in ihm den alten Capitän erkannte.
Was wollte dieser hier? Stand das Häuschen mit dem Schranke im Zimmer des Alten in heimlicher Verbindung? Müller hatte keine Zeit, diese Fragen auszudenken. Der Capitän schritt quer über die Parklichtung hinüber. Müller eilte in einem Bogen am Rande der Lichtung hin, um ihm zuvorzukommen. Es gelang ihm. Er stellte sich hinter eine starke Eiche, an welcher der Capitän vorüberging und unter die Bäume trat. Müller konnte ihn nicht mehr sehen, aber er beschloß dennoch, der Richtung zu folgen, welche der Alte eingeschlagen hatte. Er kauerte sich nieder und schob sich auf Händen und Füßen weiter. An einem jeweiligen Rauschen hörte er, daß der Capitän hart vor ihm sei. Es schien, daß auch er ganz langsam vorwärts krieche.
Nicht lange, so war es dem Deutschen, als ob er leise Stimmen flüstern höre. Er verdoppelte seine Vorsicht. Sein Auge hatte sich jetzt einigermaßen an die Dunkelheit gewöhnt, und so gewahrte er den Alten hart hinter einer Bank, welche unter den ersten Bäumen, von denen die Lichtung eingefaßt wurde, stand, auf der Erde liegen. Müller näherte sich und legte sich seitwärts der Bank an einen Baumstamm nieder. Er lag jetzt der Bank näher als der Capitän und konnte die Unterhaltung der beiden Personen, welche darauf saßen, jedenfalls auch besser hören als dieser.
Sie bestand aus einem glühenden Liebesdialog. Der Director, den die Baronin hier nun wirklich gefunden hatte, war nicht so zurückhaltend wie der Deutsche vorher, und so konnte dieser sich sehr leicht denken, mit welchem Grimm der Alte dieses Zwiegespräch belauschen möge.
Da, da erhob sich der Letztere und trat mit einem raschen, weiten Schritte vor die Beiden hin.
»Guten Abend, Frau Tochter! Guten Abend, Herr Director!« sagte er.
Der Director fuhr empor, starrte den Alten an und sprang dann eiligst davon. Er kannte ihn genau und mochte daher seine Nähe unter den obwaltenden Umständen für gefährlich halten. Die Baronin aber konnte vor Schreck weder laufen noch stehen. Sie versuchte zwar, sich zu erheben, sank aber mit einem matten Laute wieder nieder.
»Das sind nun wieder einmal die richtigen Dorfmädchenstreiche!« höhnte der Alte.
Sie nahm sich gewaltig zusammen und antwortete:
»Was thun Sie hier? Woher kommen Sie? Welche Worte erlauben Sie sich?«
»Ah, die Frau Tochter hat wohl nur den schönen Frühlingsabend genießen wollen?« fragte er mit dem häßlichsten Lachen, welches man nur hören kann.
»Was anders?«
»Und sitzt hier in den Armen meines Directors!«
»Lügen Sie nicht!« fuhr sie auf.
»O, ich habe es gesehen! Meine Augen sind alt aber gut!«
»Aber wissen Sie auch, wie es gekommen ist?«
»Ah, ich bin ganz begierig, Ihre Erklärung zu hören!«
»Sie sollen sie hören, um zu erfahren, wie sehr Sie mich beleidigen! Ich kam hierher, um den Abend zu genießen. Da erhob sich gerade vor mir eine dunkle Gestalt von der Bank. Ich erschrak natürlich und wurde ohnmächtig. Der Director – denn dieser war es – fing mich auf. Als ich erwachte, standen Sie vor mir. Das ist Alles!«
Sie hatte versucht, ihren Worten den Ton gekränkten Stolzes zu geben; aber bei diesem Manne verfing dies nicht. Er verschlang die Arme über die Brust und sagte:
»Warum sind Sie nicht zum zweiten Male in Ohnmacht gefallen, als die zweite Gestalt vor Ihnen stand? Entweder steht Ihnen nur eine einmalige Ohnmacht zur Verfügung, oder die erste existirt nur in Ihrem lügenhaften Kopfe. Wie kann überhaupt von einer Ohnmacht die Rede sein bei einem Bauernmädchen, welche mit Nerven begabt ist, die nur mit Wagenstricken zu vergleichen sind!«
»Herr, beleidigen Sie mich nicht weiter!«
»Pah! Scherzen Sie nicht mit mir! Ich habe mich eine volle Viertelstunde lang hier befunden, und jedes Wort gehört, welches gesprochen wurde. Ich habe jeden Seufzer gezählt, welchen Ihnen die überfließende Liebe entführte, und jeden Kuß, den Sie gaben und bekamen. Ich habe in meiner Jugend auch geküßt, aber dabei möglichst jedes überflüssige Geräusch vermieden. Warum klatschen Sie wie ein Postkutscher, Madame?«
Sie war bei dieser mehr als drastischen Ironie des Alten jetzt wirklich einer Ohnmacht nahe, trotz der starken Nerven, mit denen sie begabt sein sollte.
