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Fortsetzung 4

Der Director erbleichte, als er die Mittheilung des Capitäns vernahm, versuchte aber dennoch, sich zu vertheidigen.

»Da muß ein großer, beklagenswerther Irrthum vorwalten, Herr Capitän.«

»O, nicht im Geringsten! Ich habe hinter der Bank gestanden und Ihre ganze Unterhaltung mit angehört. Uebrigens sehen Sie jetzt, daß ich geheime Gänge und Beobachtungspunkte habe. So gelang es mir, alle Zusammenkünfte, welche Sie mit dieser Baronin in deren Boudoir hatten, zu belauschen.«

Der Director sank auf den Stuhl zurück und schloß vor Schreck die Augen.

»Noch heute Früh,« fuhr der Alte in strengstem Tone fort, »hörte ich, daß Sie sich für den Abend in den Park bestellten. Ebenso verstand ich jedes Wort, was Sie über mich sprachen. Ich brachte da zum Beispiel in Erfahrung, daß Sie nur durch die Liebe zur Baronin in Ihrer gegenwärtigen Stellung festgehalten werden. Sagen Sie da gefälligst selbst, ob dies Belohnung oder Strafe verdient?«

»Gnädiger Herr,« rief da der Mann entsetzt, »ich habe Ihnen treu gedient; ich bin es gewesen, der Ihr Etablissement zu dem gemacht hat, was es ist!«

»Treu gedient? Hahaha! Hier kommt das Zweite, wofür ich Sie bestrafen muß!«

»Was ist es?« fragte der Director voller Angst. Er kannte den Alten; er wußte, daß bei ihm von Nachsicht keine Rede sei. Er begann, Alles zu befürchten.

»Da ich hörte, daß Sie nur durch die Baronin festgehalten werden, so hatte ich das Recht, Ihnen zu mißtrauen. Ich beschloß also, Ihre Effecten zu durchsuchen.«

»Ah! Sie hatten kein Recht dazu!«

Jetzt gewann der Director seinen Muth wieder. Sie standen sich Mann und Mann gegenüber; da war Einer so viel werth wie der Andere. Er beschloß, sich zu wehren.

»Schweigen Sie!« gebot der Alte. »Sie sehen, daß ich heimlich in Ihre Wohnung treten kann. Sie wissen ferner, daß Sie kein Eigenthum hier besitzen, daß alle diese Möbels mir gehören. Ich habe zu ihnen, selbst zu den geheimen Fächern, Doppelschlüssel. Während Sie im Parke Ihre Courtisane erwarteten, trat ich durch diese Thür in Ihre Wohnung ein, und durchsuchte die geheimen Fächer Ihres Schreibtisches. Wissen Sie, was ich gefunden habe?«

Der Director erkannte, daß ein Leugnen gar nichts helfen könne. Am Besten war hier die Frechheit am Platze; darum trat er auf den Alten zu und sagte drohend:

»Sie haben es wirklich gewagt, in meine Wohnung einzudringen?«

»Allerdings!« lachte der Veteran. »Haben Sie Etwas dagegen, Monsieur?«

»Das wird sich finden! Nun, was haben Sie denn entdeckt, Herr Capitän?«

»O, Verschiedenes! Aber ich will Ihnen nur das Eine vorlesen!«

Er zog einen Brief aus der Tasche, entfaltete ihn und las:

»Herrn Fabrikdirector Metroy in Ortry.

»Auf hohen Befehl ist Ihnen mitzutheilen, daß man nicht gesonnen sein kann, von Ihrer Offerte Gebrauch zu machen. Wenn es in Frankreich wirklich geheime Waffenplätze giebt, welche angelegt werden, um Franctireurs und andere Rotten auszurüsten, so kann dies eine Regierung nicht wankend machen, welche mit Ihrem Kaiser im besten Einvernehmen steht.

»Wir sehen übrigens auch davon ab, Ihren Behörden von Ihrem Anerbieten irgend welche Mittheilung zu machen, werden jedoch Ihr Schreiben für spätere Fälle bei uns in sorgsame Verwahrung nehmen.«

Die Augen des Capitäns funkelten, als er diesen Brief, dessen Unterschrift er nicht mit vorgelesen hatte, wieder in die Tasche steckte. Er knirschte:

»Sie haben also unser glorreiches Unternehmen für schnödes Geld verrathen wollen!«

»Nur aus dem Grunde, weil Sie knausern, und mich nicht bezahlen wollen,« antwortete der Director.

»Sie gestehen es also ein?«

»Warum nicht?« fragte der Mann, indem er gleichmüthig die Achseln zuckte.

»Ah, wissen Sie, daß ich der Arrangeur des ganzen Werkes bin? Daß Alle mir Treue geschworen haben, und daß ich jede Untreue bestrafen werde?«

»Pah, mich können Sie nicht bestrafen!« lachte der Director.

»Warum nicht?«

»Weil Ihr ganzes Lager sich in meiner Hand befindet. Sie haben mich vorhin erschreckt, weil ich mich wirklich schuldig fühlte, aber dieser Schreck hat nicht lange gedauert. Sie glauben, mein Meister zu sein, aber ich bin der Ihrige. Ich habe mich vorgesehen. Was verstehen Sie von Chemie, von Galvanismus, von Electricität! Dieses Zimmer steht mit den Eisenwerken und dem Lagerraume in electrischer Verbindung. Es bedarf nur eines einzigen Griffes, eines leisen Druckes, so fliegt Alles in die Luft, Ihre Fabriken und Ihre sämmtlichen Vorräthe. Dann mögen Sie Ihre Franctireurs gegen Deutschland bewaffnen, wenn Sie können!«

»Alle Teufel!« rief der Alte, welcher doch gewaltig erschrak.

»Sie sehen jetzt, wie die Sachen stehen,« fuhr der Director in stolzem Tone fort, denn er war überzeugt, daß jetzt er es sei, der die Trümpfe in der Hand hielt. »lch mag mit Ihnen nichts mehr zu thun haben, da aber das Werk zum großen Theil auch das meinige ist, so möchte ich es nicht gern zerstören. Als ich mein Geheimniß dem Feinde zum Verkaufe anbot, war es mir darum zu thun, meine Mühen anständig belohnt zu erhalten. Zahlen Sie mir das, was ich von Denen da drüben gefordert habe, so will ich zufrieden sein, und Sie mit dem Versprechen verlassen, von jeder Feindseligkeit abzusehen. Ich habe Ihnen meine Kenntnisse und Erfahrungen geliehen; ich habe Tag und Nacht gearbeitet; ich darf auch meine Gratification verlangen.«

Die Augen des Alten zogen sich zusammen, und sein Schnurrbart stieg empor, um die Zähne sehen zu lassen, aber er beherrschte sich und fragte im möglichst ruhigen Tone:

»Welchen Preis haben Sie von den Deutschen verlangt?«

»Pah, wenig genug! Nur hunderttausend Francs. Sie werden ihre Knauserei mit vielen tausend Leben bezahlen müssen, falls Sie sich entschließen, diese Summe zu bezahlen.«

»Ich hoffe das; ich hoffe es! Es kommt die Zeit, in der wir einfordern werden, was diese Blücher's, Gneisenau's und York's von uns liehen! Also meine Eisenwerke stehen wirklich mit diesem Zimmer in electrischer Verbindung?«

»Ja. Ein Druck von mir, und der electrische Funke entzündet unsere ganzen Pulver- und Dynamitvorräthe.«

»Sie geben mir Ihr Ehrenwort, daß Sie mir die Wahrheit sagen?«

»Ich gebe es. Sobald ich die Summe in den Händen habe, werde ich Ihnen die Leitung zeigen, damit sie zerstört werden kann.«

»O nein, Sie sind gegenwärtig ein verzweifelter Mensch. Wie nun, wenn ich Ihnen die Hunderttausend zahle, und Sie sprengen dennoch Alles in die Luft?«

»Mein Ehrenwort muß Ihnen Bürgschaft sein, daß ich es nicht thue.«

»Hm! Wenn man es nur glauben dürfte!« Er nahm eine sehr nachdenkliche Miene an, aber seine Augen glänzten in einem unheimlichen Lichte. Dann fügte er hinzu: »Es ist eine Summe, die gegenwärtig fast über meine Kräfte geht; doch, um das Unternehmen zu retten – hm! Die allgemeine Kasse müßte mit beitragen.«

Dabei gingen seine Blicke unbemerkt suchend im Zimmer herum. Wenn sich wirklich ein geheimer Apparat hier im Zimmer befand, so konnte er sich nur im Kleidersecretär oder überhaupt in der Nähe der hinteren Wand des Zimmers befinden; denn eine Leitung an der vorderen, offenen Front des Schlosses frei hinunter zu legen, das wäre ja unvorsichtig gewesen, da sie dort sofort entdeckt werden mußte. Es galt also, den Director in der Nähe des Fensters zu halten. Dort stand der Schreibtisch, dessen sämmtliche Kästen und Fächer vom Capitän heute durchsucht worden waren; dort war nichts zu fürchten.

Der Alte setzte sich an den Schreibtisch, nahm das Blanquet aus der Tasche, in welche er es vorhin gesteckt hatte, und sagte unter heftigem Zucken seiner Schnurrbartspitzen:

»Wie die Arbeit, so der Lohn. Sie sollen Ihren Willen haben!«

»Sie wollen mir die Hunderttausend geben?« fragte der Director erfreut.

