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Francine begann bereits jene Art der Geringschätzung ihrer Umgebung zu fühlen, die sich an jeden Mißerfolg knüpft. Gewiß hatten ihr die Morlands eifrig angeraten, sich zu wehren. Aber die Möglichkeit, ihr Haus zum Schauplatz behördlicher Interventionen gemacht zu sehen, dünkte ihnen doch wenig wünschenswert. Auch hatte ihr Vetter du Foudray sie von der Aussichtslosigkeit jedes weiteren Widerstandes überzeugt.
Das Ehepaar de Guertes hatte sich im großen und ganzen anständig verhalten. Doch schien auch diesen Freunden die Gerechtigkeit von Francines Sache jetzt, nachdem sie ihren Prozeß verloren hatte, weniger einleuchtend. Herbelot und Rowney hatten mit einem erledigten Falle nichts mehr zu tun. Das Leben ging weiter. Selbst Marchal konnte, trotz seiner Güte und seinem Wohlwollen, nicht helfen.
Abends kam Francine mit Josette aus Lyon zurück. Das Gericht hatte bereits einen Steckbrief ausgefertigt.
»Mein Gott,« rief Gräfin Favié aus, »warum bist du zurückgekehrt! In einer Stunde wird dein Mann in Begleitung des Kommissärs hier sein und uns Josette wegnehmen!«
»Nein,« tröstete sie Francine und lächelte ironisch, »die Amtsstunden sind vorbei. Gott sei Dank ruhen auch die Behörden bei Nacht. Und morgen früh ist Josette längst in Brüssel! Alles ist vorbereitet. Éparvié kommt sie holen … ich vertraue ihm mein Kind an. Morgen ordne ich meine Angelegenheiten und reise ihnen nach.«
»Du reist ab?« rief Gräfin Favié bestürzt aus. »Das ist nicht möglich …«
Obwohl sie auf diesen Entschluß gefaßt sein konnte, bäumten sich alle ihre Prinzipien, ihre Vorurteile und Ehrbegriffe dagegen auf.
»Francine, bleib hier! Jetzt beklagt dich noch jeder …! Wenn du diesen Schritt tust wird es nur eine verurteilende Stimme über dich geben …«
»Ja, ich kenne die Welt … Man muß den Schein wahren! Wenn Éparvié im geheimen mein Liebhaber wäre, hätte niemand etwas dagegen. Aber nur keinen Skandal! Leider, liebe Mutter, bleibt mir keine Wahl. Und wenn mich alle verurteilen mein Gewissen wird mir recht geben!«
»Aber,« rief die Mutter, »wenn du mit diesem Menschen abreist, wird ihn die ganze Welt für deinen Geliebten halten!«
»Sie wird damit recht haben«, sprach Francine ruhig. »Er ist es!«
Eine heiße Röte überzog ihre Wangen.
»Er hat mich nach Lyon begleitet … Und von nun an ist er der Gefährte meines Lebens. Aber du sollst nicht glauben, daß ich einen Akt der Verzweiflung begehe. Nein, freiwillig, bewußt und nach reiflicher Überlegung habe ich mich meinem edlen Freunde hingegeben. Ja, er ist mein Geliebter und ich denke nicht daran, dies zu verheimlichen.«
Gräfin Favié starrte sie entsetzt an. Entrüstung und Bewunderung kämpften in ihr um die Oberhand. Sie konnte nicht begreifen, daß Francine selbstbewußt und unverändert, mit leuchtenden Augen, strahlend in ihrer Schönheit und Offenheit dieses Geständnis machte. Scheu wiederholte sie das Wort, das für sie einen beschämenden und üblen Klang hatte.
»Dein Geliebter …«
»Ja, da der Titel eines Gatten für immer dem ehrenwerten Herrn Le Hagre reserviert ist: mein Geliebter, mein Geliebter!«
Und Francine schrie das Wort in wilder Erregung immer wieder, als wolle sie damit die ganze Welt herausfordern.
Gräfin Favié ließ den Kopf in ihre Hände sinken und begann still vor sich hinzuweinen.