»Sie werden unverschämt!« schluchzte sie.
»Ah, pah! Ihnen gegenüber muß man es sein!« höhnte er. »Und wenn Sie weiter leugnen wollen, so will ich Ihnen sagen, daß der Director heute früh bei Ihnen war, ehe er mich aufsuchte –«
»Was geht Sie das an?« unterbrach sie ihn.
»Daß Sie sich da über die gegenwärtige Zusammenkunft verabredeten –«
»Lügner!«
»Und daß Sie ihm beim Abschiede Ihre schönen Lippen boten, als er sich nur begnügen wollte, Ihre Hand zu küssen.«
»O, wer errettet mich von diesem Teufel!« rief sie.
»Sagen Sie das Wort nicht noch einmal, sonst schlage ich Sie zum zweiten Male nieder, wie ich Sie bereits einmal heute niedergeschlagen habe!«
Er erhob wirklich den Arm, als ob er zuschlagen wolle, und schon machte Müller sich bereit, aufzuspringen, um eine solche Rohheit zu verhindern, da ermannte sich die Baronin. Sie schnellte von ihrem Sitze empor und eilte davon.
»Sie mag gehen, immer gehen,« brummte der Alte, »mir entgeht sie doch nicht!«
Er wendete sich um und schritt davon, dem Häuschen wieder zu. Müller folgte ihm auf dem Fuße, denn jetzt bot sich vielleicht die beste Gelegenheit, zu sehen, wie der geheime Aus- und Eingang geöffnet werde.
Als er bei der Parkhütte ankam, war der Capitän bereits eingetreten. Müller schlich sich näher. Er stand vor dem einen Fenster, welches gerade in Höhe seines Kopfes angebracht war. Da flammte drinnen ein Lichtschein auf. Der Alte stand im Begriff, eine Laterne anzuzünden. Er fühlte sich so sicher, daß er sich gar nicht die Mühe gab, vorher die Läden zu schließen, damit das Licht nicht von Außen bemerkt werden könne. Dann faßte er nach einem Nagel, welcher scheinbar zu irgend einem anderen Zweck in die Wand geschlagen war, und schob nach der linken Seite zu. Einige Bretter wichen zurück. Sie bildeten, unter einander fest verbunden, eine Thür, welche auf Rollen ging, ganz so, wie Müller vermuthet hatte.
Der Capitän trat in die entstandene Oeffnung, und schob die Thür von Innen wieder vor. Sie schloß so genau wie vorher. Man mußte das gesehen haben, was Müller beobachtet hatte, sonst wäre man sicher nicht auf den Gedanken gekommen, daß diese Stelle der Wand eine Thür bilde.
Der Deutsche schlich sich augenblicklich durch die Thür in das Häuschen hinein, und legte sich dort mit dem Ohre auf den Boden nieder, um zu lauschen. Er hörte unter sich dumpfe Schritte, welche nach und nach verhallten.
Sollte er folgen? Gewiß! Vielleicht fand sich niemals wieder eine so gute Gelegenheit, den Capitän zu beobachten.
Er zog also seine Laterne auch hervor und brannte das Licht in derselben an. Dann schob er die Thür ganz in derselben Weise zurück, wie es der Alte gethan hatte. Als er hineingetreten war, sah er eine schmale Treppe, welche in gerader Richtung in die Tiefe führte. An der Innenseite der Thür gab es einen zweiten Nagel, welcher als Handhabe diente, sie wieder zu verschließen. Müller that dies und stieg dann die Treppe hinab, während er in der einen Hand die Laterne, und in der anderen den Revolver hielt. Es waren über zwanzig Stufen, welche er zu steigen hatte. Dann kam er in einen größeren, viereckigen Raum, in welchem allerlei Hacken, Schaufeln und andere Geräthe lagen, deren Zweck ihm erst in späterer Zeit einleuchtete.