Der Alte nickte mit dem Kopfe und antwortete:

»Ich werde Ihnen zahlen, was Sie verdienen. Lesen Sie nachher selbst. Ihre Quittung steht ja bereits darunter.«

Er griff nach der Feder, um das Blanquet auszufüllen. Als er damit fertig war, erkundigte er sich noch:

»Haben Sie unser Geheimniß sonst noch Jemandem angeboten?«

»Nein.«

»Haben Sie bei dieser einzigen Offerte eine Andeutung gemacht, aus welcher man errathen könnte, wo unsere Vorräthe zu finden sein dürften?«

»Halten Sie mich für einen Dummkopf? Meinen Zeilen nach muß man das Lager in der Nähe von Straßburg vermuthen.«

Müller hörte jedes Wort. Er wußte am Besten, daß diese Ansicht des Directors eine völlig falsche sei. Der Alte schien befriedigt; er trat vom Schreibtische fort, auf welchem er das ausgefüllte Blanquet liegen ließ, deutete auf dasselbe und sagte:

»So sind wir einig. Gehen Sie her und lesen Siel«

Er schritt langsam nach dem hinteren Raume des Zimmers, um denselben zu bewachen, da er dort die electrische Leitung vermuthen mußte. Der Director war ebenso erstaunt wie erfreut, den Alten so leicht besiegt und zur Zahlung einer solchen immerhin bedeutenden Summe gezwungen zu haben. Er setzte sich an den Schreibtisch und nahm das Document in die Hand. Dies that er natürlich in der sicheren Meinung, daß es eine Quittung auf Hunderttausend Francs enthalte; zu seinem Erstaunen jedoch las er folgende Zeilen:

»Ich bescheinige hiermit voller Reue und der Wahrheit gemäß, daß ich die heute an meinen Principal auszuzahlenden beiden Summen drückender Schulden halber unterschlagen und zu meinem Nutzen verwendet habe. Möge Gott mir verzeihen, daß ich mit diesem Verbrechen aus dem Leben gehe!«

Darunter stand das Datum und sein Name, welches Beides er bereits vorhin unterzeichnet hatte. Er war einen Augenblick völlig starr vor Erstaunen, dann fragte er:

»Was soll dies heißen, Herr Capitän?«

»Daß ich dennoch Ihr Meister bin, Sie aber nicht der meinige,« lachte der Gefragte höhnisch, »obgleich Sie vorhin das Gegentheil behaupteten. Sie werden keinen Sou erhalten; Sie werden Ihren Verrath und die Verführung der Baronin büßen ganz so, wie ich es mir heute Morgen vorgenommen hatte!«

»Und Sie meinen, ich sollte mich vor Wuth darüber ersaufen oder vergiften?«

»Das wird sich finden!«

»Da irren Sie sich! Sie sind ein Lügner, ein Schurke! Ich werde Ihnen beweisen, daß ich Sie in Hinsicht auf die electrische Leitung nicht getäuscht habe. Ich frage Sie zum letzten Male: Wollen Sie die Hunderttausend bezahlen oder nicht?«

»Keinen einzigen Franken, keinen Sou!«

»So passen Sie auf, wie es krachen wird!«

Er sprang nach dem hinteren Theil des Zimmers, wo der Capitän stand.

»Ja, passen Sie auf, wie es krachen wird!« antwortete dieser. »Aber nicht meine Eisenwerke werden in die Luft gehen, sondern Ihr dummer Kopf!«

Er hatte im Nu die Pistole hervorgezogen und drückte ab. Der Director stürzte mit zerschmettertem Schädel zu Boden. Der Mörder bückte sich zu ihm nieder, um sich zu überzeugen, daß er todt sei, und trat dann nochmals an den Schreibtisch, um das Document so zu legen, daß es sofort in die Augen fallen mußte. Das Geld hatte er bereits eingesteckt. Dann eilte er durch die verborgene Thür hinaus und brachte das Täfelwerk wieder in Ordnung.

Traf er dort den Deutschen an, welcher da gestanden und Alles gehört und gesehen hatte? Nein. Müller hatte natürlich keine Ahnung gehabt, daß diese Unterredung einen solchen Verlauf nehmen werde. Besonders der letzte Theil hatte sich mit einer so rapiden Schnelligkeit entwickelt, daß der Mord zehnfach schneller ausgeführt wurde, als er gelesen werden kann. Sollte der Deutsche beispringen, da nun doch nichts mehr zu ändern war? Nein; das wäre die allergrößte Unklugheit gewesen. Er mußte vor allen Dingen an seine Aufgabe denken; es galt zunächst, unbemerkt fortzukommen. Kaum war der Schuß gefallen, so riß Müller seine Laterne hervor und stieg in fliegender Eile die engen Treppen hinab, denn er sagte sich, daß auch der Capitän das Zimmer verlassen werde, da der Schuß ja alle Bewohner aus dem Schlafe wecken mußte.

Er kam glücklich da unten an, wo die geheimen Treppen alle zusammenführten, und eilte in großen Sprüngen den unterirdischen Gang entlang nach dem Parkhäuschen zu. Nachdem er dort den geheimen Eingang in Ordnung gebracht hatte, verlöschte er die Laterne, ohne welche eine so schnelle unterirdische Flucht eine Unmöglichkeit gewesen wäre, und eilte dann dem Schlosse zu.

Dort angekommen, sah er, daß bereits viele Fenster erleuchtet waren, doch befand sich zu seiner Freude noch Niemand im Hofe. Er schwang sich am Blitzableiter empor. An den Fenstern der zweiten Etage angekommen, warf er einen Blick in das Zimmer des Capitäns. Dieser trat unter die Thür, mit ungekämmtem Haar und Bart, im Schlafrock, Nachthosen und Pantoffeln, das Nachtlicht in der Hand, und examinirte einen Diener. Wer ihn so sah, der schwor darauf, daß er direct aus dem Bette komme. Es wollte dem Deutschen vor diesem Alten grauen.

Er langte glücklich und unbemerkt auf dem Dache und dann auch in seinem Zimmer an, wo er sich schleunigst seiner Verkleidung entledigte und sich so anzog, daß er für einen aufgestörten Schläfer gehalten werden mußte, der in der Eile nur die allernöthigsten Kleidungsstücke angelegt hatte.

Er ging dann, um sich die Aufregung der Leute zu betrachten. Das Zimmer des Directors war voller Menschen, eben so der Platz vor demselben. Der Capitän hatte bereits nach den Herren von der Justiz geschickt, welche sich heute im Schlosse befanden. Diese kamen und fanden das letzte Schreiben des Todten.

Der Capitän wurde gefragt; er erklärte, daß er gar nicht wisse, daß Geld angekommen sei, man solle die Bücher nachschlagen. Der Thatbestand wurde sofort gerichtlich aufgenommen und die Leiche aus dem Schlosse geschafft. Dann suchte man die unterbrochene Ruhe wieder auf.

Auch die Baronin war vom Schusse erwacht und nach der Unglücksstätte geeilt. Doch mochte sie die Leiche nicht sehen. Der Tod dieses Mannes erschütterte sie, doch nur für einen Augenblick; im nächsten dachte sie bereits an den geheimnißvollen Officier, an dessen Herzen sie gelegen hatte. Als sie sich wieder nach ihrem Zimmer begeben wollte, traf sie auf der Treppe den Capitän. Da kein Mensch zugegen war, konnte er es nicht unterlassen, Ihr zuzurufen:

»Ein schöner Geliebter! Nicht, Madame?«

Sie wich von ihm zurück, streckte abwehrend beide Hände aus und sagte:

»Mörder! Aber es wird an den Tag kommen!«

Ein halblautes Hohnlachen war die Antwort des hart gesottenen Alten, der mit so kalter Berechnung ein Menschenleben vernichtet hatte. –

Was Müller betrifft, so konnte er lange Zeit keinen Schlaf finden. Dieser erste Tag auf Ortry war einer der ereignißreichsten seines Lebens gewesen. Erst die Unterredung mit der Wirthin, dann die Rettung Alexander's, sein Empfang, seine Probe, die Entdeckung des verborgenen Lauscherpostens in seinem Zimmer und des geheimen Einganges im Parkhäuschen, das Liebesabenteuer mit der Baronin und endlich die Mordscene in der Wohnung des Directors. Das war mehr als genug an einem Tage.

Am Meisten beschäftigte ihn die letzte Scene. Sollte er den Mörder anzeigen? Moralisch hatte er jedenfalls die Verpflichtung dazu; aber waren die Gründe der Klugheit nicht noch zwingender als diejenigen des moralischen Gewissens? Sollte er seine heutigen Errungenschaften alle opfern und das Gelingen seiner wichtigen Sendung zur Unmöglichkeit machen, um einen Todten zu rächen, dessen Leben nicht zurückgerufen werden konnte? Konnte er Marion's Großvater als Mörder an den Pranger stellen? Würde man seiner Aussage Glauben schenken? Er war ein verhaßter Deutscher und der Angeklagte ein Officier der berühmten Garde, ein Ritter der Ehrenlegion! Konnte er Beweise bringen? Man konnte sich zwar von dem Vorhandensein der geheimen Thür überzeugen, aber was weiter? Der sicherste Beweis wären die gezeichneten Banknoten gewesen; aber wo hatte der Alte sie versteckt? Er hatte sie dieser Zeichnung wegen ganz sicher da verborgen, wo man sie nicht finden konnte. Uebrigens war der Ermordete das Alles werth? Er war ein Feind Deutschlands gewesen und sodann ein Verräther seines eigenen Vaterlandes geworden.

