Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Fortsetzung 2

Fritz war nicht mehr zu sehen; der dichte Regen erlaubte nicht, weit zu sehen; doch hatte Müller keine Sorge um ihn, da er auch ein ausgezeichneter Schwimmer war. Zwar waren die Ufer nicht zu erkennen, aber wenn er sich nur immer so viel wie möglich links hielt, mußte er bald landen können.

So vergingen fünf Minuten, bis die phantastischen Gestalten alter Weiden im Gusse des Regens auftauchten. Müller stieß noch einige Male kräftig aus und kam an das Ufer. Aber er mußte sich an den überhängenden Zweigen festhalten, um nicht weiter fortgerissen zu werden. Es kostete ihm sehr große Anstrengung, festen Fuß zu fassen, ohne seine süße Bürde zu verlieren.

Dort legte er sie in das Gras nieder, um einige Augenblicke auszuruhen. Da lag sie bleich und regungslos. Das nasse Gewand legte sich eng an die herrlichen Glieder und ließ die Formen derselben so deutlich erscheinen, als ob sie unbedeckt seien. Müller achtete nicht auf den Regen; er vergaß das Brausen des Sturmes und das Brüllen des Wassers; er sah nur die Heißgeliebte vor sich. Er ließ sich neben ihr nieder, nahm ihren Kopf in den Arm und legte seine Lippen auf den Mund, welcher, leise geöffnet, die köstlichen Zahnperlen sehen ließ. Er küßte, küßte und küßte sie wieder und immer wieder, bis er fühlte, daß ihre Lippen warm wurden.

Da, da schlug sie langsam die Augen auf; ihr matter Blick ruhte auf ihm mit einem Ausdrucke, als ob sie sich im Traume befinde. Der Sturm machte eine kurze Pause, und da klang es aus ihrem Munde:

»Richard!«

Er fuhr zurück; er hatte das Wort ganz deutlich vernommen, und er sah das glückliche Lächeln, unter welchem die Herrliche die Augen wieder schloß, um von Neuem in Bewußtlosigkeit zu sinken. Das war ja sein Name! Aber er schüttelte den Kopf. Sie konnte doch unmöglich ihn gemeint haben! Aber sie hatte willenlos ein Geheimniß verrathen: sie liebte bereits; sie liebte einen Glücklichen, welcher auch Richard hieß. War dies vielleicht Graf Rallion? Nein; Müller besann sich, daß dieser einen anderen Vornamen hatte. Müller fühlte sich durch diesen Umstand befriedigt, obgleich die Entdeckung, daß ihr Herz nicht mehr frei sei, sein Herz mit einem brennenden Schmerze durchzuckte.

Aber es war hier nicht der Ort, an diese Dinge zu denken; es galt vielmehr, die Baronesse unter ein schützendes Dach zu bringen.

Da, wo er an das Ufer gestiegen war, lagen wohl gepflegte Felder, ein sicheres Zeichen, daß menschliche Wohnungen nicht weit entfernt seien. Er eilte eine kleine Strecke am Flusse hinab und fand einen Weg, welcher oft betreten zu sein schien. Er holte die Baronesse und verfolgte, sie auf den Armen tragend, diesen Pfad, der schließlich in einen Fahrweg mündete.

Da fühlte er, daß die Baronesse sich bewegte. Halb noch von ihrer Ohnmacht umfangen, schlang sie die Arme um seinen Hals und legte den Kopf auf seine Achsel. Er fühlte die weiche Gestalt eng an sich liegen; er drückte sie fest und immer fester an sich, sodaß ihr Busen an seine Brust zu ruhen kam, und gelobte sich im Stillen, jenen Richard kennen zu lernen, und mit ihm um den Besitz dieses unvergleichlichen Wesens in die Schranken zu treten.

Er mochte wohl zehn Minuten lang gegangen sein, ohne von der Schwere seiner Last belästigt zu werden, als er einen Bauernhof bemerkte, auf dessen Thor der Weg gerade zuführte. In dem großen, breiten Thore befand sich ein kleines Pförtchen, durch welches er eintrat. Die Bewohner des Gutes bemerkten ihn; sie sahen, daß er eine Dame auf den Armen trug, und sprangen ihm entgegen.

Die Nachricht von dem verunglückten Schiffe, welche er brachte, erregte die größte Bestürzung. Die Männer brachen sofort auf, um nach dem Flusse zu gehen, und zu sehen, ob noch zu helfen und zu retten sei. Den Frauen aber übergab er die Baronesse, um sie zu entkleiden und in ein Bett zu legen. Dann kehrte auch er nach der Unglücksstätte zurück, besonders, um nach Fritz und der anderen Dame zu suchen.

Der Regen hatte mittlerweile etwas nachgelassen, sodaß man wieder in eine größere Entfernung sehen konnte. Der Bauer und seine Knechte erblickten den Schornstein des Schiffes, welcher schief aus den Fluthen ragte. Am Ufer war kein Mensch zu sehen. Das Floß war zerrissen worden und verschwunden; es gab Nichts zu retten.

Müller forderte die Leute auf, mit ihm stromabwärts zu gehen, und da fanden sie denn nach einiger Zeit eine sehr sichtbare Fährte im hohen Grase des Ufers. Hier mußte Fritz das Wasser verlassen haben.

»Vielleicht hat der Mann, den Sie suchen, unsere Wächterhütte gefunden,« bemerkte der Bauer.

»Wo ist diese?« fragte Müller.

»Dort hinter jenem Erlengebüsch.«

Sie schritten darauf zu, hinter den Büschen erblickten sie eine sehr primitiv aus ausgeackerten Feldsteinen errichtete Hütte.

Die Thüröffnung derselben war ohne Thür, und die einzige Fensternische war mit Stroh verstopft. Als sie sich näherten, trat ein Mann hervor, es war wirklich Fritz, der Diener.

»Wo ist die Dame?« fragte Müller.

Fritz deutete nach innen und antwortete:

»Da auf dem Stroh. Sie ist noch immer ohne Bewußtsein.«

»Hat sie vielleicht zu viel Wasser schlucken müssen?«

»Nicht halb so viel als ich. Uebrigens dürfen Sie ohne Sorge sein; es ist Jemand bei ihr, der es versteht, zu beurtheilen, ob sie halb ertrunken ist oder ganz.«

»Ach, vielleicht Doctor Bertrand?«

»Allerdings. Er stand bereits am Ufer, als ich ankam. Wir fanden dann mit einander diesen Palast, in welchem wir uns bis jetzt ganz wohl befunden haben.«

Als Müller eintrat, kniete der Arzt bei der Dame. Er erhob sich sofort und sagte:

»Ach, Herr Doctor Müller! Ich muß Sie um Verzeihung bitten, daß ich so ohne allen Abschied vom Schiffe ging. Aber ich wußte die Damen unter der besten Aufsicht und hatte vor Allem die Pflicht, mich als Arzt zunächst zu retten, um dann zu Diensten sein zu können. Diese Dame ist nur in Folge des Schreckes ohnmächtig. Es wird Nichts für sie zu fürchten sein, wenn wir sie nur so bald wie möglich aus den nassen Kleidern und in einen guten Schweiß zu bringen vermögen.«

»Es ist ein Meierhof in der Nähe,« antwortete Müller. »Ich werde sie hinbringen, die Baronesse ist auch bereits dort.«

Er nahm das Mädchen auf die Arme und schritt den Anderen voran, dem Bauergute zu, wo der Arzt sich sofort zu der Baronesse begab, während die Frauen einstweilen für Nanon sorgten.

Marion war wieder zu sich gekommen und sehr erstaunt darüber, daß eine männliche Person es wagte, zu ihr zu kommen. Bertrand entschuldigte sich:

»Gnädiges Fräulein, ich bin Arzt und halte es für meine Pflicht, Ihnen meine Aufwartung zu machen, da sich keine andere wissenschaftliche Hilfe in der Nähe befindet.«

Diese Worte versöhnten sie sofort.

»Ach, Sie sind Arzt, mein Herr,« meinte sie. »Wo befinde ich mich?«

»Auf einem Meierhof in der Nähe der Unglücksstelle.«

»Wer hat mich hierher gebracht? Ist mein – mein Retter am Leben?«

»Er befindet sich wohl und hat Sie nicht nur aus den Fluthen gerettet, sondern auch hierher getragen.«

»Wer ist dieser Mann?«

»Er ist ein Doctor der Philosophie, Namens Müller.«

»Also ein Deutscher?«

»Ja. Glauben Sie, daß dieser Umstand geeignet ist, den Werth seiner That zu vermindern?«

»O, nicht im Geringsten. Ich bin zwar Französin, aber keineswegs eine Deutschenhasserin aus Passion.«

»Das wird Herr de Sainte-Marie nur sehr ungern bemerken!« lächelte Bertrand.

»Wie? Sie kennen meinen Vater?«

»Ich habe die Ehre, ihn sogar sehr genau zu kennen. Während der Zeit Ihrer längeren Abwesenheit habe ich mich in Thionville etablirt und bin so glücklich gewesen, der Hausarzt Ihres Herrn Vaters und Großvaters zu werden.«

»Und wie kommt es, daß Sie mich kennen?«

»Ich war Passagier desselben Schiffes, auf welchem Sie der Todesgefahr entgingen. Ich hörte da Ihren Namen nennen. Wie Sie an meinem Anzuge sehen, habe auch ich mich durch Schwimmen gerettet. Wie befinden Sie sich, mein gnädiges Fräulein?«

»Ich bin bereits in wohlthätigem Schweiße und hoffe, ohne ferneren Schaden davongekommen zu sein. Wie aber geht es meinem Retter?«

»O, der ist eine sehr starke, widerstandsfähige Natur, wie es scheint. Er wird die Kleider wechseln, um sie zu trocknen; das ist Alles. Für Sie aber und die andere Dame –«

»Ah, Nanon!« unterbrach sie ihn. »An die Gute habe ich eben gedacht, ehe Sie eintraten. Ist auch sie gerettet worden?«

»Ja, mein Kräutersammler hat sie nach dem Ufer gebracht. Sie befindet sich in einem anderen Zimmer dieses Hauses, und ich hoffe, daß sie ebenso schnell wieder wohl sein wird, wie Sie. Ich werde in die Apotheke des nächsten Ortes schicken, um einige Medicamente kommen zu lassen, und bin überzeugt, daß Sie morgen Früh Ihre Reise wieder fortsetzen können.«

»Aber um Gotteswillen nicht wieder mit dem Dampfer. Ich werde mir einen Wagen besorgen, der mich über Hetzerath und Schweich nach Trier bringt, von wo aus ich dann die Bahn benutzen werde.«

Unterdessen hatten Müller und Fritz sich ihrer nassen Kleider entledigt, und sich von den Bewohnern des Hofes andere geliehen. Der Regen hatte jetzt vollständig aufgehört; die Wolken waren verschwunden, und am Himmel erglänzte die helle Sonne, um mit ihren liebevollen Strahlen die vom Unwetter erkältete Erde zu erwärmen. Müller trat vor das Thor und sah einige Männer auf das Gut zukommen. Er erkannte bereits von Weitem den Oberst Rallion und dessen Freunde. Er trat wieder in den Hof zurück, um ihnen nicht sogleich wieder als Zielscheibe ihrer schlechten Witze zu dienen. Sie kamen heran und trafen als Ersten den Arzt, welcher aus der Thür getreten war, um nach dem Wetter zu sehen.

