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Wir schritten trotz der Dunkelheit aus, als ob wir wochenlang ausgeruht hätten. Es ist erstaunlich, welche Macht der Geist über den schwachen, müden, ja erfahrungsgemäß sogar über den wirklich kranken Körper hat! Meine vorher so steifen Beine waren plötzlich ganz gelenkig geworden, und die hohen Stiefel, welche mir zentnerschwer an den Füßen gehangen hatten, waren federleicht geworden.
So ging es durch die Lichtung, welche sich bald verengte und bald verbreiterte, durch den Wald, bis dieser von Baumeshöhe zu niederem Buschwerk niederstieg und sich dann in einzelne Sträucher auflöste, welche nach und nach verschwanden und einem sterilen Sande die Herrschaft überließen.
»Nun müßten wir uns eigentlich mehr rechts halten,« sagte Pena, »aber ich gehe nicht einmal geradeaus, sondern nach links hinüber, damit die Roten morgen früh ja nicht auf unsere Spur geraten, wenigstens so lange nicht, als sie aus derselben erraten können, daß wir aus demselben Wald gekommen sind, in welchem sie übernachtet haben.«
Der Sand war tief; wir versanken bis über die Knöchel in demselben. Aber obgleich wir über drei Stunden lang durch diese Wüste zu waten hatten, fiel es keinem von uns ein, an Müdigkeit zu denken. Dann kam wieder Gras, diesesmal kurzes, welches uns größere Schnelligkeit erlaubte. Pena bewies, daß er ein guter Cascarillero war, denn ich beobachtete die Sterne und fand, daß er bis jetzt nicht im geringsten von der geraden Linie abgewichen sei. Ich machte ihm eine lobende Bemerkung darüber, und er antwortete in selbstgefälligem Tone:
»Ja, ich muß Ihnen doch beweisen, daß ich wohl nicht ganz der Schulknabe bin, für den Sie mich ansehen werden. Jetzt aber halten wir uns wieder rechts, damit wir auf die richtige Linie kommen, was in anderthalb Stunden der Fall sein wird.«
Als diese Zeit vergangen war, blieb er stehen und sagte:
»Jetzt muß ich Ihnen etwas zumuten, was Sie mir nicht übelnehmen dürfen.«
»Was ist's?«
»Ziehen Sie ihre Stiefel aus!«
»Ah, wir befinden uns auf der Marschlinie der Mbocovis?«
»Ja. Sie werden unsere Spur deutlich sehen, denn es kommt bald wieder Sand. Bemerken sie die Eindrücke unseres Schuhwerkes, so wissen sie, daß Weiße dagewesen sind. Ziehen wir es aber aus, so halten sie uns für Indianer.«
»Ein guter Fährtenleser läßt sich dadurch nicht irre machen. Er weiß selbst bei Barfußtapfen diejenigen eines Weißen von denen eines Roten auf den ersten Blick zu unterscheiden.«
»Das wäre viel! Fuß ist doch Fuß!«
»O nein! Erstens setzt der Weiße beim Gehen seinen Fuß aus-, der Rote aber einwärts; das ist die Folge einer Verschiedenheit des Körperbaues, besonders der Beckengegend. Und sodann ist der Rote, eben weil er, wie hier in Südamerika, barfuß geht, oder, wie in Nordamerika leichte, absatzlose Mokassins trägt, fast ausnahmslos mit Plattfuß gesegnet, während der Weiße eine hohe Fußbeuge besitzt. Die Folge davon ist, daß der Barfußtapfen des Roten glatt gedrückt ist, während derjenige des Weißen in der Mitte eine Erhabenheit zeigt. Bei dem ersteren sind die Zehen weniger, weil er mit dem ganzen Fuß auftritt, bei dem letzteren aber mehr eingedrückt, weil er mit Ferse, Zehen und nur dem auswärts liegenden Rande des Fußes schreitet.«