Was war das doch für eine Familie, diese Sainte-Marie's! War Marion, die Heißgeliebte, wirklich edler als die Anderen?

Diese Gedanken gingen ihm wirr im Kopfe herum, bis er endlich einschlief; aber noch im Schlafe peinigten sie ihn, und als er erwachte, fühlte er sich mehr ermattet als gestärkt von der nächtlichen Ruhe.

Bereits am frühen Morgen war auch der Capitän wach. Er ließ mehrere seiner besten Leute aus der Fabrik kommen, um sie nach dem Torpedo suchen zu lassen, aber all' ihr Scharfsinn war vergebens. Es wurde dem alten, furchtlosen Manne doch ängstlich zu Muthe. Wenn irgend Jemand ganz nichtsahnend die verhängnißvolle Leitung berührte, so war das fürchterlichste Unglück unvermeidlich. Da kam ihm ein Gedanke:

»Dieser Monsieur Müller hatte so feine Censuren in allen Wissenschaften. Ob nicht er entdecken könnte, was die Anderen nicht zu finden vermögen?«

So dachte er, und ließ nach dem Deutschen schicken. Müller kam. Der Alte empfing ihn mit einer Freundlichkeit, welche bei ihm ganz ungewöhnlich war, und fragte:

»Monsieur, haben Sie auch Electrotechnik studirt?«

»Ein Wenig, gnädiger Herr,« antwortete der Gefragte, welcher sogleich ahnte, aus welchem Grunde diese Frage an ihn gestellt wurde.

»Wissen Sie, daß man Pulverminen vermittelst der Electricität entzünden kann?«

»Sehr wohl, Herr Capitän!«

»Ist eine solche Mine leicht zu zerstören, oder die Leitung leicht zu finden und zu vernichten?«

»Das kommt ganz auf die Umstände an. Ich habe als Techniker bereits öfters Glück gehabt,« antwortete er, und sagte damit die Wahrheit, da er früher bei dem Geniecorps gestanden hatte.

»Ah, Monsieur, da muß ich Ihnen Mittheilung machen! Sie haben diesen Director gekannt, welcher sich erschossen hat?«

»Nur höchst flüchtig gesehen.«

»Nun, dieser Mann hatte den schrecklichen Plan, meine Eisenwerke in die Luft zu sprengen. In seinem Zimmer soll sich die Leitung befinden. Sie ist jedoch nicht zu entdecken. Wollen Sie einmal Ihren Scharfsinn versuchen?«

»Ich stehe Ihnen sehr gern zu Diensten, gnädiger Herr.«

»So kommen Sie!«

Sie begaben sich mit einander nach der Wohnung des Verstorbenen. Es schauerte Müller, als er da eintrat. Die Blutflecke hatten zwar weggewaschen werden sollen, waren aber noch nicht gewichen. Dort befand sich die geheime Thür, und hier stand der Schreibtisch, auf welchem das schauerliche Ende des Todten unterschrieben worden war.

»Giebt es eine Leitung hier, so ist sie nicht vorn, sondern hinten zu suchen,« sagte Müller.

Der Alte nickte mit sehr zufriedener Miene und sagte:

»Ganz auch meine Meinung, Monsieur. Suchen Sie!«

Müller ließ den forschenden Blick umherschweifen, und trat dann schnell zu der altmodischen Lyoner Wanduhr, welche vom Fußboden an bis gerade zur Decke reichte. Sie hatte ein schwarzes, wurmzerfressenes Gehäuse.

»Sehen Sie etwas?« fragte der Alte.

»Ich glaube, etwas gefunden zu haben, will mich aber vorher überzeugen.«

Er schob den Tisch an die Uhr, setzte einen Stuhl auf denselben, und stieg dann auf den letzteren, so daß er zwischen der Decke des Zimmers und dem oberen Boden des Gehäuses hindurch zu blicken vermochte; dann zeigte er nach der Decke empor und fragte:

»Wer wohnt dort oben?«

»Der Hausmeister.«

»Ah, mein Vorgesetzter!« lächelte Müller. »Befindet er sich noch da?«

»Ja, er war ein guter Unterofficier und ein treuer Hausmeister. Sie haben ihm das Gesicht zerhauen; ich werde ihn wieder curiren lassen, obgleich ich mir gerade das Gegentheil ausbedungen habe.«

»Hätte ich gestern gewußt, was ich heute sehe, so hätte ich ihm nicht nur das Gesicht zerhauen, sondern den Kopf abgeschlagen. Er ist der Mitschuldige des Directors.«

»Donnerwetter, ist's möglich!« rief der Alte ganz erschrocken.

Müller öffnete die Thür der Uhr, blickte in das Gehäuse und antwortete:

»Gnädiger Herr, Ihre Eisenwerke, so schwer sie sind, haben wirklich an einem einzigen Haar gehangen, und das Leben Ihrer Arbeiter dazu. Bitte, treten Sie näher!«

Und als der Capitän herbeigetreten war, zeigte er mit dem Finger an die eine Seite des Gehäuses und fuhr fort:

»Sehen Sie das einzelne Pferdehaar, welches hier außen herunter hängt? Es ist bei der Schwärze der Uhr kaum von ihr zu unterscheiden.«

Der Alte streckte die Hand aus, um nach dem Haare zu greifen.

»Um Gotteswillen nicht anfassen!« rief Müller, indem er ihm die Hand fortstieß. »Ziehen Sie nur im Geringsten daran, so fliegt Ihre ganze Fabrik in die Luft!«

»Ah, wahrhaftig, ein Haar,« sagte der Veteran. »Es führt oben in den Kasten.«

»Und da ist es mit einem außerordentlich dünnen Kupferdraht verbunden, der erst oben durch das Gehäuse geht und dann durch die Zimmerdecke. Der Intendant hat mit dem Director im Einvernehmen gestanden. Lassen Sie uns zu ihm gehen!«

Der Alte folgte dieser Aufforderung mit außerordentlicher Geschwindigkeit. Als sie die Treppe erstiegen hatten und oben eintraten, lag der Hausmeister in seinem Bette. Kein Mensch war bei ihm.

»Was soll das! Was will dieser Mensch bei mir?« rief er, als er mit seinem einen Auge den Deutschen erkannte.

»Das sollst Du Hallunke sogleich erfahren!« antwortete der Veteran. »Suchen Sie, Monsieur Müller!«

Müller kniete in der Ecke nieder, welche gerade über der Uhr des unteren Zimmers lag, suchte dann am Boden fort, öffnete das Fenster und blickte hinaus.

»Haben Sie es?« fragte der Capitän, brennend vor Ungeduld.

»Ja. Blicken Sie nur her, um sich selbst zu überzeugen! Hier in dieser Ecke tritt der Leitungsdraht in dieses Zimmer ein und geht unter der Dielenleiste längs der Wand bis an die Mauer der hinteren Schloßfronte. Hier ist ein dünnes Loch durch die Mauer gearbeitet, um den Draht hindurch zu lassen, der dann am Simse hin entlang der Fronte läuft. Ihn da anzulegen, hat viel Arbeit gekostet, zumal diese in aller Heimlichkeit vorgenommen werden mußte.«

Da konnte sich der grimmige Alte nicht länger halten. Er stürzte auf den Hausmeister zu, faßte ihn bei der Brust und donnerte ihn an:

»Hund, Kerl, wer hat Dir das gerathen?«

Das kam dem Manne so unerwartet, daß er unwillkürlich mit der Antwort herausplatzte:

»Der Director, gnädiger Herr!«

»Was hat er Dir geboten?«

»Fünftausend Franken.«

»Und Hunderttausend wollte er haben! Also für fünftausend Franken wolltest Du mich ruiniren und alle meine Leute morden! Heraus aus dem Bette! In das Gefängniß, wo Du hingehörst, Du Hallunke, Du – Du – Du Vorgesetzter Du!«

Der Alte wußte zwar nicht, was Müller mit diesem Worte gemeint hatte; aber er ahnte, daß eine negative Bedeutung mit demselben verbunden sei, und da er vor Wuth nichts anderes fand, so wendete er es an, um seinen ganzen Zorn auszudrücken.

Der Mann flehte jämmerlich, aber es half ihm nichts. Der Veteran klingelte einige Leute herbei, welche ihn ankleiden, fesseln und fortschaffen mußten. Erst nachdem dies geschehen war, wandte er sich wieder an Müller:

»Monsieur, Sie sind braver und klüger als das ganze Volk, welches ich bisher um mich hatte. Sie sind gerade nur zu unserer Rettung nach Ortry gekommen. Aber was nun?«

»Begeben wir uns nach unten, gnädiger Herr,« antwortete Müller, »damit wir sehen, wo der Draht in die Erde geht.«

Das thaten sie, und Müller fand, daß die Leitung unter einer Dachrinne herabgezogen war und hinter dem Rinnsteine in den Boden drang.