»Heda, guter Freund!« rief ihm der Oberst zu, der ihn zunächst für einen Bauer hielt, »wißt Ihr bereits von dem Unglücke, welches dort auf dem Flusse geschehen ist?«

»Ich denke, sehr wohl,« antwortete Bertrand lächelnd.

Rallion betrachtete ihn genauer und sagte dann.

»Alle Teufel, Sie waren ja mit dabei, wenn ich nicht irre. Sie fuhren ja mit auf dem ersten Platze. Sind noch Andere gerettet?«

»Bis jetzt weiß ich nur Vier.«

»Wer ist es?«

»Zwei Damen und zwei Herren!«

»Wer sind die Damen? Schnell, schnell!«

»Die Baronesse Marion de Sainte-Marie und eine Freundin von ihr.«

»Gott sei Dank! Diese suche ich. Wer hat sie an's Ufer geschafft?«

»Doctor Müller.«

»Ah, der deutsche Tölpel!«

Der Arzt machte ein sehr ernstes Gesicht und antwortete in verweisendem Tone:

»Mein Herr, es erscheint mir gerade nicht tölpelhaft gehandelt, eine Dame vom Tode zu retten, während Andere feig davonlaufen. Hätten Sie sich nicht des Kahnes bemächtigt, der mit Ihnen verschwunden ist, so verloren weniger Menschen ihr Leben, weil man, bis der Dampfer sank, nochmals zurückkehren konnte, um Leute aufzunehmen. Sie werden von Glück reden können, wenn Ihre Handlungsweise nicht untersucht und geahndet wird.«

Er drehte sich um und schritt davon. Der Oberst blickte ihm nach und sagte:

»Jedenfalls auch ein Deutscher! Es wird hohe Zeit, daß wir die Faust auf diese rohe Menschenklasse legen. Aber ärgern wir uns nicht, suchen wir lieber die Baronesse, um ihr Glück zu wünschen.«

Er ging über den Hof hinüber und trat in die Wohnstube; die Anderen folgten ihm. Dort stand Müller, sich mit dem Meier unterhaltend. Als der Oberst ihn erblickte, lachte er laut auf und rief:

» Parbleu! das ist lustig! Seht unseren Billardkünstler als Bauer! Wie ihm die Jacke auf dem Buckel sitzt! Ich hätte ihn mögen schwimmen sehen!«

Müller machte eine höfliche Verbeugung und antwortete.

»Ich mußte wohl schwimmen, um abermals Ihre Stelle zu vertreten. Die Rettung der Baronesse wäre doch eigentlich Ihre Sache gewesen. Heute werden Sie es jedenfalls sein, der um Verzeihung zu bitten hat. Ich will Ihnen jedoch erlassen, sich auf den Tisch zu stellen.«

»Schweigen Sie!« donnerte ihn der Oberst an. »Wer hat Ihnen übrigens erlaubt, sich an dieser Dame zu vergreifen? Ihre Schwimmparthie soll Ihnen ein anständiges Trinkgeld einbringen. Hier haben Sie zwei Zwanzigfrancstücke; das ist für einen buckeligen Schulmeister eine mehr als noble Gratification. Lassen Sie sich aber nicht wieder bei der Dame sehen, sonst schlage ich Ihnen den Rücken breit, was Ihnen übrigens nur lieb sein könnte, weil dann Ihr Bisonhöcker eine manierlichere Gestalt bekäme. Hier, Sie Billardtölpel!«

Er griff in die Tasche, zog zwei Goldstücke hervor und hielt sie ihm entgegen. Müller verneigte sich höflich und antwortete:

»Ich bin ein armer Teufel und werde also Ihre freundliche Gratification annehmen, setze jedoch voraus, daß Sie mir erklären, daß Ihnen das Leben der Baronesse de Sainte-Marie wirklich vierzig Francs werth ist.«

Und als der Oberst, der sich durch diese Forderung förmlich verblüfft fühlte, nicht sogleich antwortete, fuhr er lächelnd fort:

»Ich sehe, daß Ihnen diese Summe denn doch zu hoch erscheint. Ueberlegen Sie sich den Handel, bis wir uns wiedersehen.«

Er ging. Nach einiger Zeit verließ er in seinem Anzuge, der wieder trocken geworden war, den Meierhof. Nur der Hut war auf dem Schiffe zurückgeblieben und mit diesem versunken, ebenso der alte Regenschirm. Fritz blieb zurück, da er jetzt zu Doctor Bertrand gehörte, welcher mit den Damen abreisen wollte.

Am späten Nachmittage erschien eine Dame, und ließ sich bei der Baronesse anmelden. Sie erklärte, daß sie eine Damenkonfectionärin aus Hetzerath sei, und eine Auswahl von Roben mitgebracht habe, da die Kleidung des gnädigen Fräuleins doch nicht wieder anzulegen sei. Und befragt, wie sie nach dem Meierhof komme, gab sie die Auskunft, daß sie von einem buckeligen Herrn geschickt sei, welcher ihr mitgetheilt habe, daß die beiden Damen hier ihrer wohl bedürfen werden.

»Das ist mein Retter gewesen,« dachte Marion. »Dieser Mann ist ebenso umsichtig wie kühn. Er reißt mich wirklich aus einer großen Verlegenheit, und ich wünsche sehr, ihn wieder zu sehen, um ihm danken zu können.«

Die Confectionärin verkaufte an Marion und Nanon je ein Reisegewand.


Kapitel 2.
Ein Veteran


Verfolgt man die Straße, welche von Thionville über Stuckingen nach Südosten führt, so passirt man einige kleine Zuflüsse der Mosel, und gelangt unbemerkt auf eine fruchtbare Hochebene, in deren reichen Bodenertrag sich einzelne kleine Dörfer und Meierhöfe theilen. Dort liegt der Ort Ortry mit einem Schlosse, dessen Aeußeres allerdings keinen sehr imponirenden Eindruck macht, dessen innere Ausstattung aber desto mehr von dem Reichthume seines Besitzers zeugt.

Dieser ist der Baron von Sainte-Marie. Vor einer nicht zu langen Reihe von Jahren in diese Gegend gekommen, war er den Bewohnern derselben vollständig fremd gewesen, und auch jetzt wußte man weiter nichts, als daß sein Name erst seit einiger Zeit in die Adelsregister aufgenommen worden sei.

Er lebte den Winter über in Paris und kam beim Einbruch des Frühjahres nach Ortry, um bis zum Spätherbste hier zu bleiben. Er hielt sich keine Gesellschaften und lebte sehr zurückgezogen, hatte aber auf die Arbeitsverhältnisse der Umgegend einen großen Einfluß gewonnen.

In der Nähe des Schlosses, unten am Bache, wo früher die Rinder geweidet hatten, erdröhnten jetzt die Dampfhämmer; riesige Schornsteine ragten empor, und schwarze Räder drehten sich unter heimtückischem Schnauben im Kreise. Rußgeschwärzte Arbeiter hantirten mit Zange und Feile, und auf dem ganzen Etablissement lag jene mit Ruß und metallischen Atomen geschwängerte Luft, welche eines der unangenehmsten Attribute unseres eisernen Zeitalters ist.

Der Baron von Sainte-Marie betrat diese rauchgeschwärzten Gebäude nur selten selbst. Ein Fabrikdirector hatte die Aufsicht über sämmtliche Arbeiter. Oefters jedoch stieg eine lange, hagere, weißköpfige Gestalt vom Schlosse hernieder, um, ohne ein Wort zu sagen, langsamen Schrittes die Fabrikräume zu durchwandern, und dann flüsterten die Arbeiter einander warnend zu: »Der Capitän geht um!«

Dieser Capitän war der Vater des Barons. Man erzählte sich, daß er bereits neunzig Jahre alt sei; aber seine Haltung war kerzengerade, sein dunkles Auge noch voll Leben, und sein Mund noch voll der schönsten Zähne. Diese Letzteren bemerkte man, wenn er sich in zorniger Stimmung befand. Er zog dann mit einer fletschenden Bewegung seiner Oberlippe den dicken, schneeweißen Schnurrbart empor, so daß sein starkes, blendendes Gebiß zu sehen war und demjenigen eines Hundes glich, der sich anschickt, sich auf seinen Gegner zu werfen.

Nie sprach der Capitän zu einem der Arbeiter ein Wort; nie lobte oder tadelte er; aber man wußte, daß er die eigentliche Seele des ganzen Unternehmens sei. Wenn er an der Werkbank, am Ambos, am Glühofen stehen blieb, dann nahmen sich die Leute doppelt zusammen. Beim geringsten Fehlgriff fletschte er die Zähne, kniff die Augen zusammen und entfernte sich schweigend; doch nach einigen Minuten kam sicher der Werkmeister, und sagte sein unwiderrufliches: »Abgelohnt und entlassen!«

Schritt dann der Alte wieder dem Schlosse zu, so athmeten die Leute erleichtert auf und schüttelten den Druck ab, welcher während seiner Gegenwart auf ihnen gelastet hatte.

Außer diesen Besuchen in der Fabrik war er nie zu sehen, obgleich der Förster versicherte, ihm des Nachts im Walde begegnet zu sein im tiefsten Dickicht, in der Nähe des alten Thurmes, welcher dort seit langen, langen Zeiten lag, aber von Jedermann gemieden wurde, da man wußte, daß mit den Gespenstern, welche dort hausten, nicht zu spaßen sei. Allerdings gab es einige wenige Männer, welche im Stillen über diesen Aberglauben lachten, in Gegenwart Anderer jedoch sich den Anschein gaben, als ob sie denselben theilten. –

Seit einiger Zeit hatte sich die Zahl der Arbeiter vermehrt. Es war eine Abtheilung für Feuergewehre errichtet worden. Es langten, man wußte nicht woher, ganze Wagenladungen alter Gewehre an, welchen eine neuere Construction gegeben wurde. Hatten sie diese erhalten, so verschwanden sie, ohne daß die Arbeiter wußten, wer sie abgeholt habe. Dann wurden auch bedeutende Vorräthe von Hieb- und Stoßwaffen geschmiedet, und diese Abtheilung der Fabrik war es, welcher der alte Capitän seine besondere Aufmerksamkeit widmete, allerdings auch, ohne jemals den Mund zu einem lauten Worte zu öffnen.