»Wenn Sie es in dieser Weise erklären, so leuchtet es mir freilich ein. Um die Roten irre zu machen müssen wir also mit einwärts gerichteten Füßen laufen und die Füße platt aufsetzen.«
»Ich glaube nicht, daß die Mbocovis so scharfsinnig sind, auch hierauf zu achten. Sie werden unsere Spur nur daraufhin ansprechen, ob sie barfuß ist oder nicht, und damit basta.«
Wir hatten die Stiefel ausgezogen. Ich hing mir die meinigen auf den Rücken und dachte nun endlich auch an Coatibraten, den wir ganz vergessen hatten. Wir speisten köstlich im Gehen und kümmerten uns nicht darum, daß wir wieder eine Sandhöhe zu durchqueren hatten. Diese war viel breiter als die vorige, und der Morgen begann zu dämmern, als wir sie hinter uns bekamen und eine Gegend erreichten, welche aus lehmigem Boden bestand, der allerlei Kräuter und kurzes Strauchwerk trug. In den Ästen dieser Büsche hingen dürre Halme, Grasstengel und anderes Zeug, ein sicheres Zeichen, daß wir uns einem größeren Gewässer näherten, welches zur Regenzeit seine niedrigen Ufer überschwemmte und später beim Zurücktreten diese Hochwasserzeichen an den Sträuchern hängen ließ. Dann trafen wir bald auf Bäume, die ich nicht kannte, auch noch nicht gesehen hatte.
»Das sind die Carapas, von denen die Lagune ihren Namen hat,« erklärte Pena. »Ich denke, daß wir nun bald das Wasser erreichen werden.«
»Wir brauchen uns nur dahin zu wenden, wo wir den üppigsten Pflanzenwuchs bemerken, und das ist geradeaus.«
»Das denke ich auch. Aber nun wollen wir die Stiefel wieder anziehen; sie noch weiter zu tragen, hat keinen Zweck, und es ist auch nicht notwendig, daß die Roten hier uns mit nackten Füßen sehen.«
»Die Roten – – das bringt mich auf eine Frage, auf welche ich schon längst hätte kommen sollen. Können Sie sich mit den Tobas-Indianern verständigen?«
»Sie etwa?«
»Keine Spur! Ihre Sprache ist mir gerade so unbekannt wie das Innere des Mondes.«
»So bin ich Ihnen doch einmal überlegen. Ich spreche diese Mundart noch besser als diejenige der Mbocovis.«
»So bin ich beruhigt. Wir müssen jeden Augenblick erwarten, Tobas zu begegnen, und wenn wir ihnen nicht erklären könnten, daß wir als Freunde kommen, so wäre wohl gar zu gewärtigen, daß sie ihre Blasrohre auf uns richteten.«
»Vor denen Sie einen gewaltigen Respekt zu besitzen scheinen!«
»Das leugne ich nicht. So ein heimtückischer Pfeil oder Stachelbolzen ist ein Ding, mit welchem man nicht spaßen darf.«
Wir gingen nun langsamen Schrittes weiter, die Augen nach allen Richtungen offen, damit uns nicht etwa die Anwesenheit eines Menschen entgehen könne. Aber es war keiner zu sehen.
Schon befanden wir uns nicht mehr im Freien, sondern unter dem gefiederten Laubdache eines geschlossenen Waldes, welcher ausnahmslos nur aus Carapabäumen bestand. Der Boden desselben war weich, und es befanden sich viele alte und neue, große und kleine Fußspuren in demselben; aber von denen, welche diese Eindrücke hervorgebracht hatten, war kein einziger zu sehen oder zu hören.
Dann sahen wir Wasser schimmern. Wir erreichten das Ufer und sahen die Lagune vor uns liegen. Sie verdiente weit mehr den Namen eines Sees, denn die Wasserfläche dehnte sich weit hinaus nach rechts, links und vorn und ließ kein gegenüber liegendes Ufer erkennen.