»Hier schneiden wir den Draht durch,« sagte er; »dann ist die hauptsächlichste Gefahr vorüber. Unter der Erde muß der Draht noch eine Umhüllung haben; er ist also stärker, so daß man ihm leicht folgen kann. In der Fabrik werden wir dann sehen, in welche gefährlichen Stoffe er geleitet wurde.«

Da antwortete der Capitän mit großer Schnelligkeit:

»So lange darf ich Sie nicht abhalten, Monsieur. Nun wir den Draht gefunden haben, ist das Uebrige leicht; dazu habe ich Arbeiter mehr als genug. Sie aber haben sich zunächst Alexander zu widmen.«

Müller verstand den Alten. Dieser wollte ihn, den Deutschen, nicht in das Getriebe seiner Pläne blicken, am Allerwenigsten aber ihm den aufgestapelten Munitionsvorrath sehen lassen. Er that, als ob er dies nicht ahne und kehrte in sein Zimmer zurück, zufrieden, den Beifall des Schloßherrn gefunden zu haben.

Dort suchte ihn Alexander auf, um ihn zu einem abermaligen Spaziergang aufzufordern. Müller willigte sehr gern ein, und unterwegs fand er, daß der Knabe sich immer fester an ihn schloß.

»Wissen Sie, Monsieur,« sagte Alexander, »daß man gezwungen ist, Sie lieb zu haben?«

»Warum?«

»Weil man Unglück hat, wenn man Sie haßt. Die Beiden, von denen Sie beleidigt wurden, sind bereits bestraft. Der Eine hat sich erschossen, und der Andere sitzt mit einer bösen Gesichtswunde im Gefängnisse. Ich werde die Leute warnen, Ihr Feind zu sein. Besonders werde ich dies Marion sagen.«

»Marion? Wer ist das?« fragte Müller, sich verstellend.

»Marion ist meine Schwester, meine halbe Schwester; aber sie ist doch so gut, als ob sie meine richtige Schwester wäre. Ich habe ihr sehr vielen Kummer bereitet; meist darum ging sie fort, denn ich verklagte sie immer bei Mama und dem Großpapa. Aber als ich gestern schlafen ging, da habe ich sehr lebhaft an sie gedacht, und da ist mir der Gedanke gekommen, daß ich recht schlimm gegen sie gewesen bin. Ich verspreche Ihnen, dies nie wieder zu thun, Monsieur!«

»Warum haben Sie denn gerade gestern diesen Gedanken gehabt?«

»Weil ich mit Ihnen spazieren gewesen bin. Sie predigen nicht; Sie geben keine guten Lehren, aber man fühlt bei Ihnen das, was Sie zu sagen unterlassen.«

Müller antwortete nicht, doch bückte er sich nieder und küßte den Knaben auf die Stirn. Er fühlte sich innerlich beglückt, diese Seele, welche bereits auf falsche Wege geführt worden war, bereits nach einem einzigen Tage gewonnen zu haben.

Sie drangen heute viel tiefer in den Forst ein, als gestern, tiefer und immer tiefer, bis sie auf ein Wirrsal von Felsen stießen, aus denen ein alter Thurm hervorragte.

»Was ist das für eine Ruine?« fragte Müller.

»Das ist Alt-Ortry gewesen,« antwortete Alexander. »Jetzt ist nur dieser eine Thurm noch übrig.«

»Wollen wir ihn nicht besteigen?«

»Ich möchte nicht.«

»Warum nicht?«

Der Knabe blickte ihm treuherzig in das Gesicht und antwortete:

»Weil ich auch hier nicht gut gewesen bin. Großpapa hat mir verboten, diese Ruine zu betreten, und doch habe ich es oft gethan. Nun aber möchte ich dies unterlassen. Aber wenn wir auch nicht hineingehen, das Grab können wir uns doch ansehen.«

Er wand sich zwischen den Felsen hindurch, und Müller folgte, bis sie vor einem Hügel standen, der, ungepflegt, mit allerlei Waldblumen bewachsen war. Daneben erhob sich ein mächtiger Felsblock, auf welchem die einfachen Worte: »Hier ruht Liama« kaum noch zu lesen waren.

»Diese Liama war die Mutter Marion's,« bemerkte Alexander. »Habe ich Ihnen übrigens bereits gesagt, daß Marion heute nach Hause kommt?«

»Noch nicht.«

»Ja, sie kommt. Wir hielten sie für todt, mit einem Dampfschiffe untergegangen; aber am frühen Morgen kam eine Depesche, daß sie am Mittag hier sein wird. Sie bringt eine Freundin mit.«

Der Knabe erzählte das in einem freundlichen, keineswegs aber herzlichen Tone. Die Bande dieser Familie waren ja sehr locker geschlungen.

»Wie wird man die gnädige Baronesse empfangen?« fragte Müller.

»Empfangen?« wiederholte Alexander verwundert. »Nun, die Diener werden ihr aus dem Wagen helfen, und dann geht sie nach ihrem Zimmer.«

»Ohne daß man sich freut, daß sie kommt, und ihr dieses sagt?«

Alexander sah ihn groß an und fragte dann:

»Ja, freut sie sich denn auf uns?«

»Gewiß sehr. Man müßte ihr nur zeigen, daß man sie liebt, daß sie willkommen ist.«

»Das möchte ich ihr sehr gern zeigen; aber wie soll ich es anfangen?«

Es that Müller sehr weh, daß das Herz dieses begabten Knaben so ganz unbepflanzt geblieben war. Er legte ihm die Hand auf den Kopf und sagte:

»Ich wüßte wohl etwas sehr Schönes. Hat die Baronesse ihre Mutter lieb gehabt?«

»O, sehr. Sie ist sehr oft nach diesem Grabe gegangen.«

»So wollen wir von diesen Blumen pflücken, und sie in ihr Zimmer setzen, damit sie, sobald sie kommt, einen Gruß von der Mutter erhält.«

Die Augen des Knaben glänzten.

»Ja, das wollen wir thun. Aber Niemand darf es wissen, sonst zanken die Anderen.«

Und nun saßen die Beiden am Grabe der Heidin, und sammelten Blumen für Diejenige, der Beider Herzen entgegenschlugen, das Herz des Einen in erwachender Bruderliebe, das des Anderen aber im heißen, vollbewußten Verlangen nach der höchsten Seligkeit des Erdenlebens.

Es war fast Mittag geworden, als sie nach Hause kamen. Auf dem Felde zwischen dem Schlosse und dem Etablissement erblickten sie zahlreiche Arbeiter, welche beschäftigt waren, die Leitung aus dem Boden zu nehmen. Sie gingen zunächst nach Müller's Stübchen, um die Blumen zu zwei Bouquets zu ordnen. Dann schrieb Alexander auf ein Papier die Worte: »Meiner lieben Marion vom Grabe ihrer Mutter. Alexander.« Und hernach trug er selbst die Bouquets nebst der Widmung nach dem Zimmer der Erwarteten, neben welchem man ein anderes für die Freundin bestimmt hatte.

Der Deutsche hatte sich sein Frühstück auf seine Stube kommen lassen. Er war noch mit demselben beschäftigt, als ein Wagen zum Thore hereinrollte. Rasch trat er an das Fenster und blickte hinab. Ja, da stieg sie aus, die Herrliche. Sein Herz schlug ihm in der Brust, daß er es hören konnte. In welche Umgebung kam sie? Würde sie bleiben, oder dem kalten Leben wieder entfliehen?

Eben als Nanon ausstieg, kam der Capitän herbei. Er reichte der Enkelin einfach die Hand und machte ihrer Freundin eine Verbeugung.

»Das Frühstück ist servirt,« sagte er. »Kommen die Damen nach dem Speisesalon?«

»In einer Viertelstunde, lieber Großpapa,« antwortete Marion. »Wir müssen doch erst den Reisestaub abfegen.«

»Gut, so warten wir!«

Damit ging er davon.

Das war der ganze Empfang nach einer mehrjährgen Abwesenheit. Eine tiefe Bitterkeit wollte in Marion's Herzen emporsteigen, aber sie zwang dieselbe tapfer hinab. Auch Nanon hatte ein anderes Willkommen erwartet, doch hatte sie die Freundin viel zu lieb, als daß sie es sich hätte merken lassen mögen.

Eine Dienerin führte Beide in das Schloß. Sie begaben sich zunächst nach Marion's Stube. Dort war Alles noch so, wie diese es vor Jahren verlassen hatte. Aber da, da standen zwei Bouquets mit einfachen Waldblumen, und zwischen den beiden Vasen lag ein Zettel.

»Meiner lieben Marion vom Grabe ihrer Mutter. Alexander,« las die Baronesse, und sofort füllten ihre Augen sich mit Thränen. »Von meiner lieben, lieben Mama!« rief sie. »Und Alexander hat sie gepflückt, der garstige Alexander, wegen dessen ich aus Ortry geflohen bin. O, wie lieb will ich ihn dafür haben!«

Sie barg das thränenreiche Antlitz in die einfachen Blumen, und Nanon trat in das Nebenzimmer, um sie mit ihren Gefühlen allein zu lassen. Beide hatten nicht bemerkt, daß sie den Eingang offen gelassen hatten. Dort stand Alexander und hörte die Worte der Stiefschwester. Wie schön war sie! Fast kannte er sie nicht mehr. Er fühlte eine Art geschwisterlicher Ehrfurcht in seinem Herzen aufsteigen; dennoch aber schlich er leise näher und legte die Arme um sie.