Dieser Raum hatte zwei Ausgänge, einen nach dem Schlosse zu, welcher gar keine Thür zeigte, und einen nach dem Walde zu, welcher durch ein starkes, mit Eisenblech beschlagenes Thor verschlossen war. Der unterirdische Weg nach dem Schlosse hin bestand aus einem Stollen, welcher eine Höhe von sieben Fuß und eine Breite von fünf Fuß hatte. Er war aus Backsteinen gewölbt und schien sehr trocken zu sein. Müller beschloß, ihm zu folgen.
Da der Capitän gar nicht weit vor ihm sein konnte, so steckte er die Laterne in die Tasche, und schritt im Dunkeln weiter. Nur zuweilen zog er sie ein klein Wenig heraus, um einen schnellen Lichtblitz auf seinen Weg fallen zu lassen, und sich dadurch zu vergewissern, daß er keiner Gefahr entgegengehe.
So kam er, da er sich mit beiden Händen an den Seitenwänden stützen konnte, sehr schnell vorwärts, und sah schließlich einen Lichtschein vor sich auftauchen. Da vorn ging der Capitän. Müller trat so leise wie möglich auf, um nicht gehört zu werden, konnte aber die Schritte des Alten, dem er sich immer mehr näherte, ganz deutlich vernehmen.
Auf diese Weise hatte er eine weite, weite Strecke zurückgelegt, als er fühlte, daß die Wände jetzt aus harten Steinen bestanden. Er befand sich jedenfalls unter dem Schlosse. Und nun blieb auch der Alte längere Zeit an einem Punkte halten, von welchem aus sein Licht nach oben verschwand.
Bis ungefähr dorthin folgte Müller im Dunkeln. Dann zog er seine Laterne hervor. Er bemerkte beim Scheine derselben, daß er sich in einem eigenthümlich angelegten Gemäuer befand, von welchem aus schmale Treppen nach mehreren Seiten emporführten. Er erkannte sofort, daß hier alle geheimen Gänge des alten Schlosses zusammenstießen; es mußte da eine große Anzahl Doppelmauern geben.
Noch hörte er die Schritte des Alten über sich. Er folgte ihm mehrere Stockwerke hoch auf einer nur zwei Fuß breiten Treppe, bis er plötzlich einen sehr hellen Lichtfleck vor sich sah und zwei Stimmen hörte, welche mit einander sprachen. Er steckte seine Laterne ein und schlich näher. Je näher er kam, desto deutlicher erkannte er die Stimmen; es waren diejenigen des Capitäns und des Directors.
Die helle, viereckige Lichtstelle fiel durch eine Oeffnung in der Seitenmauer. Müller wagte es, sich bis an den Rand dieser Oeffnung heranzuschleichen, und konnte nun die ganze Scene überblicken.
Er befand sich hinter einer Wand des Zimmers, welches der Director bewohnte. Dieses Zimmer war mit Eichenholz getäfelt, und ein Fach der Täfelung bildete eine geheime Thür, welche jetzt geöffnet war. Der Director stand mit sichtlich erschrockenem Gesicht vor dem Alten, der durch die Mauer erschienen war wie ein Geist. Der Director konnte sich dies nicht erklären.
»Ueberwinden Sie Ihren Schreck! Sie sehen ja, daß ich kein Gespenst bin.«
Diese Worte des Capitäns waren die ersten, welche Müller deutlich hörte.
»Aber, gnädiger Herr, wie kommen Sie zu mir?« stammelte der Director.
»Durch diese geheime Thür. Sie sehen es ja!« antwortete der Alte. »Ich habe es vorgezogen, auf diesem ungewöhnlichen Wege zu erscheinen, weil auf diese Weise von Niemand bemerkt wird, daß wir so spät noch eine Unterredung haben. Sie ahnen, über welchen Gegenstand?«
»Ich möchte doch lieber vorher nach demselben fragen, gnädiger Herr!«
»Schön! Aber setzen Sie sich, Herr Director; Sie zittern ja am ganzen Körper! Was ists mit Ihnen?«
Seine Worte klangen gar nicht zornig oder höhnisch, wie man hätte erwarten können; sie waren sogar in einem theilnehmenden Tone ausgesprochen.
»O, es ist ja nur der Schreck, der mich überfiel, als diese Wand sich theilte, und Sie hereintraten. So etwas erwartet man doch nicht.«
»Ich kann allerdings begreifen, daß Sie erschrocken sind. Welcher Schreck war denn übrigens größer, der jetzige, oder der unten im Garten?«
»Gnädiger Herr –« stammelte der Director, blieb aber in der Rede stecken.