»Sonderbar!« meinte Pena. »Die Zeit, in welcher man wach zu werden pflegt, ist längst vorüber und doch kein einziger Mensch zu sehen!«
»Das verursacht mir weniger Schmerzen als der Umstand, daß wir auch keine Wohnungen entdecken.«
»Wir müssen den Spuren nachgehen!«
»Versuchen Sie es doch einmal! Ihrer sind so viele, und sie laufen so in und nach allen Richtungen durch einander, daß sie uns unmöglich als Wegweiser dienen können. Wir müssen eben weitergehen, um zu suchen. Die Hütten liegen auf jeden Fall in der Nähe des Wassers; halten wir uns an dieses, so müssen wir sie finden.«
Aber wir suchten vergeblich. Endlich nach langer Zeit hörten wir ein lautes Zeichen menschlicher Nähe. Der heisere Schrei eines Raubvogels ertönte in der Luft, und gleich darauf krachte ein Schuß.
»Wo war das? Rechts oder links?« fragte Pena, indem er stehen blieb.
»Links,« antwortete ich. »Der Schall täuscht zwar im Walde leicht; aber ich glaube mich nicht zu irren.«
Wir wandten uns in die angedeutete Richtung und erreichten einen Gegenstand, welcher meine höchste Verwunderung erregte, da ich so etwas hier in dieser Gegend gar nicht hatte vermuten können. Das war nämlich ein Felsblock, dessen Seite lotrecht wohl an die vierzig Ellen emporstieg.
»Ein Stein!« sagte Pena. »Hier im Chaco ein Stein! Wie mag der hierher gekommen sein!«
»Sie haben vollständig recht, zu erstaunen. Auch ich hätte es nicht für möglich gehalten. Sollte es ein so riesiger erratischer Block sein? Aber welche ungeheure Kraft wäre es, die ihn von den fernen Cordilleren bis hierher gewälzt hat?«
»Was ist's für Gestein?«
»Das kann man nicht sagen, weil der Fels mit einer dicken Schicht von Flechten vollständig überzogen ist. Man muß sie entfernen. Aber jetzt haben wir anderes zu tun. Gehen wir um den Block herum! Vielleicht finden wir jenseits, was wir suchen.«
»Ja, gehen wir! Merken Sie nicht, daß es hier keine Fußspuren gibt?«
»Ja. Das ist auffällig, da in so geringer Entfernung ihrer so zahlreiche zu finden sind. Wollen die Arbeit verkürzen. Gehen Sie rechts und ich links um den Fels. Drüben treffen wir uns.«
Er folgte dieser Aufforderung; auch ich schritt weiter, indem ich den Boden genau untersuchte. Es war wirklich auffällig, daß die Spuren in der Nähe dieses Felsens aufhörten. Ich mußte daran denken, daß der viejo Desierto von den Tobas-Indianern heilig gehalten werde. Ich bog um die erste Ecke – hier dieselbe Erscheinung wie jenseits derselben. Bis auf eine gewisse Entfernung Spuren in Menge; nach dem Felsen hin aber nicht!
Letzterer hatte die Form eines fast regelmäßig viereckigen riesigen Quaders. Seine Länge war gewiß sechzig Ellen, seine Breite annähernd auch so viel. Die Seiten fielen lotrecht ab, und es war ganz unmöglich, daß jemand da hinaufgelangen könne. Die Bäume des Waldes reichten so nahe zu ihm heran, daß sie ihn mit ihren Zweigen berührten. Als ich um die zweite Ecke bog, sah ich Pena um die dritte kommen. Noch waren wir nicht in der Mitte dieser Seite zusammengetroffen, so sagte er:
»Keine einzige Fußspur am Felsen und auch kein anderes Zeichen, daß es hier Leute gibt!«
Ich wollte antworten, nahm aber das Wort von der Zunge zurück; denn ich sah etwas, was mich fast bestürzt machte. Von links her aus dem Wald kamen nämlich die sehr deutlichen Stapfen zweier Menschen; mir zur Rechten zeigte der Fels einen breiten aber nicht tiefen Spalt, so regelmäßig, wie durch Kunst hineingearbeitet. In diesem Spalt stand eine Algarobe, an deren Stamm diese Stapfen aufhörten, ohne zurückzukehren. Auch Pena erblickte diese Spuren. Er betrachtete sie, blickte an dem Baume empor, schüttelte den Kopf und sagte:
»Hier sind zwei Menschen gewesen!«
»Ganz gewiß! Und zwar Schwarze.«
»Sie sind bis an den Baum gekommen und nicht wieder zurückgegangen, nicht wahr, Sennor?«
»So ist es! Wohin müssen sie also sein, menschlicher Logik nach?«
»Hinauf auf den Baum!«
»Auf dem Baume befinden sie sich nicht, denn seine Belaubung bildet zwar nach außen eine dichte, grüne Wand; im Innern dieses Wipfels, welcher einer Laube gleicht, sind alle Äste und Zweige so deutlich zu sehen und zu überblicken, daß zwei menschliche Personen unsern Augen unmöglich entgehen könnten.«
»Vielleicht täuschen wir uns in diesen Spuren?«
»Nein. Die Männer sind barfuß gewesen. Der Boden ist feucht, und ihre Stapfen haben sich sehr deutlich abgezeichnet. Die Zehen sind nach dem Baume gerichtet. Hier siehst Du ganz nahe am Stamme sogar Spuren, welche nur die Eindrücke der Zehen, nicht aber der Fersen zeigen. Das ist ein Zeichen, daß diese Leute hinaufgeklettert sind und, indem sie sich streckten, um mit den Händen den untersten Ast zu erreichen, die Fersen hoben und nur auf den Zehen standen. Hinauf sind sie also ganz gewiß. Und wenn nicht mehr auf dem Baume, so sind sie anderswo, jedenfalls im Felsen.
»Man sieht doch kein Loch!«
»Das wird verschließbar sein. Betrachten wir uns den Stamm einmal genau! Der Baum ist alt und seine Rinde rauh und zerrissen; aber sehen Sie, daß sie an gewissen Stellen des Stammes und der Äste ganz glatt ist?«
»Ja. An den Ästen da, wo sie aus dem Stamme kommen!«
»Das ist vom Klettern. Wenn diese Stellen so glatt poliert sind, so ist das ein Zeichen, daß der Baum sehr oft erklettert wird. Und nun betrachten Sie sich die Äste! Auch ihre Rinde ist rauh, aber der starke Ast, der erst bis an die Felswand reicht und sich dann umbiegt, ist auch glatt. Folglich haben die Kletterer ihn benutzt, um den Felsen zu erreichen. Was sie getan haben, können wir auch tun. Also hinauf jetzt!«
Ich überzeugte mich, daß meine Gewehre fest über den Rücken hingen, und langte nach dem untersten Aste empor.
»Gott stehe mir bei!« sagte Pena. »Sie wollen hinauf? Sie wissen ja gar nicht, wen und was es da oben gibt!«
»O das weiß ich sehr genau. Da oben wohnt el viejo Desierto, den wir suchen. Die beiden Indianer, welche hinaufstiegen, sind wohl seine Diener und werden sich bei ihm befinden.«
»Wollen wir nicht lieber rufen?«
»Nein. Jedenfalls befindet sich das Indianerdorf in der Nähe. Machten wir Lärm, so kämen die Leute herbei und würden uns wohl einen feindseligen Empfang bereiten, da wir uns in die Nähe dieses Heiligtumes gewagt haben. Ich will mich direkt an den Desierto wenden.«
»Das ist noch gefährlicher als das erstere!«
»Nein. Wenn Sie sich fürchten, so bleiben Sie unten!«
»Fürchten? Fällt mir nicht ein! Ich wollte nur den ungewöhnlichen Umständen Rechnung tragen. Ich werde Sie natürlich nicht allein hinauf lassen und komme also mit!«
Die Algaroben sind sonst nicht allzu hoch; dieser aber besaß eine bedeutende Höhe. Der erwähnte glatte Ast stieß ungefähr da an den Felsen, wo sich die Höhenmitte desselben befand, also zwanzig Ellen über dem Erdboden. Ich kletterte hinauf, und Pena folgte mir auf dem Fuße. Als wir den Ast erreicht hatten, erblickten wir, was uns von unten entgangen war, einen starken Strick, welcher gerade über und parallel mit ihm an den Stamm und drüben an den Felsen befestigt war, so daß man sich an ihm festhalten konnte, wenn man den kurzen Weg vom Baume nach dem Steine aufrecht gehend und nicht auf dem Aste reitend und rutschend zurücklegen wollte.