»Marion!«

Sie drehte sich zu ihm herum und erkannte ihn.

»Alexander!«

Sie breitete die Arme aus, und dann lagen die Geschwister einander am Herzen. Dieser Augenblick hatte für Alexander's Gemüthsleben eine unendliche Bedeutung. Indem Müller ihm den Rath gegeben hatte, diese Blumen zu pflücken, hatte er mehr für ihn gethan, als wenn er ihm tausend Reden gehalten hätte. Marion küßte den Bruder und sagte:

»Wie freudig hast Du mich überrascht, mein guter Alexander!«

»Ein Gruß von Deiner Mama, sagte Monsieur Müller,« erklärte er.

»Monsieur Müller! Wer ist das?« fragte sie.

»Mein neuer Gouverneur, ein Deutscher.«

»Ein Deutscher? O, das glaube ich! Die Deutschen haben ein Herz; sie wissen, daß die Liebe das herrlichste Gut der Erde ist.«

»Ohne ihn hätte ich nicht an diese Blumen gedacht. Diese Freude haben wir ihm zu danken, liebe Marion. Er ist auch schuld, daß ich Dich von jetzt an recht lieb haben werde. Doch, komm zum Frühstück; Mama wird sonst bös!«

Ein Schatten flog über Marion's schönes Gesicht.

»Ich könnte auch bös sein darüber, daß sie mir nicht einmal Willkommen sagt. Aber da sie unsere Mama ist, will ich nicht klagen.«

Die beiden Freundinnen nahmen sich also nicht Zeit, ihre Koffer bringen zu lassen, um neue Kleider anzulegen; sie begaben sich nach dem Speisesaale.

Dort befand sich der Capitän mit der Baronin allein. Sie erhoben sich. Das Auge der Baronin fiel auf ihre Stieftochter, und sofort wurde ihr Gesicht blaß. Vor zwei Jahren war Marion fast noch Knospe gewesen, jetzt aber hatte sie sich zur vollen Rose entwickelt. Die Baronin erkannte, daß sie sich mit ihr nicht messen, nicht vergleichen könne. Der bereits früher gefühlte Haß bohrte sich in diesem Augenblicke unausrottbar tiefer ein. Dennoch aber trat sie ihr entgegen, um sie zu umarmen; aber diese Umarmung hatte ganz den Charakter eines Frohndienstes, den man so schnell wie möglich zu überwinden sucht.

Auch Nanon wurde von der Herrin des Hauses bewillkommnet; dann begann man, wortlos zuzulangen, bis der Capitän denn doch die Peinlichkeit dieser Stille fühlte und seinem schweigsamen Charakter Gewalt anthat, indem er fragte:

»Hast Du gehört, Marion, daß ein Moseldampfer untergegangen ist?«

»Ja,« antwortete sie, indem sie ihn groß und ernst anblickte.

»Ich glaube, Dir geschrieben zu haben, daß ich dieses Schiff benutzen würde. Ich erwartete eine Frage von Dir.«

»Warum? Ich sehe ja, daß Du mit einem anderen Schiffe gekommen bist. Was soll da die Frage nützen?«

»Woher weißt Du das, Großpapa?«

»Ich sehe es daraus, daß Du überhaupt angekommen bist. Wärest Du unglücklicherweise mit jenem Dampfer gefahren, so lebtest Du nicht mehr.«

»Wir sind Beide mit ihm gefahren. Wir wurden von zwei muthigen Männern gerettet.«

Das erregte denn doch das Interesse des Alten und der Baronin.

»Wirklich?« frug der Erstere rasch. »Erzähle, Marion!«

»Ja, erzähle!« bat auch die Letztere. Und mit gut gespielter Theilnahme fügte sie hinzu: »Mein Gott, wenn Du ertrunken wärest! Welch' ein Schreck, welch' ein Herzeleid!«

Alexander sprang auf. Er war wahrer als seine Mutter; er schlang seine Arme um Marion's Hals und rief:

»Hätte ich das gewußt, so wäre ich gekommen, um mit Dir vom Schiffe bis an das Ufer zu schwimmen!«

Sie liebkosete ihn und erzählte den Unfall in kurzen, aber ergreifenden Worten. Als sie geendet hatte, rief Alexander:

»Das waren zwei so muthige Männer wie mein Monsieur Müller, welcher mich vom Abgrunde hinweggerissen hat. Ich möchte sie wohl kennen lernen. Wie heißen sie?«

»Der Eine, welcher Nanon rettete, ist der Kräutersucher des Doctor Bertrand aus Thionville. Den Anderen, welcher mich an's Ufer brachte, kennen wir nicht. Er ging fort, ohne uns seinen Namen wissen zu lassen.«

Doctor Bertrand kannte zwar diesen Namen, aber er hatte vorgezogen, ihn nicht zu nennen. Er hatte jedenfalls im Sinne gehabt, den Damen eine Ueberraschung zu bereiten, wenn sie ihren Retter so unerwartet auf Ortry finden würden.

Während des weiteren Verlaufes des Frühstücks wurden die letzten Erlebnisse auf Schloß Ortry erwähnt, und dabei wurde Müller öfters genannt, ohne daß Marion ahnte, daß er und ihr Retter ein und dieselbe Person sei. Man saß noch bei Tafel, als sich unten im Hofe Pferdegetrappel hören ließ. Der Capitän trat an das Fenster und rief, sobald er einen Blick hingeworfen hatte:

»Besuch! Endlich kommt er; endlich ist er da!«

»Wer?« fragte die Baronin.

»Oberst Graf Rallion.«

»Ah, dem muß man entgegen gehen!«

Sie erhob sich in ungewöhnlicher Eile von ihrem Platze und verließ an der Seite des Alten den Speisesaal. Die beiden anderen Damen mußten der Höflichkeit wegen folgen, doch thaten sie es langsam. Auch Alexander schien sich nicht zu überstürzen.

»Er konnte bleiben, wo er war,« sagte er. »Ich liebe diesen Rallion nicht!«

Marion warf einen beinahe zufriedenen Blick auf ihn. Hatte er ihr vielleicht aus dem Herzen gesprochen?

Als sie den Schloßhof erreichten, wurde der Graf soeben vom Capitän und der Baronin mit ausgesuchtester Höflichkeit begrüßt. Er trat sodann zu den beiden Freundinnen, küßte ihnen die Hand und sagte:

»Verzeihung, daß ich gleich den ersten Tag Ihrer Anwesenheit auf Ortry benutze, mich nach Ihrem Wohlbefinden zu erkundigen! Es giebt liebe Pflichten, deren Erfüllung man keine Secunde lang aufschieben möchte.«

Marion verneigte sich stumm, er wendete sich aber sogleich zu den Anderen und improvisirte eine Menge Artigkeiten, während deren man die Treppe emporstieg. In diesem Augenblicke kam Müller herab. Er blieb in unterthäniger Haltung stehen, um die Herrschaften vorüber zu lassen. Marion sah ihn und erstaunte freudig. Auch Rallion erblickte ihn. Seine Ueberraschung war so überwältigend, daß er ausrief:

» Morbleu, das ist ja gar der deutsche Billardtölpel! Was thut er hier?«

Alle erschraken und blickten auf den Beleidigten, was er thun werde. Dieser jedoch sah den Grafen gar nicht an; er machte den beiden jungen Damen eine Verbeugung und schritt vorüber.

Das Gesicht Marion's war wie mit Blut übergossen. Schämte sie sich der Rohheit des Grafen oder der Feigheit Müller's? Wer hätte dies wohl sagen können! Der Capitän zuckte verwundert die Achsel. Er konnte gar nicht begreifen, daß ein so ausgezeichneter Schütze und Fechter, wie Müller war, eine solche Blamage sich gefallen ließ. Als man den Saal erreichte, fragte der Oberst:

»Aber, lieber Capitän, was thut denn dieser Deutsche bei Ihnen?«

»Er ist der Gouverneur Alexander's,« antwortete der Gefragte.