Von seinem Sohne, dem Baron, erzählte man sich heimlich, daß er zuweilen nicht recht bei Sinnen sei. Es solle Zeiten geben, in welchen er sich tagelang eingeschlossen halte, und dann sei in seinen Gemächern ein unterdrücktes Wimmern und Stöhnen zu vernehmen. Dann werde der alte Capitän gerufen, und nachdem dieser sich stundenlang bei seinem Sohne aufgehalten habe, lasse dieser sich wieder sehen, bleich und angegriffen, als ob er von einer langen, gefährlichen Krankheit erstanden sei.

Der Baron war ein schöner Mann, doch mit jenem geheimnißvollen, wachsartigen Teint, welcher immer auf eine eigenartige, vielleicht gar krankhafte Stimmung der Psyche schließen läßt; sein großes Auge war wie mit Flor bedeckt, und in seinem Auftreten lag eine ängstliche Scheu, deren Grund sich nicht ersehen ließ.

Ganz anders dagegen war seine zweite Frau, die Baronin. Sie war eine hohe, mehr als üppig ausgestattete Blondine, von der man wußte, daß sie das ganze Schloß regiere und sich unter Umständen sogar an den alten Capitän wage, vor dem sich doch sonst Jedermann fürchtete. Ihr Auftreten war ein anspruchsvolles, zuweilen beinahe rücksichtsloses, obgleich man sich sagte, daß es auch bei ihr Augenblicke gebe, in denen sie sehr leicht zu beeinflussen sei.

Die meiste Sympathie hatte Baronesse Marion sich zu erringen gewußt. Leider aber war sie seit zwei Jahren in England gewesen, und man erfuhr nur ganz zufällig, daß sie nächster Zeit über Deutschland heimkehren werde.

Im Gegentheil zu ihr war ihr Stiefbruder der Plagegeist Aller, welche mit ihm in Berührung kamen. Von seiner Mutter verwöhnt und von seinen bisherigen Erziehern verzärtelt, war er das einzige Wesen, dem der alte Capitän sein Herz geschenkt zu haben schien. Dieser machte ihn fortgesetzt darauf aufmerksam, daß er der Sohn der Sainte-Marie's sei, deren Familie nur auf diesem einen Auge stehe. Der Knabe wurde dadurch stolz, hochmüthig, befehlshaberisch und begann, sich für etwas unendlich Höheres und Besseres zu halten, als Andere. Seine größte Freude war, Untergebenen und Arbeitern zu zeigen, daß sie ihm in allen Stücken zu gehorchen hätten, und wehe dem, der ihm widersprach; er war von Seiten des Knaben und seiner Eltern der unwiederbringlichsten Ungnade verfallen. –

Es war des Vormittags. Wer an der Thür des Badezimmers der Baronin von Sainte-Marie gelauscht hätte, dem wäre ein leises Plätschern aufgefallen, welches im Innern zu hören war. Und wer das Glück gehabt hätte, eintreten zu dürfen, dem wäre gewiß die lascive Ausstattung dieses Raumes aufgefallen.

Dieses Zimmer hatte nämlich kein Fenster. Es bildete einen achteckigen Raum, dessen eine Wand durch die Thür gebildet wurde. Die anderen sieben Seiten wurden von Gemälden eingenommen, welche in der Weise angelegt waren, daß der Baderaum eine von Weinranken überdachte Insel bildete, um welche badende Frauen und Männer in den obscönsten Stellungen zu erblicken waren. Aus der Mitte des Rankendaches hing eine rosae Ampel herab, welche die drastischen Scenen mit einem wollüstigen Lichte übergoß.

Gerade unter dieser Ampel stand eine marmorne Badewanne, welche nicht mit Wasser, sondern mit Milch gefüllt war. Und in diesem weichen, weißen Bade plätscherte die üppige Gestalt der Baronin. Die gnädige Frau behauptete nämlich, daß die Milch das einzige Mittel sei, einen schönen Teint und die Reinheit der Formen bis in das späteste Alter zu erhalten. Und so wurde der bedeutendste Theil vom Ertrag der herrschaftlichen Milcherei für die täglichen Bäder der gestrengen Herrin verwendet, ohne daß der Baron etwas dagegen zu sagen gehabt hätte.

Ob die Ansicht der Baronin eine richtige sei, mag dahingestellt bleiben; gewiß aber ist, daß sie nach dem Bade sich stets in einer besseren Laune als sonst befand. Dies schien auch heute der Fall zu sein. Sie stieg aus der stärkenden Fluth und ließ sich langsam abtropfen. Dabei betrachtete sie die Wandgemälde und verglich die Schönheiten der badenden Frauen mit den Reizen, welche sie selbst besaß. Diese Vergleichung schien nicht unbefriedigend ausgefallen zu sein, denn es spielte ein selbstbewußtes Lächeln um ihre vollen, schwellenden Lippen, und sie flüsterte, stolz mit dem Kopfe nickend:

»Wahrhaftig, wäre ich ein Mann, so würde ich mich unbedingt in mich selbst verlieben. Ich kenne keine Zweite, welche so wie ich geeignet wäre, auch den weitgehendsten Ansprüchen zu genügen. Das thut die Milch. Sie conservirt den weiblichen Körper. Die Milch! Hahaha, dieser Stoff ist mir vertraut. Früher habe ich ihn mit diesen eigenen Händen gemolken, als Dienstmädchen! und jetzt bade ich mich in ihr, als Baronin!«

Sie schlüpfte in das Badehemd und klingelte. Eine Zofe trat ein, um sie zu bedienen. Sie trocknete die gnädige Frau ab, wechselte das Badehemd dann mit feiner Leibwäsche, und geleitete sie sodann nach dem Boudoir, um die eigentliche Toilette zu beginnen.

»Ist Alexander schon wach?« fragte die schöne Frau.

»Bereits seit zwei Stunden,« antwortete die Zofe.

»Ah, wie viel Uhr haben wir?«

»Elf.«

»So hat er sich bereits um neun Uhr erhoben! Das darf ich nicht dulden. Mein guter Knabe hat keine so eiserne Constitution wie ein Eisenschmied. Was thut er jetzt?«

»Er befindet sich bei dem gnädigen Herrn Capitän, der ihm, wie ich glaube, Fechtunterricht ertheilt.«

»Fechtunterricht! Einem sechszehnjährigen Knaben! Ich sehe, daß ich mit meinem Herrn Schwiegerpapa wieder einmal ernstlich sprechen muß. Alexander muß sich physisch noch bedeutend entwickeln, ehe er einen Degen in die Hand nehmen darf. Hast Du den Director bereits gesehen?«

»Nein. Er kommt gewöhnlich erst ein Viertel nach Elf.«

»So passe auf. Ich habe ihn zu sprechen, bevor er zum Capitän geht.«

»Ich werde ihn auf der Treppe erwarten.«

Bei diesen Worten überflog das Gesicht des Mädchens ein impertinentes, vielsagendes Lächeln, welches die Herrin nicht bemerkte, da die Zofe hinter ihr stand. –

Ueber dem Boudoir der Baronin lag das Lieblingszimmer des Capitäns. Es war ein dreifenstriger Raum, mit den einfachsten Möbels ausgestattet. Zwei altmodische Spiegel hingen an den Fensterpfeilern. Stahlstiche der Siege Napoleon's des Ersten schmückten die Wände, und dazwischen hingen Waffen aller Art, erbeutete Trophäen und verschiedene andere Andenken an die Märsche und Schlachten, welche der Capitän unter dem großen Corsen mitgemacht und mit erfochten hatte. Er war Capitän der berühmten Garde gewesen, hatte für den Ruhm Napoleon's und Frankreichs geblutet und lebte nur der Erinnerung jener großen, ereignißreichen Zeiten. Trotz seines hohen Alters schwärmte er noch heute für die Glorie Frankreichs, hing mit ganzer Seele an dem Namen Napoleon, und war bereit, die wenigen Jahre, welche ihm voraussichtlich noch beschieden waren, der Ehre seines Vaterlandes und der Befestigung des Thrones seines Herrschers zum Opfer zu bringen.

Der alte Krieger, den die Last der Jahre nicht zu beugen vermocht hatte, glich einem seit Jahrhunderten in Ruhe liegenden, von Schluchten, Spalten und Rissen tief zerklüfteten Vulkane, zu dessen Spitze man jedoch noch immer mit Mißtrauen emporschaut, da man sich des Gedankens nicht erwehren kann, daß einmal eine Eruption erfolgen könne, bei welcher das so lange Zeit scheinbar schlummernde Verderben desto grimmiger und verheerender hervorbrechen werde.

Und wie sein Körper, so war auch seine Geisteskraft noch ungebrochen. Wie sein Auge, noch vollständig ungetrübt, ebenso in die Ferne zu blicken, wie in der Nähe mit seiner Schärfe Alles zu durchdringen vermochte, so waren sein Scharfsinn und seine gute Beobachtungsgabe von Allen gefürchtet, die mit ihm in Berührung kamen. Es hatte noch Keinen gegeben, der klug genug gewesen war, ihn täuschen zu können. Er war ein harter, strenger, eigenwilliger Kopf. Man wußte, daß er in den Mitteln, seine Zwecke zu erreichen, nicht im Mindesten wählerisch sei und sogar gewissenlos sein könne.

Die einzige Schwachheit, welche man an ihm entdeckt hatte, war seine mehr als nachsichtige Liebe zu seinem Enkel, den er auf das Aergste verwöhnte.

An diesem Morgen war dieser bei ihm, wie die Zofe ihrer Herrin ganz richtig gesagt hatte. Er hatte ihm ein ganz kleines Weilchen Fechtunterricht gegeben. Er war in der Kunst des Fechtens Meister gewesen, und noch heute besaß er genug Muskelkraft und Schärfe des Auges, um sich mit Jedem zu messen, der es wagen wollte, einen Gang mit ihm zu machen.

Nun saßen sie beieinander und sprachen – von dem deutschen Lehrer, welcher nun bald auf Schloß Ortry eintreffen sollte.

»Warum hast Du mir denn einen Deutschen ausgewählt, Großpapa?« fragte Alexander, der bei seinen sechszehn Jahren bereits so entwickelt war, daß man ihn keinen Knaben mehr nennen konnte.