»Da sehen Sie,« sagte ich, »eine ganz praktikable und bequeme Einrichtung! Wer weiß, wie hübsch das Innere dieses äußerlich so verheißungslos aussehen den Felsens ausgestattet ist.«
»Aber wie kommen wir hinein? Es gibt ja keine Türe!«
»Wir kommen genau so hinein wie die Bewohner. Eine Türe muß es geben; vielleicht findet man sie, wenn man sie sucht.«
Ich schritt, mich mit der Hand an dem Seile festhaltend, über den Ast hinüber; dort mußte unbedingt der Eingang sein. Der Fels war auch hier mit grauen und grünen Flechten und Moosen überzogen, aus denen, wie es schien, eine dünne, verwitterte Wurzel herunterhing. Flechten haben keine solchen Wurzeln; ein anderes Gewächs gab es nicht, zu dem sie hätten gehören können, folglich war mir ihr Zweck sofort klar. Ich ergriff sie und zog an ihr – – wahrhaftig, ich hörte den leisen, unterdrückten Klang eine Glocke!
Ich trat zwei Schritte zurück, um Platz für die Türe zu lassen, welche jedenfalls nach außen zu öffnen war. Pena stand dicht hinter mir; der Ast war stark genug, mehr als uns beide zu tragen.
Da wurde die Felsenwand geöffnet. Ich sah eine Holztüre, deren Außenseite künstlich mit den Flechten bekleidet worden war, so daß man sie von ihrer Umgebung nicht zu unterscheiden vermochte. Sie war so hoch und breit, daß zwei Männer neben einander hätten eintreten können.
Der sie öffnete, war ein Indianer. Er trug lange, sehr weite Leinenhosen und eine Ärmelweste, weiter nichts. Waffen sah ich nicht an ihm. Er war überzeugt gewesen, daß ein Kamerad von ihm Einlaß begehre. Als sein Blick aber auf uns fiel, so fehlte nicht viel daran, daß er vor Schreck zusammengebrochen wäre. Er hätte alles andere eher für möglich gehalten, als das Erscheinen zweier fremder, weißer Männer da oben auf dem Baume und vor der Türe des so sorgfältig und ängstlich gehüteten Geheimnisses. Er wollte sprechen oder gar schreien, brachte aber kein Wort, keinen Laut hervor. Sein Mund stand offen; seine Augen traten weit hervor, und er zitterte am ganzen Körper.
Pena sagte einige Worte, welche ich nicht verstand, zu ihm; er antwortete nicht und starrte uns noch immer an. Da tat ich kurz entschlossen drei Schritte vorwärts, schob ihn zurück und trat ein. Pena folgte sofort.
Da endlich erhielt der Indianer die Sprache oder vielmehr seine Stimme zurück, denn was er tat, das war kein Sprechen, auch kein Schreien und Rufen, o nein! Es gibt kein Wort, welches die Töne zu bezeichnen vermag, die dieser Mann ausstieß, indem er von uns fort- und in das Innere des Felsens hineinrannte. Man denke sich sämtliche Instrumente einer Militärkapelle verstimmt und dann unisono angeblasen, so hat man, nicht etwa den Ton, o nein, aber doch eine klare Ahnung des Tones, welchen der Entsetzte aus seinen Stimmwerkzeugen preßte. Und dieses Gebrüll bekam in dem engen, dunkeln Gange, in welchem wir uns befanden, eine so verstärkende Resonanz, daß man hätte meinen mögen, es schrien hundert Teufel, welche abgestochen werden sollten, um Hilfe.