» Fi donc! Da wird unser Alexander sehr viel lernen! Dieser Mann versteht weiter nichts, als Billards zu zerstoßen.«

Alexander biß sich auf die Lippen, um sich zum Schweigen zu zwingen, aber es gelang ihm nicht. Er blickte den Sprecher herausfordernd an und antwortete:

»Wissen Sie, daß dies sehr unhöflich von Ihnen ist? Wenn Herr Müller nur wollte, so würde er Ihnen beweisen, daß er mehr versteht, als Sie zu glauben scheinen. Er ist mein Lehrer, und ich erkläre, daß er außerdem mein Freund ist. Ich werde nicht dulden, daß man ihn beleidigt.«

Der Oberst blickte den jungen Menschen mit dem höchsten Erstaunen an. Bald aber spielte ein sarcastisches Lächeln um seine Lippen, und er antwortete:

»Ihr Freund? Ah, ich beneide ihn um einen so mächtigen Schutz, lieber Alexander!«

»Er bedarf zwar dieses Schutzes nicht,« sagte der Angeredete, »denn er ist selbst Mann genug, und steht als Mitbewohner unseres Hauses natürlich unter dem Schirm desselben, was jeder gebildete Mann respectiren wird; trotzdem aber werde ich keineswegs dulden, daß in einem unfreundlichen Tone von ihm gesprochen wird. Er hat mir das Leben gerettet; ich muß ihm dankbar sein!«

Marion warf einen Blick auf den Bruder, in welchem sich Erstaunen mit wohlwollender Anerkennung paarte. Im Gesichte seiner Mutter zeigte sich der deutlichste Stolz ausgesprochen, und sogar der Capitän zog seine Schnurrbartspitzen in einer Weise durch die Finger, in welcher sich eine Art Beifall zu erkennen gab. Der Oberst bemerkte dies; er schien sich darüber zu ärgern, denn er meinte unter einem höhnischen Lächeln:

»Das Leben gerettet? Hm, das ist etwas Anderes! Dieser Mensch scheint vom Zufalle bestimmt zu sein, aller Welt das Leben zu retten. Man möchte ihn beneiden!«

Da sagte Marion in einem Tone, welchem ein leichter Nachdruck anzuhören war:

»Ich möchte da keineswegs von Zufall sprechen. Er besitzt Muth und Entschlossenheit, zwei Eigenschaften, welche Anderen allerdings oft entgehen. Kein Wunder, daß diese Anderen dann allerdings zur Lebensrettung nicht bestimmt erscheinen.« Und nach diesen Worten, welche doch eine leichte Röthe der Scham in das Gesicht des Obersten brachten, fuhr sie, zum Capitän gewendet, fort: »Dieser Monsieur Müller ist es nämlich, welcher mit mir durch den Fluß geschwommen ist.«

»Wirklich?« frug der Alte erstaunt.

Das war jedoch auch das einzige Wort, welches er sagte. Seine Enkelin hatte sich in Todesgefahr befunden und war gerettet worden; ihr Retter war der neue Lehrer. Das wußte man nun. Was war da ein großes Aufhebens nothwendig? Der Capitän hatte seit gestern so viel sprechen müssen, daß es ihm heute nicht einfallen konnte, über diese Angelegenheit viele Worte zu verlieren. Die Baronin jedoch fühlte gar wohl die Verpflichtung, als Dame des Hauses wenigstens eine Bemerkung zu machen. Sie sagte im Tone des Erstaunens:

»Er ist auch das gewesen? Welch' ein Zufall. Man ist ihm wirklich zu Dank verpflichtet!«

Alexander ergriff die Hand der Schwester und rief aus:

»Auch Du verdankst ihm Dein Leben, meine liebe Marion? O, nun muß ich ihn noch einmal so lieb haben. Ich werde ihm nachgehen, um ihm dies mitzutheilen.«

Er sprang vom Stuhle auf und verließ den Saal, ohne sich von den Anderen halten zu lassen.

Es gelang ihm freilich nicht mehr, Müller zu Gesicht zu bekommen, denn dieser hatte das Schloß bereits verlassen, und schritt durch den Park dem Walde zu. Es trieb ihn hinaus in denselben aus verschiedenen Gründen. Er war jetzt noch Herr seiner Zeit; der Unterricht hatte noch nicht begonnen, und durch die Ankunft des Obersten waren die Schloßbewohner jedenfalls so in Anspruch genommen, daß seine Abwesenheit jedenfalls nicht mißfällig bemerkt werden konnte.

Er hatte Marion wieder gesehen, zwar nur auf einen Augenblick, aber dieser Augenblick hatte doch sein Herz erregt, so daß er die Einsamkeit suchte, um den süßen Gedanken an die Geliebte nachhängen zu können. Die Beleidigung, welche ihm von dem Obersten widerfahren war, hatte ihn wenig berührt. Er wußte, daß die Zeit kommen werde, in welcher er mit diesem Manne zusammen gerathen müsse, und er hielt sich für stark genug, diesen Zusammenprall siegreich auszuhalten.

So strich er langsam durch den Wald, nur mit seinen Gedanken beschäftigt, und wenig auf seine Umgebung achtend. Das Bild der Geliebten begleitete ihn. Er träumte mit offenen Augen. Er sah ihre herrliche Gestalt; er blickte in ihre köstlichen Augen; er hörte den seltenen Wohlklang ihrer Stimme, und es war ihm, als fühlte er ihren schwellenden Busen gerade so an seinem Herzen, wie in den Augenblicken, in denen er sie von der Mosel nach dem Meierhofe getragen hatte. Es verging Viertelstunde auf Viertelstunde; er achtete nicht darauf, denn für einen Menschen, dem unter den göttlichen Regungen einer gewaltigen, selbstlosen Liebe das Herz im Busen klopft, giebt es keine Zeit; er fühlt den Odem, den Hauch der Ewigkeit in der Brust.

Da hörte er plötzlich eine sehr bekannte Stimme neben sich:

»Ah, Herr Doctor! Grüß Sie Gott!«

Er blickte auf. Vor ihm auf dem schmalen Waldpfade stand sein Diener Fritz, der ihn unter einem freundlichen Lächeln mit seinen guten, treuen Augen betrachtete.

»Ah, Fritz, Du?« rief er. »Wie kommst Du in den Wald von Thionville her? So weit!«

»Der Herr Doctor haben wohl vergessen, daß ich jetzt Kräutersammler bin!« antwortete der Gefragte. »Wir sind heute in Thionville angekommen, und da war Doctor Bertrand so vernünftig, mich sofort auf die Suche zu schicken.«

»Du triffst mich zufällig?«

»Ja; gerade so, wie Sie mich,« lachte Fritz. »Sie kommen daher, die Augen am Boden, wie Einer, welcher Kräuter sammelt; und ich kam herbei, die Augen am Boden, wie Einer, dem eine gewisse Marion nicht aus dem Sinne will. Auf die Weise kann man sich ja nur zufällig treffen.«

Der treue Diener wußte ganz genau, daß er sich seinem Herrn gegenüber schon eine Bemerkung erlauben durfte. Und wirklich that Müller nicht im Geringsten so, als ob er diese Worte mißfällig aufnehmen möchte. Vielmehr überflog er die Gestalt Fritzens mit einem lustigen Blicke und sagte:

»Also wirklich bereits Kräutermann! Hast Du Talent dazu?«

»Famos, Herr Doctor!« Er nahm den Sack, welchen er auf der Achsel trug, herab, öffnete ihn und ließ Müller hineinsehen. »Da gucken Sie! Dieser Sack ist bereits zur Hälfte voll. Moos, Tannenzapfen, Farrenkraut, Eichenlaub, Gras und Kohlrübenblätter. Das macht den Sack rasch voll. Was aber der Apotheker damit anfangen wird, das ist mir ganz gleich. Doctor Bertrand meinte, ich sei vollständig Herr meiner Zeit, doch wenn es paßte, so sollte ich ihm Ehrenpreis und Pfeffermünze mitbringen; Véronique und Menthe poivrée nennen sie es hier in Frankreich; da ich aber weder Pfefferpreis noch Ehrenmünze kenne, so habe ich einstweilen Tannenzapfen und Kohlrübenblätter genommen. Es wird Niemand das Zeug trinken, und darum stirbt auch Niemand daran.«

Er band den Sack zu und warf ihn wieder über die Achsel. Müller meinte:

»Da hast Du einen sehr nachsichtigen Principal. Es kann ein Glück für uns sein, daß wir diesen Doctor Bertrand getroffen haben, obgleich es nicht mein Wunsch ist, meine Absichten von irgend Jemandem durchschauen zu lassen.«

»O, Bertrand ist sicher; er verdient Vertrauen,« behauptete Fritz. »Ich kenne ihn erst diese kurze Zeit, aber ich weiß bereits, daß er diese Franzosen haßt. Er muß irgend einen besonderen Grund haben, ihnen nicht gewogen zu sein. Er erräth freilich den Grund, der uns hierher geführt hat, aber ich möchte meinen Kopf zum Pfande geben, daß er uns förderlich, niemals aber hinderlich sein wird. Uebrigens ist es gut, daß ich Sie treffe. Ich habe ja meine Instructionen erst von Ihnen zu erwarten.«

»Ich kann sie Dir jetzt nur im Allgemeinen, nicht aber speciell geben.« Er trat in die angrenzenden Sträucher, um sich zu überzeugen, daß kein Lauscher vorhanden sei, kam dann zu Fritz zurück und fuhr fort: »Frankreichs Herrscher plant im Stillen einen Krieg mit uns; er betreibt seine Anstalten sehr geheim, denn er beabsichtigt, uns zu überrumpeln, so, daß seine Heeresmassen innerhalb einer Woche in Berlin sein können. Er glaubt, daß der Preußenhaß die Südstaaten abhalten werde, uns zu unterstützen, und wagt es, gerade hier an der Grenze riesige Vorbereitungen zu treffen, die es ihm ermöglichen, mit ungeahnter Wucht sich auf uns zu werfen. Diese Vorbereitungen müssen wir belauschen; wir müssen sie kennen lernen, um unsere Gegenzüge thun zu können. Einer der Concentrationspunkte dieser für uns so gefährlichen, geheimnißvollen Thätigkeit ist Ortry. Ich befinde mich hier, um zu beobachten, und Du sollst mich unterstützen. Das ist Alles, was ich Dir zu sagen habe.«