»Aus mehrerlei Gründen, mein Sohn,« antwortete der Alte. »Zunächst zeigten sich Deine bisherigen französischen Lehrer in vieler Beziehung zu selbstständig; diese Deutschen aber sind gewohnt, zu gehorchen; sie sind die besten, die unterthänigsten Dienstleute, weil sie gewohnt sind, keinen Willen zu haben.«

Die Wahrheit war, daß die bisherigen Erzieher Alexander's denn doch in der Vergötterung des Knaben nicht gar zu weit hatten gehen wollen.

»Du meinst also,« sagte dieser, »daß so ein Deutscher ein gutes Spielzeug ist, ein Dienstbote, der sich vor den Franzosen fürchtet?«

»Ganz gewiß. Und ein zweiter Grund ist der, daß diese Deutschen ganz außerordentlich gelehrt sind. Bei Deinem neuen Lehrer wirst Du in einer Woche mehr lernen als früher in einem Monat.«

»Das heißt ja beinahe, daß die Franzosen gegen die Deutschen dumm sind!«

»Nein. Wir sind die Meister im practischen Leben; sie aber träumen gern; sie hocken über ihren Büchern und wissen vom wirklichen Leben nichts. Dieser Doctor André Müller wird vom Fechten, Reiten, Schwimmen, Tanzen, Exercieren, Jagen, Schießen, Conversiren und vielen anderen nothwendigen Dingen gar nichts verstehen, aber er wird Dir von Griechenland, Egypten und China Alles sagen können, obgleich er kaum wissen wird, wie groß Paris ist, und daß wir bei Magenta die Oesterreicher geschlagen haben. Die Hauptsache ist, daß Du bei ihm die deutsche Sprache sehr bald, sehr leicht und sehr vollständig erlernen wirst.«

»Deutsch soll ich lernen?« fragte Alexander mit Nasenrümpfen. »Warum? Ich habe keine Lust, mich mit der Sprache dieser Barbaren und Büchermilben abzuquälen!«

»Das verstehst Du nicht, mein Sohn,« erläuterte der Alte. »Es wird die Zeit kommen, und sie ist vielleicht sehr bald da, daß unsere Adler steigen werden, wie zur Zeit des großen Kaisers. Sie werden über den Rhein hinüberfliegen und Deutschland mit ihren scharfen, siegreichen Krallen ergreifen. Dann werden wir über das Land herrschen, welches einst uns gehörte, uns vom Unglücke aber für einige Zeit wieder entrissen wurde. Es wird wieder eine Aera anbrechen, in welcher der Tapfere mit Fürsten- und Herzogthümern, ja mit Königreichen belohnt wird, wie Murat und Beauharnais, wie Davoust, Ney und andere Helden, und wer dann die Sprache des Landes versteht, dessen Herrscher er geworden ist, der hat doppelte Macht und Gewalt über seine Unterthanen. Du bist ein Sainte-Marie, und Du bist mein Enkel, Du sollst und Du wirst zu den Tapfersten gehören. Du sollst mit dem Adler Frankreichs fliegen, und Deinem Ruhme soll der Lohn werden, welcher mir versagt blieb, weil die englischen Schurken meinen Kaiser in Ketten schmiedeten, auf einem fernen, abgeschlossenen Eilande, wie einen Prometheus, den man nicht zu entfesseln wagt, weil dann die Völker aus Angst vor ihm heulen würden.«

Die Erinnerung an den Ruhm und das Unglück seines Kaisers war in ihm wach geworden. Er hatte sich erhoben und sprach mit lebhaften Gesticulationen. Seine dunklen Augen blitzten, und bei den Worten, welche sich auf St. Helena bezogen, stieg sein gewaltiger Schnurrbart empor, und seine Zähne zeigten sich, das Gebiß eines Panthers, welcher zum Sprunge ausholt.

Da fiel sein Blick zufällig durch das Fenster auf den Weg hinab, welcher von den Eisenwerken nach dem Schlosse führte. Seine Oberlippe fiel herab, seine Brauen zogen sich zusammen, und mit völlig veränderter Stimme fuhr er fort:

»Doch davon werden wir später sprechen, mein Sohn. Jetzt gehe hinab und siehe zu, ob der Groom den Pony eingeschirrt hat, um Dich spazieren zu fahren.«

Das ließ sich Alexander nicht zweimal sagen; er eilte fort. Der Capitän aber trat von Neuem zum Fenster und heftete seine Augen mit finsterem Ausdrucke auf den Mann, der langsam nach dem Schlosse herbeigeschritten kam.

Dieser Mann hatte eine hohe, breite, kraftvolle Figur, und die Züge seines Gesichtes konnten interessant genannt werden. Er hielt den Blick scheinbar zu Boden gerichtet, als sei er in tiefes Nachsinnen versunken; aber wer ihn hätte beobachten können, dem wäre aufgefallen, daß sein Auge unter den gesenkten Lidern heraus forschend nach den Fenstern derjenigen Zimmer schielte, welche die Baronin bewohnte.

»Es wird hohe Zeit, dem Spaße ein Ende zu machen,« brummte der Capitän, indem er das Fenster verließ, um von dem Manne nicht bemerkt zu werden. »Er war außerordentlich brauchbar und hat Alles auf das Trefflichste arrangirt. Er ist auch bisher verschwiegen gewesen; aber seit neuerer Zeit steigt er mir mit seinen Ansprüchen zu hoch. Ich habe ihm bisher diese Baronesse überlassen, welche leider meine Schwiegertochter ist; nun aber soll mir die Verirrung der Beiden einen Grund liefern, mit ihm fertig zu werden. Ich werde bei ihm aussuchen, und das wird mir leicht werden, da ich unsere Möbels kenne. Ein Glück ist es, daß noch kein Mensch das Geheimniß dieses alten Schlosses kennt.«

Er trat an seinen Schrank und öffnete ihn. Er langte zwischen den Kleidern hinein, und sogleich ließ sich ein leises Knarren vernehmen – die hintere Wand des Schrankes wich zurück. Er trat in den Schrank, verriegelte die Thür desselben hinter sich und stieg in die entstandene Oeffnung. Es zeigte sich, daß das Schloß hier, vielleicht auch in anderen Theilen, doppelte Wände hatte, zwischen denen man aus einem Stockwerk in das andere und von einem Zimmer in das andere gelangen konnte, um durch geheime Oeffnungen die Insassen dieser Zimmer zu beobachten und zu belauschen.

Eine schmale, den ganzen, vielleicht zwei Fuß breiten Zwischenraum ausfüllende Treppe führte zwischen der Doppelwand abwärts. Der Alte schien den Weg sehr gut zu kennen. Er stieg trotz des Dunkels, welches hier herrschte, mit großer Sicherheit hinab und blieb an einer Stelle stehen, welche er vorsichtig mit der Hand betastete.

Es gab hier einen lockeren Ziegelstein, welcher sehr leicht aus der Mauer zu ziehen war. Als der Capitän dies gethan hatte, ohne dabei das leiseste Geräusch zu verursachen, erschien eine matt geschliffene Glastafel. Diese war im Boudoir der Baronesse ganz oben unterhalb der Decke angebracht und hatte so genau die Breite und auch ganz die Zeichnung der dort befindlichen Kante, daß man ihre Anwesenheit gar nicht bemerken konnte. Aber das eingeschliffene Muster bildete durchsichtige Stellen, durch welche man sehr leicht das Boudoir zu beobachten vermochte, und durch die dünne Glastafel konnte man auch die dort geführte Unterhaltung vernehmen, falls sie nicht im Flüstertone geführt wurde.

Der Alte brachte seinen Kopf an die Oeffnung und blickte hinab. Die Baronesse saß ihm gerade gegenüber auf einer Ottomane. Sie trug ein dünnes, weißes, von rosaseidenen Schleifen zusammengehaltenes Morgenkleid; doch waren die Schleifen so nachlässig zusammengezogen, daß zwischen den beiden Säumen des Kleides die feine Stickerei des Hemdes hervorblickte. Da dieses Hemd tief ausgeschnitten war, und oben nicht durch ein gewöhnliches Corset, sondern durch ein schmales, dünnes und nachgiebiges orientalisches Mieder unterstützt wurde, so glänzte durch die Spalte der Alabaster der Büste hervor, ein Umstand, der außerhalb aller Berechnung schien, aber doch das Ergebniß einer sehr bewußten Raffinerie war.

Vor ihr stand der Mann, dessen Kommen der Capitän beobachtet hatte. Es war der Fabrikdirector, welcher von der Zofe auf der Treppe erwartet und zu ihrer Herrin geschickt worden war. Er hielt unter dem Arme ein ziemlich umfangreiches Buch, nach welchem die verführerische Frau soeben ihre Hand ausstreckte.

»Aber bitte,« sagte sie, »legen Sie doch diesen häßlichen Band ein Wenig fort, und setzen Sie sich an meine Seite.«

»Verzeihung, theure Adeline,« antwortete er, »ich darf mich nicht verweilen. Ich muß zum Capitän. Vielleicht hat er mein Kommen durch das Fenster bemerkt und schöpft Verdacht, wenn ich zu erscheinen zögere.«

»Der häßliche Alte!« seufzte sie, indem sie einen verzehrenden Blick auf den Director warf.

»Auch mir wird er immer unbequemer. Nicht nur, daß er der Einzige ist, dessen Scharfsinn das stille, heimliche Glück unserer Liebe in Gefahr bringt, er weiß auch gar nicht, Verdienste anzuerkennen. Hielten Sie mich nicht hier fest, so würde ich mein Engagement längst aufgegeben haben.«

»Ah!« dachte der Lauscher. »Es wird also Zeit, nachzuforschen, ob ich mich wirklich auf ihn verlassen konnte.«

»Thun Sie das nicht,« fiel sie schnell ein. »Ich würde mich hier ganz unglücklich fühlen. Aber es ist wahr, Sie dürfen ihn nicht warten lassen. Meine Sehnsucht nach Ihnen kann ja auf andere Weise gestillt werden. Sind Sie heute Abend frei?«

»Ja, aber allerdings erst spät.«

»Wie viel Uhr?«

»Von zehn Uhr an, theure Adeline.«

»So werde ich um diese Zeit das Schloß verlassen und nach der Parkwiese kommen. Können Sie mich dort erwarten?«

»Es wird mir eine Seligkeit sein, Sie dort zu treffen!«

»So gehen Sie jetzt, Sie lieber, lieber Mann!«

Er ergriff ihre Hand, um einen Kuß auf dieselbe zu drücken; sie aber hob den Kopf und bot ihm ihre Lippen dar. Der für die Hand bestimmte Kuß traf den Mund, und dann verließ der Director das Boudoir.