»Na, Sie waren ja im Garten! Nicht?«
»Allerdings,« gestand der Gefragte.
»Bei meiner Schwiegertochter?«
»Ja.«
Der Director wurde von Secunde zu Secunde bleicher. Der Alte schien dies nicht zu beachten. Er fuhr im freundlichsten Tone fort:
»Der heutige Tag ist ein eigenthümlicher. Ich habe da mehr sprechen müssen, als sonst in einem Monat und Sie wissen ja, daß ich das nicht liebe. Aber es giebt Dinge, welche man nicht unbesprochen liegen lassen kann. Warum liefen Sie denn eigentlich im Garten davon, Herr Director?«
»Weil – weil – ich dachte –« stammelte der Gefragte in höchster Verlegenheit.
»Weil Sie dachten, ich könne diese Scene einer falschen Deutung unterwerfen, meinen Sie? Nun, die Frau Baronin hat mich aufgeklärt. Sie hat den Abend genießen wollen, und Sie sind aus ganz demselben Grunde nach dem Garten gegangen. Meine Frau Tochter ist über Ihr Erscheinen so erschrocken gewesen, daß sie in Ohnmacht fiel, und Sie haben sich ihrer ritterlich angenommen. Das hat sie mir erzählt, als Sie fort waren.«
Dem Director fiel bei diesen Worten ein schwerer Stein vom Herzen. Der Alte fuhr fort:
»Ich will gestehen, daß ich Ihnen für einen Augenblick lang im Herzen Unrecht gethan habe; aber daran war Ihre plötzliche, unmotivirte Flucht schuld. Warum rissen Sie aus? Das mußte doch Verdacht erwecken! Ich bitte Ihnen hiermit meinen Verdacht ab und werde ihn sogleich gut machen. Haben Sie Papier bei der Hand?«
»Genug,« antwortete der Director aufathmend.
»So nehmen Sie einen halben Bogen und fertigen Sie mir das Blanquet einer Quittung aus. Ich habe Ihnen heute eine Gratification versprochen. Wo ist das Geld, welches Sie wieder mit fortnehmen mußten?«
»Hier, in meinem Schreibtische.«
»Zählen Sie es auf!«
Müller sah, daß der Director das Geld aus dem verschlossenen Fache nahm, und da es mit lauter Stimme aufgezählt wurde, so hörte er es deutlich, wie viel es war. Es waren die beiden Summen, von denen der Director heute gesprochen hatte. Dieser Letztere bemerkte am Schlusse:
»Diese beiden Firmen sind stets so vorsichtig, die Nummern ihrer Noten einzutragen und die Letzteren außerdem zu zeichnen. Sie sehen auf jeder einzelnen die betreffenden Buchstaben, gnädiger Herr.«
»Das mag für gewisse Fälle gut sein,« meinte der Veteran trocken. »Doch nun das Blanquet, Herr Director!«
»Warum Blanquet, gnädiger Herr? Wollen Sie nicht die Gewogenheit haben, das Document gleich fertigen zu lassen?«
»Ich habe mich noch nicht entschlossen, welche Summe ich Ihnen aussetzen werde. Ich will erst morgen nachsehen, was und wie in den letzten Tagen gearbeitet worden ist. Setzen Sie einfach das Datum, nämlich das heutige, unten in die linke und Ihren Namen in die rechte Ecke.«
»Ganz wie Sie befehlen, Herr Capitän!«
Er schrieb Namen und Datum in die beiden Ecken und reichte dann das Blatt dem Alten hin. Dieser betrachtete die Unterschrift genau und sagte sodann in einem ganz und gar veränderten Tone:
»So, das genügt, freilich nicht, Sie zu belohnen, sondern Sie zu bestrafen!«
Der Director blickte ihn überrascht an und fragte:
»Bestrafen? Verstehe ich recht, gnädiger Herr?«
»Sie haben ganz und gar richtig gehört. Sie sollen bestraft werden, sagte ich.«
»Wofür?«
»Erstens dafür, daß Sie es wagen, Ihre Hand nach der Baronin auszustrecken.«
»Ah, Sie haben doch soeben selbst gesagt, daß die Frau Baronin so gnädig gewesen sei, Sie über die Situation aufzuklären.«
»Hm, sie hat es freilich versucht, aber ich bin nicht der Mann, der sich von einem Weibe betrügen läßt. Ich weiß Alles, Alles, mein Herr!« lachte der Alte höhnisch.
*