»Und das ist genug,« nickte Fritz, während über sein intelligentes Gesicht ein Zug heller Freude ging. »Ich bin ein Findelkind, ein einfacher Barbier- und Friseurgehilfe, aber ich will doch einmal sehen, ob ich nicht Augen habe, diesen klugen Großsprechern hinter die Karten zu gucken. Zeit genug habe ich ja dazu! Und ein Glück ist es, daß man mich nicht für einen Deutschen halten wird.«

»Wieso?«

»Nun, Doctor Bertrand hat mich als einen Schweizer aus Genf angemeldet. Sie wissen ja, daß ich zwei Jahre lang dort in Condition war, und mir so viel Französisch angeeignet habe, um für einen Genfer gelten zu können. Wie aber soll ich Ihnen mittheilen, was ich erfahre? Wo werde ich Sie treffen?«

»Du kannst mir schreiben, natürlich unter der Adresse des Doctor Andreas Müller. Wichtiges aber machen wir nur mündlich ab. Ich bewohne das oberste Zimmer des südwestlichen Eckthurmes des Schlosses. Von dort aus kann ich die große Linde, welche an der Straße von Thionville steht, deutlich erkennen. Lege Dich unter dieselbe, wenn Du mir Etwas zu sagen hast. Man wird denken, Du wollest Dich ausruhen, und ich sehe Dich genau durch mein Fernrohr. Du blickst durch das Deinige nach meinem Fenster, und sobald ich Dir mit einem weißen Tuche das Zeichen gegeben habe, daß ich Dich sehe, gehst Du hierher, wo wir uns jetzt befinden; wir treffen uns hier. Das kann natürlich nur am Tage sein.«

»Aber Abends?« fragte Fritz.

»Kannst Du mich in meiner Wohnung aufsuchen.«

»Man wird mich sehen.«

»Nein. Du wartest, bis Alles schläft, und versicherst Dich genau, daß Du nicht bemerkt werden kannst. Dann steigst Du an dem Blitzableiter der Mittelfront empor, kriechst über das Dach und klopfst leise an mein Fenster. Der Blitzableiter ist sehr fest, er hat auch mich bereits getragen.«

»Das ist bequem, und ich werde mir gleich morgen die Gelegenheit einmal ansehen.«

»Schließlich muß ich Dich auf den alten Thurm aufmerksam machen, welcher hier im Walde liegt –«

»Ich kenne ihn nicht.«

»Ich werde Dir ihn jetzt zeigen. Man sagt nämlich, daß es dort umgehe; ich aber glaube, daß diese Geister von Fleisch und Blut sind. Ich kann des Nachts nur schwer das Schloß verlassen, und möchte doch gerade zu dieser Zeit den Thurm beobachten –«

»Gut, Herr Doctor, das werde ich also übernehmen,« meinte Fritz.

»Aber die Geister!« lächelte Müller.

»O, ich habe einen Revolver, mit dem man Geister bannen kann! Uebrigens thut es ein guter Prügel oder Knüppel wohl auch.«

»Jedenfalls. Doch wünsche ich nicht, daß Du Dich in Gefahr begiebst. Unsere Beobachtungen müssen sehr geheim geschehen; es wäre mir also lieb, wenn die Geister Dich gar nicht bemerkten.«

»Ganz wie Sie befehlen, Herr Doctor. Uebrigens ist es möglich, daß wir uns doch einmal in Gegenwart Anderer treffen, und wohl gar sprechen müssen. Wie habe ich mich da zu verhalten?«

»Wir kennen uns nicht, und reden nur französisch mit einander. Höchstens erinnern wir uns, einander während des Schiffbruches gesehen zu haben. Jetzt aber komm', ich muß Dir den Thurm zeigen!«

Sie gingen weiter, gerade durch den Wald, und gelangten an das Felsengewirr, in dessen Mitte die Ruine des Thurmes sich erhob. Diese war von keinem bedeutenden Durchmesser und erhob sich zu einer Höhe von ungefähr vierzig Ellen. Was über diese Höhe hinausgereicht hatte, war eingestürzt. Die Thür war schmal und nicht hoch. Das runde Gemäuer zeigte unten einige schmale, schießschartenähnliche Fensteröffnungen. Oben aber ragten noch einige hohe, mächtige Pfeiler in die Luft, zum sicheren Beweise, daß sich dort Gemächer mit großen Aussichtsfenstern befunden hatten. Diese Pfeiler standen ganz ohne Stütze auf der Ruinenkante, nur durch ihre eigene Schwere gehalten.

Die beiden Männer traten ein und bemerkten, daß eine Treppe zur Höhe führte. Dieselbe war sehr schwer zu ersteigen, denn die Stufen lagen voller Geröll, welches von oben herabgestürzt war. Dennoch arbeiteten sie sich empor. Oben angekommen, fanden sie nicht das Mindeste, welches ihnen die gehabte Mühe hätte belohnen können, und es zeigte sich auch nicht die leiseste Spur, daß dieser Ort in letzter Zeit von einem menschlichen Fuße betreten worden sei.

Sie stiegen wieder herab und untersuchten den unteren Theil des Thurmes. Auch hier lag Schutt in solcher Menge, daß es eine ungeheure Arbeit gewesen wäre, ihn wegzuräumen, um zu sehen, ob vielleicht eine weitere Treppe nach einem Keller führe.

»Die Gespenster haben sich keinen sehr bequemen Ort zur Wohnung erwählt,« meinte Fritz. »Wenn ich einmal nach meinem Tode spuken muß, so thue ich es sicher nicht ohne wenigstens ein Sopha und eine lange Pfeife. Ich bedaure sie!«

»So bedaure Dich mit ihnen!« antwortete Müller.

»Warum?«

»Weil dieser Thurm für einige Zeit Dein Wachtlokal sein wird. Auf Wohnlichkeit und Eleganz wirst Du verzichten müssen.«

»Ich nehme an, es geschieht im Dienste, und da darf man nicht wählerisch sein. Uebrigens werde ich mich sehr hüten, mich im Thurme selbst einzuquartieren. Hier giebt es nichts.

Wenn es wirklich nicht geheuer ist, so kommen die Geister von Außen herein, und darum werde ich mir da draußen ein Plätzchen suchen, von welchem aus ich den Eingang gut bewachen kann. Uebrigens sind es die ersten Gespenster, welche ich zu sehen bekomme. Ich kann sagen, daß ich mich herzlich auf sie freue.«

Müller wußte, daß diese Worte keine Unwahrheit enthielten. Fritz war ein muthiger, unerschrockener Kerl, der weder an Gespenster, noch an den Teufel glaubte. Was er sagte, war wirklich ganz aufrichtig gemeint. Darum antwortete sein Herr:

»Das sollst Du erfahren, sobald ich es selber weiß. Jetzt aber eile; es fallen bereits die Tropfen, und der Sturm hat sich bereits erhoben!«

Sie schieden. In nicht allzu großer Ferne lagen die Häuser eines Dorfes, nach welchem Fritz seine eiligen Schritte lenkte. Müller aber schlug die Richtung ein, aus welcher sie gekommen waren, da der Thurm in fast gerader Linie nach dem Schlosse lag und ihm also wirklich den gelegentlichsten Schutz vor dem Gewitter bot.

Der Sturm begann die Bäume zu erfassen. Die Wipfel rauschten und prasselten unter seinem gewaltigen Drucke. Ein helles, scharfes Heulen pfiff schneidend durch die Luft; es lagerte sich ringsum eine dichte Dunkelheit, die nur von dem Leuchten des Blitzes erhellt wurde. Ein fürchterlicher Donnerschlag machte die Erde erzittern, und dann war es, als habe dieser Schlag alle Wolken geöffnet.

Glücklicher Weise war Müller bereits in der Nähe des Thurmes angekommen. Er eilte zwischen den Felsen hindurch, trat ein und – wäre beinahe erschrocken zurückgewichen, denn vor ihm stand, von einem soeben niederfahrenden Blitze hell erleuchtet – Baronesse Marion.

»Entschuldigung, gnädiges Fräulein!« sagte er. »Ich wußte nicht, daß sich Jemand hier befindet.«

Sie konnten einander nicht erkennen. Das Dunkel des Wetters war hier im Thurme doppelt finster. Marion antwortete:

»Und auch ich glaubte, allein zu sein. Uebrigens haben Sie sich nicht zu entschuldigen. Der Wald steht einem Jeden offen.«

»Auch dieses Gebäude, Mademoiselle?«

»Gewiß. Warum sollen Sie nicht Schutz hier suchen dürfen, gerade so wie ich? Sind Sie naß geworden?«

»Nicht so, daß es werth sei, es zu erwähnen.«

»Auch ich bin trocken geblieben; der Thurm war ja ganz in der Nähe.«

Er ahnte, daß sie an dem Grab gewesen sei. Wie lieb mußte sie ihre Mutter haben! Die erste Stunde nach der Rückkehr galt der Ruhestätte der Todten.

»Sie waren allein im Walde?« fragte er.