Als er bei dem Capitän eintrat, fand er diesen bei einer Menge von Scripturen an dem Arbeitstische sitzen.

»Sie kommen, den Tagesbericht abzugeben?« fragte der Alte, ohne sich zu erheben.

»Allerdings, Herr Capitän,« lautete die Antwort.

»Ich habe heute nicht viel Zeit. Giebt es Etwas Aufschiebbares?«

»Haus Monsard und Compagnie hat Geld geschickt.«

»Endlich! Wie viel?«

»Zwölftausend Francs. Ebenso Léon Siboult achttausendfünfhundert.«

»Das freut mich. Haben Sie die beiden Summen mit?«

»Ich wollte sie aufzählen.«

»Das hat Zeit bis morgen. Vielleicht ist ein Theil dieser Summe dazu bestimmt, Ihnen zu beweisen, daß ich Ihre Wirksamkeit anerkenne. Aber sprechen Sie heute mit Niemand davon. Morgen werden wir uns einigen. Adieu!«

Der Director hätte gern einige dankbare Worte ausgesprochen; aber er kannte seinen Gebieter. Hatte dieser einmal »Adieu« gesagt, so konnte ihn jedes weitere Wort nur in Harnisch bringen. Darum begnügte er sich, unter einer tiefen Verneigung abzutreten. Während er die Treppe hinunterstieg, dachte er:

»Wußte ich das, so konnte ich der Baronin noch ein Viertelstündchen widmen. Wer weiß, ob sie sich heute Abend wieder in einer solch' liebevollen Stimmung befindet!« –

Alexander hatte die Weisung seines Großvaters befolgt und war nach dem Stalle gegangen. Dort war der Groom beschäftigt gewesen, den Pony vor den leichten Wagen zu spannen, um den jungen Herrn auszufahren, was täglich um diese Zeit zu geschehen pflegte. Als das Gespann bereit war, wollte der Kutscher auf den Bock steigen, aber Alexander hielt ihn zurück.

»Halt, steige in den Wagen; ich werde selbst fahren!«

»Aber, gnädiger Herr Alexander, das haben Sie ja noch nicht gelernt!«

»So werde ich es heute lernen!«

Der Groom wußte, daß hier ein fernerer Widerspruch vergebens sein werde. Er gehorchte also und setzte sich in den Wagen, während Alexander die Zügel und die Peitsche ergriff, und auf dem Bocke Platz nahm. Das Pferd setzte sich in Bewegung. –

Zu derselben Zeit saß im Wirthshause des Dorfes Oudron ein Mann, der in einen langen Frack gekleidet war, eine große Messingbrille trug und auf dem Rücken – ausgewachsen war. Es war Doctor Müller. Er war in diesem Augenblicke der einzig anwesende Gast, und die Wirthin hatte sich zu ihm gesetzt, um sich ein Wenig von der anstrengenden Küchenarbeit auszuruhen. Sie schien eine sehr redselige Frau zu sein, denn sie hatte seit zehn Minuten dem Gast bereits ihren ganzen Lebenslauf erzählt, und ihn auch mit den Familiengeheimnissen des Dorfes bekannt gemacht. Jetzt nahm sie ihn schärfer auf das Korn und fragte:

»Wie mir scheint, sind Sie fremd hier, Monsieur?«

»Vollständig,« antwortete Müller.

»Wo wollen Sie hin?«

»Nach Ortry.«

»Ah, das ist ja mein Geburtsort! Haben Sie vielleicht Verwandte dort?«

»Nein. Ich komme von sehr weit her. Ich bin ein Deutscher.«

»Unmöglich!« rief sie. »Sie sprechen ja das Französisch so geläufig und regelrecht, daß man meinen sollte, Sie seien auch in Ortry geboren.«

Er unterdrückte das Lächeln, welches auf die Lippen treten wollte. Diese gute Frau schien der Meinung zu sein, daß in Ortry das beste Französisch gesprochen werde, und doch war ihre Sprache so schwerfällig und mit einer ganzen Menge von Germanismen gespickt.

»Ich habe einen guten Franzosen als Lehrer gehabt,« erklärte er.

»Der ist sicher aus Ortry oder aus der hiesigen Gegend gewesen!« meinte sie. »Werden Sie längere Zeit dort bleiben?«

»Voraussichtlich, Madame. Ich begebe mich zum Baron de Sainte-Marie, bei welchem ich als Erzieher seines Sohnes engagirt bin.«

»Mein Gott, Sie Aermster!« rief sie. »Da werden Sie harte Arbeit haben!«

»Warum?«

»Weil Monsieur Alexander bisher alle Monate einen anderen Erzieher gehabt hat. Es konnte Keiner länger aushalten!«

»Sie eröffnen mir da eine schlimme Perspective. Wer trägt denn eigentlich die Schuld, daß die Herren so bald wieder fortgegangen sind?«

»Alle, nur diese Herren selbst nicht. O, die frühere Herrschaft, das war da etwas ganz Anderes! Ich bin da selbst Stubenmädchen gewesen, ehe ich meinen ersten Seligen kennen lernte.«

»Ah! Sie haben mehrere Selige, Madame?« fragte Müller.

»Zwei. Und vom Dritten habe ich mich scheiden lassen. Sie müssen nämlich wissen, daß dies geschehen konnte, weil ich nicht katholisch bin. Also, Monsieur, ich bin auf Schloß Ortry Zimmermädchen gewesen und bedaure, daß dieses Besitzthum in solche Hände gerathen ist. Ich sollte Ihnen dies allerdings nicht sagen, da Sie ja selbst ein Bewohner sein werden; aber ich kann mir nicht helfen. Ich kann diese Barons einmal nicht ausstehen.«

»Warum, Madame?« fragte Müller, dem es sehr gelegen kam, hier etwas Näheres über seinen Bestimmungsort zu erfahren.

»Warum? Mein Gott, da giebt es eine ganze Menge Gründe! Fangen wir einmal von oben an! Da ist zunächst dieser Capitän – –«

»Ein Capitän? Wer ist das?«

»Wer das ist? Ja so, Sie sind dort noch unbekannt! Der Capitän ist der Vater des Barons, ein Veteran der Napoleon'sschlachten im Alter von wohl neunzig Jahren. Er ist ein Satan, ein Teufel, ein Beelzebub. Er hat weißes Haar, aber ein schwarzes Herz. Er spricht niemals ein Wort und übt doch eine Herrschaft aus, als ob er den Mund nicht einen Augenblick halten könne. Er ist es auch, der das große Eisenwerk regiert, und wer es mit ihm verdirbt, um den ist es geschehen. Ferner die Baronin.«

Die Wirthin machte hier eine Pause, um Athem zu schöpfen, dann fuhr sie fort:

»Von der Baronin sagt man im Stillen, daß sie eine Bauernmagd aus dem Argonner Walde sei. Sie hält sich für ungeheuer schön, und soll in Paris etliche hundert Anbeter haben. Sie putzt sich den ganzen Tag, trägt sich wie ein junges Mädchen und knechtet die Dienstboten. Nur für den alten Capitän hegt sie eine Art von Respect, im Uebrigen aber ist sie die Herrin des Hauses.«

»Und der Baron selbst?«

»O, der gilt gar nichts! Er ist ein guter Kerl, der sich Alles gefallen läßt, und zuweilen soll er im Kopfe nicht ganz richtig sein. Dann schließen sie ihn ein, und man sagt, daß er zu solchen Zeiten sogar Schläge erhält, denn man hat ihn ganz erbärmlich klagen und winseln gehört. Diese Anfälle kommen nur im Sommer, eigenthümlich! Im Winter lebt er mit der Baronin in Paris, und da soll er ganz gesund im Kopfe sein. Ferner ist da der junge Herr, der Alexander.«

»Das ist der Sohn, dessen Lehrer ich sein werde?«

»Ja, denn es ist weiter kein Sohn vorhanden. Der ist kaum sechszehn Jahre alt und hält sich doch bereits für einen großen Herrn. Lernen will und mag er partout nichts. Sie können sich die größte Mühe geben, so ist es doch umsonst. Ich weiß gewiß, daß Sie bei mir einkehren werden, nämlich auf der Rückreise nach Ihrer Heimath. Ich kann nicht begreifen, daß Sie engagirt worden sind, da sämmtliche Bewohner des Schlosses Deutschland hassen. Es ist überhaupt für Sie hier eine gefährliche Gegend. Die Deutschen sind hier nicht gern gelitten. Man spricht sogar von einem Kriege mit da drüben und –«

Sie hielt inne, als ob sie zu viel gesagt habe. »Nun, und?« fragte er.

»O, es ist nicht meine Art und Weise, das zu wiederholen, was meine Gäste sprechen. Ich an Ihrer Stelle würde mich nicht allzulange in dieser Gegend verweilen.«

»Waren das alle Personen, von denen zu sprechen war, Madame?«

»Ich könnte vielleicht noch das gnädige Fräulein erwähnen, aber sie ist längere Zeit nicht anwesend gewesen. Sie ist in England. Man sagt, daß sie der Liebling des Vaters sei, während sie von ihrer Stiefmutter gehaßt werde. Sie ist eine gute Dame, nicht stolz, gar nicht. Sie besucht die Armen und Kranken, und hilft, wo sie nur helfen kann. Ihre Mutter soll ein Engel an Schönheit, Güte und Milde gewesen sein. Sie ist am gebrochenen Herzen gestorben; warum, das weiß man nicht. Man hat sie hart an der Mauer des alten Thurmes begraben, weil sie eine Heidin war.«

»Eine Heidin, wie meinen Sie das?«

»Nun, der Baron hat sie von sehr weit hergebracht, von dort her, wo es Tiger und Löwen giebt. Sie hat keine Christin werden wollen, und darum ist ihr auch die geweihte Erde versagt worden. Nun liegt sie im Walde begraben, und geht des Nachts im alten Thurme um.«

»Ah! Hat man sie vielleicht gesehen?« fragte Müller.

»Gesehen? Ob man sie gesehen hat!« rief die Frau, ganz erstaunt über eine solche Frage. »Gesehen und gehört hat man sie! Sie geht durch den Wald, im weißen Kleide, wie sie auch früher stets gegangen ist, und hundert Irrlichter tanzen um sie her. Dann verschwindet sie im Thurme und erscheint oben auf der Zinne desselben. Und wenn sie da fort ist, dann hört man unter der Erde ein Klirren und Klingen, als ob tausend Geister mit Ketten rasselten. Es wagt es kein Mensch, des Nachts zum Thurme zu gehen.«

»Wenn Niemand hingeht, wer hat dann diese Erscheinungen beobachtet?«

»Der vorige Förster. Als er angestellt wurde, war er ein junger muthiger Mann; er glaubte nicht an Geister und Gespenster, und schlich sich in den Wald, um die Erscheinungen zu untersuchen. Er hat nach den Lichtern geschossen, aber nichts getroffen. Er wurde darauf entlassen, weil er die Ruhe der seligen Baronin entweiht hat.«

Müller schüttelte den Kopf. Diese Erzählung war jedenfalls nicht ganz aus der Luft gegriffen; etwas Wahres war daran, wenn auch der Kern in Dichtung eingehüllt war. Es schien ihm ganz so, als ob er einer höchst interessanten Zukunft entgegengehe.