»Kommen Sie rasch,« bat ich Pena. »Hier wollen wir uns nicht empfangen oder gar abfertigen lassen.«
Wir schritten, so schnell es die Finsternis gestattete, vorwärts und gelangten an eine Türe, welche ich aufstieß. Was ich erblickte, fesselte mir den Fuß, so daß ich unter der Türe stehen blieb. Vor mir lag ein kleines Stübchen, dessen Wände schwarz angestrichen und mit weißgemalten Totenköpfen ›verziert‹ waren. Von der ebenso schwarzen Decke hingen wohl zehn oder zwölf wirkliche Totenköpfe an Schnüren bis zu Manneshöhe hernieder. Linker Hand stand ein schwarz verhangenes Gebetspult mit einem Kruzifix, zwei Totenköpfen und einem brennenden Lämpchen. Rechter Hand sah ich ein wirklich elendes Lager, nur aus harter Streu und weiter nichts bestehend. Und mir gegenüber war eine Türe gerade in demselben Augenblicke aufgegangen, in welchem ich hüben die meinige öffnete, und vor mir stand ein Mann, dessen Anblick ich nie vergessen werde.
Seine lange, skeletthagere Gestalt war in einen schwarzen, talarartigen und bis auf die nackten Füße reichenden Rock gekleidet. Der glänzende Schädel war vollständig kahl, ohne jede Spur von Haar. Die Augen lagen so tief in den Höhlen, daß man denken konnte, man sehe sie gar nicht. Die Wangen waren so eingefallen, daß sie sich im Innern des Mundes fast berührten. Aber der starke, volle, glänzend silbergraue Bart, welcher bis auf den Gürtel niederreichte, war eine Greiseszier, die ihres Gleichen suchte. Das Gesicht zeugte von unendlicher Entsagung. In den Zügen lag eine tiefe Traurigkeit, ein überwältigendes Herzeleid, für welches es keine Heilung gibt. Dies sah man, obgleich in diesem Augenblicke der Zorn und die Überraschung die Oberhand über das ausdrucksvolle Mienenspiel besaßen. Er stand wie der drohende Engel des Todes unter der geöffneten Türe und rief in dumpfem Ton in spanischer Sprache: »Ihr Verwegenen, ihr seid in diese Wohnung eingedrungen! Wisset, daß ihr verloren seid!«
»Nein,« antwortete ich in ruhigem Tone. »Wir wissen das weder, noch glauben wir es!«
Er musterte mich mit drohendem Blicke und fuhr dann fort:
»Wer hat euch nach der Laguna de Carapa gebracht?«
»Niemand. Wir haben sie selbst gefunden.«
»Und wer zeigte euch den Weg nach meiner Algaroba?«
»Kein Mensch.«
»Aber ihr seid herauf in diese Wohnung gekommen. Es muß euch doch jemand gesagt haben, daß sie hier liegt?«
»Sie irren. Es hat keiner uns gesagt, daß hier jemand wohnt. Wir haben keinen einzigen Menschen gesehen, also auch mit niemandem sprechen können.«
»Aber ihr habt doch den Baum erklettert! Folglich müßt ihr wissen, daß er die Treppe zum Felsen bildet!«
»Wir sahen Fußstapfen, welche bis an den Baum, aber nicht wieder zurückführten. Er war also erklettert worden. Und da sich niemand auf demselben befand, so mußte es hier oben eine Höhle oder überhaupt einen Ort geben, in welchem diese Leute verschwunden waren.«
»Ich höre, daß ihr sehr verwegene und gefährliche Menschen seid. Ihr kommt an diesen Ort, ergründet auf den ersten Blick dessen Geheimnisse und drängt euch in dieselben ein, ohne um die Erlaubnis zu fragen. Kein Fremder darf erfahren, daß ich hier im Felsen wohne. Wenn es einer weiß, so sagt er es weiter, und das darf nicht sein. Wer sich mit List oder Gewalt eindrängt, den muß ich unschädlich und stumm machen. Ihr werdet diesen Ort lebendig nicht wieder verlassen.«
Er sprach diese Worte, bei denen er drohend die Hand erhob, mit solcher Bestimmtheit aus, daß ich gar nicht daran zweifeln konnte, daß er gewillt sei, sie wahr zu machen. Dennoch antwortete ich in zuversichtlichem Ton:
»Ich denke nicht, daß Sie diesen Vorsatz ausführen werden! Der Ausgang steht uns offen. Wir brauchen nur zu gehen.«