»Ja,« antwortete sie. »Aber der Regen wird wohl anhaltend sein; es scheint gerathen, es uns so bequem wie möglich zu machen.«

Sein Auge hatte sich jetzt an die Dunkelheit gewöhnt, und so bemerkte er, daß sie das Tuch, welches sie um ihre Schultern trug, abnahm und auf die Treppenstufe legte, um sich darauf zu setzen. Er blieb in ihrer Nähe stehen, indem er sich an die Mauer lehnte.

Draußen blitzte, donnerte und regnete es fort. Die beiden Menschen im Inneren des alten, verrufenen Thurmes beobachteten ein tiefes Schweigen, bis Marion endlich sagte:

»Es scheint, daß wir bestimmt sind, uns nur immer bei Sturm und Wetter zu begegnen. Das jetzige Gewitter ist allerdings nicht ganz so fürchterlich wie jenes, welches uns auf der Mosel traf.«

Was sollte er antworten? Er schwieg. Auch sie zögerte, fortzufahren, und erst nach einer längeren Pause sagte sie:

»Warum verschwanden Sie so schnell von dem Meierhofe?«

»Da ich Sie unter sicherem Schutze wußte, hatte ich keinen Grund, zu bleiben,« antwortete er.

Seine Worte hatten einen eigenthümlichen Klang, aus welchem deutlich die Absicht einer Beziehung zu hören war, die sie nicht sogleich zu errathen vermochte. Sie gab sich weiter keine Mühe, nachzudenken, sondern fuhr fort:

»Ich fand also nicht Gelegenheit, Ihnen Dank zu sagen. Erlauben Sie, daß ich dies jetzt nachhole, Herr Doctor!«

Sie streckte ihm ihre Hand entgegen, diese schöne Hand, welche von einer solchen Weiße war, daß er sie trotz des herrschenden Dunkels ganz deutlich sehen konnte. Er legte seine Hand um ihre weichen, warmen Finger; er fühlte einen kräftigen Druck; sie zog die Hand nicht sogleich wieder zurück, sondern duldete seinen leisen Gegendruck; es war, als ob ein himmlisches Fluidum aus ihrer Hand in die seinige überströme und durch seinen ganzen Körper gehe; es war ihm, als ob die dumpfe Luft des Thurmes ganz plötzlich mit erquickendem Balsam geschwängert sei, er fühlte deutlich, daß sein Arm und seine Hand vor Wonne zitterte. Seine Finger legten sich, trotz aller Anstrengung, sich zu beherrschen, nochmals innig um die ihrigen – aber da zog sie schnell ihre Hand zurück. Zürnte sie ihm? Nein; denn im Tone ihrer Stimme lag nicht der leiseste Vorwurf, als sie jetzt sagte.

»Ich erkundigte mich natürlich nach Ihnen, konnte aber leider nicht erfahren, wer Sie sind. Zwar schien es mir, als seien Sie dem Doctor Bertrand nicht ganz unbekannt, doch war derselbe sehr wortkarg. Um so mehr war ich heute verwundert, Sie als Gouverneur meines Bruders auf Schloß Ortry zu sehen. Kannten Sie mich bereits auf dem Schiffe?«

»Ja,« antwortete er, da es ihm unmöglich war, hier eine Unwahrheit zu sagen.

»Warum ließen Sie mich nicht wissen, daß wir uns wiedersehen würden?«

»Es gab keine Gelegenheit dazu,« versuchte er, sich zu entschuldigen.

»Das mag sein,« antwortete sie mit heller Stimme. »Um so mehr freut es mich, Sie bei uns zu wissen. Ich kann natürlich noch nicht fragen, ob es Ihnen bei uns gefällt, denn Sie sind zu kurze Zeit hier; aber ich bitte Sie dringend, Kleinigkeiten zu überwinden, um der Liebe willen, welche Sie sich bei Alexander bereits erworben haben. Er hat mir mit wirklicher Begeisterung von der Probe erzählt, welcher Sie von Seiten meines Großpapa's unterworfen wurden, und dieser Letztere selbst gestand mir ein, daß Sie ein ausgezeichneter Fechter, Schütze und Reiter seien. Darum wundert es mich doppelt, daß – daß –«

Sie hielt inne, und darum sagte Müller nach einem Weilchen:

»Bitte, fahren Sie fort, gnädiges Fräulein!«

Sie folgte seiner Aufforderung, indem sie erklärte:

»Es wundert mich, daß Ihnen eine Fertigkeit fremd ist, welche fast jeder Mann besitzt.«

»Welche?«

»Diejenige des Billardspieles. Oberst Rallion erzählte nach Tische eine Begebenheit, welche dies zu beweisen scheint. Uebrigens,« fuhr sie mit erhobener Stimme fort, »sagen Sie mir doch einmal aufrichtig, warum Sie die Beleidigung dieses Herrn so ruhig hinnahmen!«

Wäre es lichter gewesen, so hätte sie sehen können, daß ein eigenthümliches Wetterleuchten über sein Gesicht ging. Er antwortete:

»Darf ich nicht bitten, mir die Antwort zu erlassen?«

»Warum?« sagte sie rasch. »Fürchten Sie sich vor ihm?«

Er schwieg. Sie sah, daß er langsam unter die Thür des Thurmes trat, obgleich der Sturm die schweren Regentropfen hereintrieb. Sie erkannte, daß er eine mächtige, innerliche Empfindung unterdrücken müsse, ehe er ihr antwortete. So blieb er lange stehen. Der Donner rollte fort; der Orcan heulte; Müller wurde vollständig durchnäßt und schien es doch nicht zu bemerken. Da wurde ihr fast ängstlich zu Muthe; sie erhob sich, berührte seinen Arm und fragte:

»Warum antworten Sie mir nicht?«

Jetzt endlich drehte er sich um; sie fühlte, daß er ihre Hand von sich schüttelte; dann sagte er:

»Weil in Ihren Worten eine größere Beleidigung lag, als in denen des Obersten. Aber pah, ich bin ja nur ein simpler Hauslehrer, welcher sein Salair bezieht!«

»Sie irren, Herr Doctor. Ich wollte Sie nicht beleidigen,« erklärte sie hastig und mit tiefer Stimme. »Sie sind mein Retter und auch der Retter meines Bruders; wie sollte ich Sie kränken wollen! Uebrigens stehen wir uns vollständig gleichwerthig gegenüber. Nur der Zufall ließ mich von Adel sein; Sie aber haben Ihre Kenntnisse, Fertigkeiten und Erfahrungen Ihrem Fleiße zu verdanken. Der Bruder soll von Ihnen lernen; sagen Sie selbst, ob dies Ihren Werth für uns vermindern oder vergrößern muß!«

Sie hatte im dringlichsten Tone gesprochen; Müller mußte fühlen, daß ihr sehr daran lag, von ihm nicht falsch beurtheilt zu werden. Das erfüllte ihn mit Seligkeit. Sie fügte hinzu:

»Ich hatte keinen Grund zu meiner Frage, als den, Ihnen anzudeuten, daß ich mich gefreut hätte, Sie auch dem Obersten gegenüber als Mann zu sehen, als welchen ich Sie kennen lernte. Als ich mich in Gefahr befand, war er nur auf seine eigene Rettung bedacht. Als er den kleinlichen Muth hatte, Sie zu beleidigen, gingen Sie schweigsam fort. Sagen Sie selbst, ob mir dies nicht auffallen muß!«

Sie suchte sich zu entschuldigen. Sie sagte ihm mit deutlichen Worten, daß es ihr lieber gewesen, den Obersten gehörig zurückgewiesen zu sehen. Wie wohl that dies dem Herzen Müller's! Wie entzückt war er darüber! Er hätte seine Arme um sie legen mögen, um ihr dafür zu danken, wie man der Geliebten dankt für das Glück, welches ihre Worte in das Herz des Mannes pflanzen. Er erklärte ihr:

»Ich hätte ihm nur mit der Waffe, nicht aber mit Worten antworten können!«

»Nun, warum thaten Sie das nicht?«

»Weil es für meinen Gegner keine Kleinigkeit ist, sich mit mir zu schlagen.«

Er sagte diese Worte in aller Ruhe und Bescheidenheit, sie aber fühlte und glaubte, daß sie kein fades Eigenlob enthielten. Dennoch sagte sie:

»Das ist zwar gut für Sie, darf Sie aber nicht veranlassen, sich ungestraft beleidigen und blamiren zu lassen!«

Da trat er näher an sie heran, und fragte in einem Tone, der tief eindringlich klang:

»So wünschen Sie, daß ich Ihnen den Bräutigam tödte?«

Sie wich hastig einen Schritt zurück und erkundigte sich:

»So haben Sie nur meinetwegen von einer Bestrafung des Obersten abgesehen?«

»Allerdings!«

»Das war ganz und gar nicht nöthig. Wer hat Ihnen gesagt, daß er mein Bräutigam ist?«

»Er selbst hat sich dessen öffentlich gerühmt.«

»Ah, so erkläre ich Ihnen, daß mir dieser Mann völlig unsympathisch ist, und daß Sie ihn in Rücksicht auf mich ganz und gar nicht zu schonen brauchen. Großpapa wünscht unsere Verbindung; ich aber werde meine Hand niemals einem Manne reichen, den ich weder lieben, noch achten kann!«

Marion hielt inne und Müller erkannte, daß sie die Wahrheit gesprochen.

*


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