Die Wirthin kehrte, nachdem sie ihrer Redseligkeit Genüge gethan hatte, nach der Küche zurück, und Müller brach auf, um nach Ortry zu wandern.

Die Sonne schien warm vom Himmel herab, und darum schritt er nur langsam vorwärts. Es war ihm keine Zeit gestellt, und so blieb es sich ja ganz gleich, ob er eine Stunde früher oder später an seinem Bestimmungsorte anlangte.

Er kannte die Richtung, in welcher dieser liegen mußte, und er hielt dieselbe ein, ohne sich nach dem eigentlichen, richtigen Wege zu erkundigen. Es liegt etwas Verführerisches darin, den Schritt ganz nach Gutdünken lenken zu können, und er gab diesem Reize zur Genüge nach, sodaß er schließlich bemerkte, daß sich der Weg, dem er bisher gefolgt war, in einem Wäldchen verlief.

Ohne sich Sorge zu machen, schlenderte er durch dasselbe hindurch, schritt über eine Wiese hinüber und gelangte an einen großen Steinbruch, dessen hohe, steil empor steigende Wände ihm ein unüberwindliches Hinderniß entgegenstellten. Darum kletterte er an der Seite des Bruches empor und wunderte sich, daß der Rand dieses gefährlichen Abgrundes nicht mit einer Barriére versehen war. Da oben lagen Felder, welche hart an die scharfe Kante der Felsen heranreichten. Wie nun, wenn beim Ackern oder Eggen ein Pferd scheu wurde und den Mann sammt dem Geschirr da hinunter in die gähnende Tiefe riß?

Er war sich dieses Schwindel erregenden Gedankens kaum bewußt geworden, so stieß er einen Ruf des Schreckens aus. Ein lauter Schrei hatte ihn veranlaßt, seitwärts hinüber zu blicken, wo Arbeiter auf einem Felde beschäftigt waren. Von dort her kam ein kleiner, leichter Wagen, vor welchen ein Pony gespannt war, in voller Carriere herangesaust. Ein Knabe saß auf dem Bocke; er hatte die Zügel verloren und hielt sich krampfhaft fest, um nicht herabzufallen.

Das Pferd galoppirte gerade auf den Steinbruch zu. Es war verloren; es konnte nicht aufgehalten werden; keine Menschenkraft war stark genug, den Galopp des Thieres zu mindern, bevor es den Abgrund erreichte. Müller versuchte es dennoch. Er sprang am Rande des Felsens entlang, aber er hatte nicht die Schnelligkeit des Pferdes. Noch war es höchstens zehn Schritte vom Abgrunde entfernt, da erreichte er den Wagen, dem er schräg entgegen geflogen war. Konnte denn nicht wenigstens der Knabe gerettet werden? Müller hatte seine Kaltblütigkeit keinen Augenblick verloren. Er stemmte sich mit dem einen Fuße fest, und während der Wagen an ihm vorübersauste, streckte er den Arm nach dem Bocke aus, faßte den Knaben, der mit vor Angst weit offenen Augen in die Leere starrte, und riß ihn herab. Im nächsten Augenblicke flogen Pferd und Wagen in einem weiten Bogen über die Kante des Abgrundes hinaus und in die Tiefe hinab, wobei Müller nun erst bemerkte, daß sich noch eine menschliche Gestalt im Wagen befand, welche sich vor Schreck auf dem Boden zusammengekauert hatte. Von unten herauf erscholl ein dumpfer Krach; dann war Alles vorbei.

Der Knabe lag ohnmächtig am Boden. Seiner feinen Kleidung nach war er jedenfalls das Kind nicht gewöhnlicher Eltern. Während Müller sich um ihn bemühte, kamen die Feldarbeiter herbei, deren Ruf ihn erst aufmerksam gemacht hatte.

»Welch ein Glück, daß Sie ihn herunterrissen!« rief der Eine bereits von Weitem. »Es ist der junge Herr!«

»Welcher junge Herr?« fragte Müller.

»Der Herr Baron.«

Die Leute bückten sich zu Alexander nieder; sie mochten ihn für todt halten.

»Er lebt,« meinte Müller. »Er ist nur ohnmächtig. Welchen Baron meinen Sie?«

»Den Baron von Sainte-Marie. Ah, das wird eine gute Belohnung geben. Greift zu, damit wir ihn auf das Schloß schaffen!«

Sie faßten an und trugen den Knaben fort. Müller ließ sie gehen; er lächelte darüber, daß sie um des Lohnes willen sich gar nicht um sein besseres Recht bekümmerten. Er kehrte um und stieg wieder in den Steinbruch zurück. Als er da unten ankam, bot sich ihm ein schauderhafter Anblick. Der Wagen lag, in kleine Stücke zerschmettert, auf dem todten Pferde, welches eine weiche, formlose Masse bildete, und ein Stück weiterhin lag der Groom, ebenfalls bis zur Unkenntlichkeit entstellt. Hier war nichts zu thun. Müller brauchte sich um eine Anmeldung und weitere Verfolgung des Falles nicht zu bekümmern; er wußte, daß dies von anderer Seite geschehen werde, und schlenderte also Ortry langsam entgegen.

Dort war mittlerweile die Zeit des zweiten Frühstückes angebrochen, und die Glieder der Familie waren im Speisesaale an der Tafel versammelt. Es war bei dieser Gelegenheit recht deutlich zu sehen, daß diese Leute in keinem innigen seelischen Zusammenhange mit einander standen. Die einzelnen Personen kamen ganz nach Belieben herbei und nahmen mit einem stummen Gruße an der Tafel Platz. Die Baronin präsidirte; der Kapitän beachtete sie kaum mit einem Blicke, und der Baron saß wie abwesend dabei und aß mit einem Gesichtsausdrucke, als wisse er überhaupt gar nicht, daß und was er esse. Nur nach längerer Zeit, als der junge Herr sich noch immer nicht eingestellt hatte, frug der Kapitän:

»Wo bleibt Alexander?«

»Der junge, gnädige Herr ist ausgefahren,« antwortete einer der Diener.

Nun folgte wieder dieselbe Stille und Wortlosigkeit wie bisher, bis man an den Schluß des Frühstückes angekommen war. Da vernahm man unten vom Hofe herauf laute, erschrockene Stimmen. Der Capitän trat an das Fenster und sah nur noch einige fremde Leute, welche, Etwas tragend, im Eingange verschwanden.

»Was ist's?« fragte die Baronin, indem sie sich erheben wollte.

»Warten Sie, ich werde nachsehen!« sagte der Alte, dem eine Ahnung kam, daß die Last, welche diese Leute getragen hatten, eine menschliche Person gewesen sei.

Er schritt hinaus und begegnete ihnen auf der Treppe. Als sie ihn erblickten, hielten sie respectvoll an. In Gegenwart dieses Mannes wagte Keiner, unaufgefordert ein Wort zu sprechen. Er trat hinzu und erkannte Alexander. Seinen Liebling todt oder besinnungslos zu sehen, kam ihm unerwartet und mußte ihn tief ergreifen; aber es zuckte dennoch keine Miene seines eisernen Gesichtes, als er in ruhigem Tone fragte:

»Was ist mit ihm?«

»Er ist nicht todt, gnädiger Herr,« sagte einer von den Leuten, »sondern nur ohnmächtig. Der Fremde sagte es, der ihn untersucht hatte.«

»Welcher Fremde?«

»Der ihn vom Wagen riß, als das Pferd durchgegangen war und mit dem Wagen in den Steinbruch stürzte.«

Seine äußeren Augenwinkel legten sich nach den Schläfen hin in tiefe Falten; dies war das einzige Zeichen seines Schreckes. Er drehte sich zu einem der dabei stehenden Reitknechte und befahl diesem:

»Anspannen! Im Galoppe nach Thionville, um Doctor Bertrand zu holen!«

Dann ließ er sich den Fall ausführlich erzählen. Er fragte, wer der Fremde gewesen sei, konnte aber keine Auskunft erhalten. Die Leute hatten den Mann, um nur mit dem jungen Herrn so eilig wie möglich fort zu kommen, gar nicht so genau betrachtet.

»Er wird sich jedenfalls melden,« brummte der Capitän. »Eine Belohnung läßt sich Keiner entgehen. Folgt mir!«

Er ließ Alexander einstweilen nach dem nächsten Raume tragen. Es war der Empfangssalon. Dann kehrte er nach dem Speisesaal zurück und sagte im gleichgiltigen Tone:

»Alexander ist unwohl.«

»Unwohl?« fragte die Baronin schnell. »Was fehlt ihm?«

»Er hat ein kleines Malheur gehabt. Das Pferd ist ihm durchgegangen.«

»O, mein Gott!« rief die Dame, vor Schreck emporspringend.

»Und in den tiefen Steinbruch da unten gestürzt. Jedenfalls ist Pferd und Wagen vollständig zerschmettert,« fuhr er fort.

Sie mußte sich am Tische anhalten, sonst wäre sie vor Schreck umgesunken.

»Und Alexander, mein Kind, mein Sohn?« frug sie todesbleich.

»Er ist gerettet. Leute brachten ihn. Er liegt im Empfangszimmer.«

Sie nahm sich zusammen und wankte nach der Thür.

Der Alte folgte ihr. Auch der Baron verließ seinen Sessel, strich sich über die wächserne Stirn, als ob er sich erst besinnen müsse, wer dieser Alexander eigentlich sei, und ging ihnen dann langsamen Schrittes nach.

Der Knabe lag lang ausgestreckt auf dem Divan. Er hielt die Augen geöffnet. Die Besinnung schien ihm zurückzukehren. Die Feldarbeiter standen noch an der Thür. Der Capitän entließ sie, nachdem er sie beschenkt hatte.

Die Baronin kniete vor dem Divan nieder, nahm den Kopf ihres Sohnes in den Arm und betrachtete ihn schluchzend. Der Alte ergriff ihn bei der Hand, um nach dem Pulse zu fühlen, und Herr de Sainte-Marie stand vor einem Bilde und hielt den Blick so starr und nachhaltig auf dasselbe gerichtet, als ob es sonst keinen Gegenstand geben könne, der seine Aufmerksamkeit in Anspruch nähme. Es war sicher, daß er geistig gestört war.

»Mama, liebe Mama!« flüsterte da endlich die Stimme des Erwachenden.

»Mein Sohn, mein Alexander!« rief sie. »Wie befindest Du Dich?«

»Ich bin sehr matt; aber es war auch gar zu schrecklich!«

»Wir werden Dich nach Deinem Zimmer schaffen.«

»Nein,« bat er. »Ich will nicht fort; ich bin müde; ich muß schlafen!«

Er schloß die Augen wieder. Die Baronin erhob den thränenvollen Blick und sah den Capitän fragend an. Dieser nickte zustimmend, daß der Knabe liegen bleiben solle. Der Baron trat jetzt langsam hinzu, ließ seine Augen irr über den Daliegenden schweifen und sagte dann mit einem matten Lächeln:

»Alexander!«

Dann drehte er sich um und schritt zur Thür hinaus. Die beiden Anderen setzten sich an dem Divan nieder, um die Ankunft des Arztes zu erwarten. Sie liebten den Knaben, dies war aber auch die einzige Harmonie, welche es zwischen ihnen gab. Sie haßte ihn, und er verachtete sie. Sie wußten dies gegenseitig; sie verhehlten es sich nicht. Der in Apathie versunkene Baron, der sein Sohn und ihr Gemahl war, konnte nicht als aussöhnendes Medium gelten, und da die Dienerschaft dies eben so gut wußte wie die Herrschaft selbst, so war es Allen ein Räthsel, aus welchem Grunde der Alte eigentlich zugegeben hatte, daß die Baronin Gemahlin seines Sohnes werde.

Endlich nahten Schritte, und der Arzt trat ein; aber es war nicht Doctor Bertrand, sondern ein Anderer, den der Capitän wohl kannte, aber noch nicht bei sich gesehen hatte.

»Warum kommen Sie?« fragte dieser im rücksichtslosen Tone. »Ich habe nicht nach Ihnen, sondern nach unserem Hausarzte geschickt.«

»Verzeihung, Herr Capitän, gnädige Frau,« entschuldigte sich der Arzt. »Doctor Bertrand ist verreist und hat mich gebeten, ihn nöthigenfalls zu vertreten.«

»Wann kommt er zurück?«

Der Gefragte zuckte die Achsel und antwortete:

»Es fragt sich leider sehr, ob er überhaupt wieder zurückkehrt. Vielleicht ist er todt.«

»Todt? Wieso?«

»Ertrunken, meine ich, gnädiger Herr. Die heutigen Morgenblätter bringen die schreckliche Nachricht, daß der gestrige Moseldampfer unterhalb Thron mit Mann und Maus untergegangen ist. Es hat ein schreckliches Unwetter, einen in dieser Stärke noch gar nicht dagewesenen Orkan gegeben, während dessen der Dampfer mit einem Flosse collidirte. Ich weiß genau, daß Doctor Bertrand auf diesem Dampfer zurückkehren wollte.«

Da stand der Capitän von seinem Stuhle auf, trat auf den Arzt zu und fragte mit einer Stimme, der man doch ein leises Beben anhören konnte:

»Ist dieses Unglück wirklich ein Factum? Ist die Nachricht verbürgt?«

»Ja. Die jenseitige Behörde fordert bereits zu Sammlungen für die Hinterbliebenen der Verunglückten auf.«

»Dann haben Sie uns eine schlimme Nachricht gebracht. Meine Enkelin, Baronesse Marion hat sich auch auf diesem Dampfer befunden. Ich erhielt gestern von Coblenz aus ihren Brief, in welchem sie mir dies mittheilte, um mir ihre Ankunft für den heutigen Tag zu melden.«

Der innere Zusammenhang fehlte den Bewohnern von Schloß Ortry so sehr, daß der Alte den Inhalt des Briefes gar Niemand mitgetheilt hatte. Kam Marion, so war sie einfach da; das war aber auch Alles. Die Baronin hörte also jetzt das erste Wort davon. Sie zuckte zusammen, gab sich aber Mühe, ihre Gefühle zu verbergen, und fragte im Tone der Besorgniß:

»Wie? Unsere liebe Marion befand sich auch auf dem verunglückten Schiffe? Mein Heiland, zwei Unfälle auf einmal! Wer soll dies ertragen!«

Sie schlug die Hände vor dem Gesichte zusammen und gab sich den Anschein, als ob sie weine. Der Capitän wandte sich zu ihr um und sagte:

»Verlieren wir die Contenance nicht, Frau Tochter! Es ist ja noch immer die Möglichkeit vorhanden, daß Einige gerettet worden sind, oder daß ein glücklicher Zufall sie abgehalten hat, dieses Dampfschiff zu besteigen. Untersuchen Sie den Knaben, Doctor!«

Seine Worte hatten, der Gegenwart des Arztes wegen, einen ergriffenen, theilnahmsvollen Ton; in seinem Blicke jedoch lag ein Ausdruck, welcher deutlich sagte, daß er sehr wohl wisse, daß sie sich innig freuen würde, ihre Stieftochter unter den Todten zu wissen.

Der Doctor näherte sich nun dem Divan, um Alexander zu untersuchen, wobei ihm nun der Alte den Hergang mit kurzen Worten erzählte.

»Es hat nichts zu sagen,« erklärte der Arzt dann. »Der junge Herr ist völlig unbeschädigt. Er wird sich bei einiger Ruhe schnell erholen. Vielleicht haben Sie die Güte, nach Thionville nach der Arznei zu senden, welche ich verschreiben werde. Ich wünsche von Herzen, daß die gnädige Baronesse sich ebenso außer aller Gefahr befinden möge wie dieser Patient!«

Er schrieb ein Recept, übergab dasselbe und empfahl sich dann. Er hatte den Salon kaum verlassen, so trat mit leisen Schritten ein Diener ein.

»Was giebt es?« fragte der Capitän.

»Der neue Erzieher ist soeben angekommen, gnädiger Herr, und hat mich gebeten, ihn anzumelden,«

»Ah! Was ist es für ein Mann? Wie präsentirt er sich?«

Der Diener zuckte mit einem leisen, zweideutigen Lächeln die Achsel und schwieg.

»Ich verstehe!« meinte der Alte. »Wenn er mir nicht paßt, jage ich ihn wieder fort. Er mag eintreten, obgleich wir eigentlich nicht in der Lage sind, ihn hier und jetzt zu empfangen. Aber auf einen deutschen Schulmeister braucht man keine Rücksicht zu nehmen. Sage ihm, daß sich ein Patient hier befindet. Der Mann mag leise eintreten.«

Der Diener entfernte sich, indem er Müller eintreten ließ, nachdem er ihm die soeben erlangte Weisung ertheilt hatte.

Müller verbeugte sich tief und respectvoll und wartete, daß man ihn anreden werde. Der Blick der Baronin ruhte mit einem beinahe erschrockenen Ausdruck auf ihm.

»Ah, das ist ja geradezu eine Beleidigung!« hauchte sie.

Der Capitän betrachtete den neuen Lehrer mit mitleidigem Hohne und sagte rücksichtslos:

»Herr, Sie sind ja buckelig!«

»Leider!« antwortete Müller sehr ruhig. »Aber ich hoffe trotzdem, Ihre Zufriedenheit zu erlangen. Die Gestalt ist es ja nicht, mit welcher man Kinder erzieht.«

Der Alte machte eine verächtliche, zurückweisende Handbewegung und sagte kalt:

»Aber die Gestalt ist es, welche den ersten und letzten Eindruck macht. Wie soll mein Enkel Sie achten und Respect vor Ihnen haben! Glauben Sie, daß wir die Absicht haben, uns mit einem verwachsenen Erzieher zu blamiren? Sie sind entlassen, definitiv entlassen. Begeben Sie sich in das Gesindezimmer. Ich werde Ihnen das Reisegeld auszahlen lassen. Mehr können Sie nicht verlangen, da wir mit Ihnen getäuscht, ja sogar betrogen worden sind.«

»Gnädiger Herr Capitän, ich bitte, zu bedenken, daß –«

»Gehen Sie! Sofort!«

Diese Worte wurden zornig und so laut gesprochen, daß der Knabe erwachte. Sein Blick fiel auf den Deutschen, und er sagte, zu seiner Mutter gewendet:

»Mama, das ist der Mann, der mich gerade vor dem Abgrunde aus dem Wagen riß!«

Er hatte seinen Retter also doch trotz seines angstvoll starren Blickes so deutlich angesehen, daß er ihn jetzt wieder erkannte. Die Baronin machte eine Bewegung der Ueberraschung. Der Capitän trat einen Schritt näher und fragte Müller:

»Ist dies wahr? Sie sind der Retter meines Enkels?«

»Ich hatte allerdings das Glück, den gnädigen Herrn noch im letzten Augenblicke vom Bocke zu reißen. Wagen und Pferd, nebst einem armen Menschen, welcher der Groorn gewesen zu sein scheint, fand ich dann in der Tiefe bis zur Unkenntlichkeit zerschmettert.«

»Ah, an den Groom habe ich noch gar nicht gedacht! Er ist also todt? Das ist seine eigene Schuld. Er ist nicht zu bedauern. Er hätte vorsichtiger fahren sollen. Lebte er noch, so würde ich ihn streng bestrafen. Was aber Sie betrifft, Herr – Herr Müller, hm!«

Er warf bei diesem »hm« einen fragenden Blick auf die Baronin. Diese verstand ihn und sagte:

»Es steht außer allem Zweifel, daß wir Herrn Müller Dank schulden, Herr Capitän. Jedoch –«

Sie zuckte die Achsel; es lag ihr trotz der anerkannten Verpflichtung zur Dankbarkeit doch ein Einwand, ein Bedenken nahe. Da ließ sich die Stimme Alexander's hören:

»Wer ist der Mann, Mama?«

»Es ist Monsieur Müller, welcher Dein Lehrer werden sollte,« antwortete sie.

»Das ist schön,« sagte er. »Ich freue mich auf ihn.«

Seine beiden Verwandten blickten einander an. Es war ja noch nie geschehen, daß er sich auf einen Lehrer oder Erzieher gefreut hatte.

»Aber siehe ihn doch an,« meinte seine Mutter. »Er ist ja häßlich.«

Sie scheute sich doch, das richtige Wort zu wählen, welches der Alte vorhin so ganz ohne Bedenken ausgesprochen hatte. Da antwortete Alexander in jenem hohen, ungeduldigen Tone, welchen kranke oder verzogene Kinder, wenn sie ihren Willen durchsetzen wollen, anzuschlagen pflegen:

»Ich finde ihn sehr hübsch, Mama; ich mag keinen Anderen.«

»Nun, so möchten wir vielleicht einen Versuch wagen?« fragte die Baronin zu dem Capitän gewendet.

Dieser nickte langsam und bedächtig und fragte Müller:

»Haben Sie Ihre Zeugnisse bei sich, Monsieur?«

»Hier, gnädiger Herr.«

Bei diesen Worten zog der Lehrer seine Papiere hervor und überreichte sie ihm. Es waren dieselben, welche ihm der General in Simmern übergeben hatte. Der Alte las eins nach dem anderen aufmerksam durch und sagte kopfschüttelnd:

»Sie haben da allerdings ganz ausgezeichnete Censuren; aber ich finde nur Dogmatik, Didaktik, Methodik, Geschichte, Geographie, Sprachen und so weiter. Man scheint in ihrem Vaterlande keinen großen Werth auf die Ausbildung des äußeren Menschen zu legen. Tanzen Sie?«

»Ich bin noch von keiner Dame abgewiesen worden, gnädiger Herr,« antwortete Müller.

Der Alte lächelte ein wenig hämisch und bemerkte:

»Ich habe da nicht Schulmeisterstöchter oder Schneidersfrauen im Auge, sondern ich meine natürlich wirkliche Damen. Doch, man wird ja sehen. Wie steht es mit dem Turnen und Reiten?«

»Ich glaube, Ihren Ansprüchen genügen zu können!«

»Schießen, Fechten?«

»Ich hatte gute Lehrer und hinreichende Uebung.«

»Hm! Wenn ich Sie nun auf die Probe stelle? Ich fechte leidenschaftlich gern.«

»Ich stelle mich zur Verfügung, gnädiger Herr.«

Alle diese Antworten waren in einem bescheidenen, anspruchslosen Tone gegeben worden. Der Alte richtete seine dunklen Augen mit einem höchst ungläubigen Ausdrucke auf ihn und sagte:

»Nun, ich werde Sie prüfen. Machen Sie Ihren Worten Ehre, so sollen Sie angestellt werden. Jetzt gehen Sie zum Hausmeister, um sich das Zimmer anweisen zu lassen, welches man für Sie bestimmt hat. Ich hoffe, Sie stehen zur Verfügung, sobald ich Ihrer bedarf!«

Somit war die Vorstellung beendet. Müller trat zu dem Kranken, faßte leise die Hand desselben und sagte:

»Haben Sie Dank für Ihre freundliche Fürsprache, gnädiger Herr! Sie haben sich dadurch sehr schnell meine Liebe erworben, und ich werde gern mein Möglichstes thun, auch die Ihrige zu erhalten, sodaß wir Erfolge erringen, welche eines Sainte-Marie würdig sind.«

Er verbeugte sich vor den beiden Anderen und entfernte sich. Der Capitän blickte ihm nach und sagte dann im Tone halber Verwunderung:

»Das war sehr schön gesprochen; das hat noch Keiner gesagt. Er scheint sehr gut zu wissen, was man einem hervorragenden Namen schuldig ist.«

Und die Baronin antwortete:

»Seine Verbeugung war höchst elegant, zwar ein Wenig selbstbewußt, aber dennoch ehrerbietig, und völlig tadellos. Man wird ihn kennen lernen, um zu sehen, ob er, abgesehen von seiner Mißgestalt, zu brauchen ist.«

Müller ließ sich zu dem Hausmeister weisen. Er erkannte in demselben auf den ersten Blick den echten, eingefleischten Franzosen. Er trug schwarzen Frack nebst ebensolcher Hose, weißseidene Weste und ein weißes, hoch emporgehendes Halstuch. Seine breiten, kurzen Füße stacken in so engen Lackstiefeln, daß sein Gang und seine Haltung in Folge des Drückens etwas Unsicheres zeigten.

»Ah, Sie? Sie sind der neue Gouverneur?« fragte er in hochmüthigem Tone. Und mit einem vielsagenden Lächeln fügte er hinzu: »Ist diese Gestalt in Deutschland vielleicht einheimisch?«

»Wohl nicht,« antwortete Müller gleichmüthig; »ich bin glücklicherweise eine Ausnahme, und hoffe, daß Sie gewandt genug sind, mit dem, was Ihnen an meinem Körper zu viel erscheint, nicht allzuoft zu caramboliren. Ich komme, Sie zu bitten, mir mein Zimmer anzuweisen.«

»Das werde ich thun. Im Uebrigen jedoch mache ich Sie darauf aufmerksam, daß ich nicht vorhanden bin, Sie zu bedienen. Als Hausmeister bin ich Ihr Vorgesetzter.«

»Das ist mir ganz und gar nicht unangenehm, und ich ersuche Sie, sich bei mir nach Kräften in Respect zu setzen. In meiner Heimath pflegt man nur Diejenigen als Obere anzuerkennen, welche es auch wirklich verstehen, sich Hochachtung zu erwerben. Darf ich bitten, monsieur le concierge?«

Er wandte sich, um voranzuschreiten; der Franzose aber fiel schnell ein:

»Sie sprechen ein sehr schlechtes Französisch, Herr Müller. Concierge bedeutet mehr Thürhüter, als Hausmeister. Sie haben mich Intendant zu nennen!«

»Sehr wohl, Herr Intendant. Also bitte, mein Zimmer.«

Sie schritten an mehreren dienstbaren Geistern vorüber, welche beim Anblicke des Lehrers mit echt französischer Ungenirtheit die Nasen rümpften, worauf jedoch Müller nicht im Geringsten achtete. Er wurde mehrere Treppen emporgeführt, und der Hausmeister öffnete ihm ein Zimmer, welches hoch oben in einem der Thürmchen lag, von denen die Fronte des Schlosses flankirt wurde. Es war mit der größten Einfachheit ausmöblirt.

»So, hier wohnen Sie,« meinte der Hausmeister schadenfroh. »Tisch, zwei Stühle, Feldbett, Waschzeug, Bücherregal, eine Taschenuhr besitzen Sie wohl selbst. Das ist mehr als genug, um sich comfortable zu fühlen.«

»Wo wohnt der junge Herr?« fragte Müller.

»In der Hauptetage neben der gnädigen Frau.«

»Man pflegt sonst doch den Erzieher in die unmittelbare Nähe seines Zöglings zu plazieren, Herr Intendant!«

»Das ist hier nie der Fall gewesen. Der Lehrer rangirt hier erst nach dem Koche, und da ist leicht einzusehen, daß er dementsprechend einlogirt werden muß. Der Koch wohnt gerade unter Ihnen, nicht aber in der unmittelbaren Nähe der Herrschaft.«

»Es ist gut, Herr Intendant!« Mit diesen Worten drehte er sich ab, und der Hausmeister zog sich zurück, sehr zufrieden mit sich, daß er diesem Deutschen gleich im ersten Augenblick klar gemacht habe, welchen Rang er hier einnehme.

Müller warf keinen Blick auf das armselige Ameublement. Er trat an eines der drei Fenster und blickte hinaus. Ein leises Lächeln schwebte um seine Lippen. Er war mit dem ihm gewordenen Empfange nicht unzufrieden. Das Glück hatte ihm beigestanden, und er hoffte, daß es ihm auch treu bleiben werde. Die Arroganz des Dienstpersonales konnte ihn nicht beleidigen, und als Retter Alexander's hatte er sich die Dankbarkeit der Herrschaft gesichert. Diese Dankbarkeit mußte sich bei der Ankunft Marion's steigern. Was aber dann? Er machte sich keine Grillen über diese Frage und blickte wohlgemuth hinaus auf das Bild, welches sich vor seinem Auge ausbreitete.

Fern im Westen erhoben sich die Höhen der Meuse, überragt von den duftumhauchten Bergen des Argonner Waldes. Näher blickten Kirchthürme und lieblich gelagerte Ortschaften zu ihm herüber; da rechts lag Thionville, auf Deutsch Diedenhofen genannt, die Festung, jetzt in den Händen des Erzfeindes; und dort, unterhalb des Schlosses, erhoben sich die schmutzigen Essen und Gebäude des Eisenwerkes, über denen eine dichte Rauchwolke schwebte.

Das andere Fenster ging nach Süden, wo der Park des Schlosses sich nach und nach zu einem dunklen Walde verdichtete. Das dritte Fenster führte nach Norden und zwar auf das halbplatte Dach des Hauptgebäudes. Müller ahnte nicht, daß dieser Umstand ihm später außerordentlich zu statten kommen werde. Die vierte, also östliche Seite seines Zimmers, hatte kein Fenster. Sie bestand aus einer Tapetenwand, an welcher, als einzige Zierde, ein alter, schlechter Spiegel hing.

Indem Müller's Blick diese Wand überflog, war es ihm, als ob er ein leises, eigenthümliches Geräusch bemerkte. Er trat hart an die Mauer heran und horchte. Ja, er hatte richtig gehört. Es war, als ob hinter der Wand jemand sich bewege, und zwar aufwärts, und dabei mit der Hand tastend an den Steinen oder Ziegeln hinstreiche. Sodann war ein leichtes Rascheln zu vernehmen, als ob ein Stein aus der Mauer entfernt werde.

Was war das? Gab es hier vielleicht eine Doppelmauer? Befand sich hinter dem Zimmer Jemand, welcher gekommen war, ihn zu belauschen? In diesem Falle mußte sich in der Mauer eine Oeffnung befinden. Aber Müller durfte jetzt nicht suchen; er mußte vielmehr so thun, als ob er ganz und gar nichts ahne. Das Schloß war ein sehr altes Gebäude; es konnte sehr leicht seine Geheimnisse haben.

Müller trat zu dem Fenster zurück und that so, als ob er in den Anblick der Landschaft ganz und gar versunken sei. Dabei aber lauschte er sehr angestrengt nach der Mauer hin. Als sich nach längerer Weile nichts vernehmen ließ, wurde er des Stehens müde und legte sich auf das Feldbette, um weiter zu horchen.

Da, jetzt hörte er, sehr leise zwar, aber immer noch vernehmlich, jenes letztere Rascheln wieder. Es schien oben in der Nähe der Decke zu sein. Dann strich es wie mit einer vorsichtig tastenden Hand an der Wand herab, bis er, selbst nach langem Horchen, nichts mehr hörte.

Jetzt erhob er sich und öffnete das nach Norden auf das Dach führende Fenster. Er hatte weder einen Stock noch einen anderen Gegenstand, welchen er als Maß zu gebrauchen vermocht.

*


 << zurück weiter >>