»Arme Mama«, flüsterte Francine sanft und zog sie an sich. »Arme Mama, ich bringe dich zur Verzweiflung … Du, du wirst niemals verstehen, daß wir nur uns selbst verantwortlich sind, daß wir vor allem uns selbst gehören.«
»Nein, ich verstehe es nicht. Wir haben uns der Gesellschaft zu unterwerfen, deren Mitglieder wir sind. Wir müssen die Gesetze der Moral hochhalten. Und wer sich opfert, hat das tröstliche Bewußtsein der erfüllten Pflicht.«
»Nein, tausendmal nein …!« protestierte Francine lebhaft »Hat die Gesellschaft nicht auch Verpflichtungen gegen mich? Und hat sie sie erfüllt? Nein, sie ist es, die die Vereinbarungen zuerst gebrochen hat. Sie zwingt mich, gegen meinen Willen, mich in Widerspruch zu ihr zu setzen! Ich weiß, was mich meine Freiheit kosten wird … Aber wenn ich schon leiden muß, will ich lieber für eine gerechte Sache leiden als für eine ungerechte. Denn ich wünsche nichts sehnlicher als mein Recht, frei zu leben, meine Tochter frei zu erziehen, frei zu lieben und frei geliebt zu werden …«
»Niemand wird dir beipflichten … Du lästerst die heilige Einrichtung der Ehe! Mit derartigen Ansichten hättest du niemals heiraten dürfen!«
»Was wissen wir als junge Mädchen von der Ehe? Hast du mich aufgeklärt? Hat mein Vater mich über die bestehenden Gesetze unterrichtet? Hat der Notar mir verraten, daß ich meinem Gatten gegenüber durch den Abschluß der Ehe rechtlos werde? Kannte ich, kennen die jungen Mädchen das Leben, die Rechtsordnung, die Folgen? Nein, die Unterschrift wird ihnen abgelistet, und es ist nicht ihre Schuld, wenn sie sich eines Tages gezwungen sehen, den unter diesen Umständen zustande gekommenen Vertrag zu brechen!«
»Ich glaube nicht, daß ihr die Welt ändern werdet«, seufzte Gräfin Favié. »Sei überzeugt, daß ich nur dein Bestes will! Glaube mir, daß ich dich liebe … Ach, welche Qual, mir vorstellen zu müssen, daß ich dich und Josette nicht mehr sehen werde …«
»Komm mit uns!«
»Ich kann nicht! Du ziehst an der Seite des Mannes, den du gewählt hast, in die Welt; er liebt dich, er ist gut und brav! Mich hält die Vergangenheit in ihrem Bann … Ich kann nicht.«
»Unsere Gedanken werden täglich bei dir sein.«
»Und niemals wieder kannst du französischen Boden betreten …«
»Wenn du willst, können wir uns in der Schweiz, in Italien treffen.«
»Le Hagre wird die Ehe aus deinem Verschulden scheiden lassen … Man wird ihm das Kind zusprechen! Gerichtliche Strafen drohen dir …«
»Werde ich deshalb in deinen Augen weniger eine anständige Frau sein?«
Statt jeder Antwort warf sich Gräfin Favié schluchzend in die Arme ihrer Tochter.
Éparvié kam, Josette wurde aufgeweckt und geräuschlos angezogen. Auf seinen Armen trug er sie über die Stiege, in das Auto, das unten wartete.
Am nächsten Tage mußte Francine zu ihrer Bestürzung erfahren, daß sie über ihr Vermögen in keiner Weise verfügen konnte. Ihr Gatte behielt unbeschränkt die Verwaltung und es stand in seinem Belieben, ob er ihr Alimente zahlen würde oder nicht. Sie hatte sich für reich gehalten und war eine Bettlerin.
Tränen traten ihr in die Augen. Es war ihr klar, daß Éparvié, der die Gesetze kannte, über ihre Situation völlig unterrichtet war, und daß er nur aus Zartgefühl es vermieden hatte, sie aufzuklären. Nun war sie in jeder Beziehung, bis auf die prosaischen Fragen des Lebens, auf ihn angewiesen. Durfte sie ihn nicht mit Recht als ihren Gatten betrachten? Oh, auch sie hätte ihm die Hand gereicht, wenn er arm und sie reich gewesen wäre! Trotzdem litt ihr Selbstgefühl unter dieser Veränderung der Situation.
Aber Gräfin Favié fand einen Ausweg. Sie hatte ohnedies die Absicht, sich ganz nach Aygues-Vives zurückzuziehen und setzte ihrer Tochter eine Rente von ein paar tausend Francs aus, die Francine in die Lage versetzte, sich unabhängig zu fühlen.
Ohne in ihre Wohnung zurückzukehren, nahmen sie den Zug nach Brüssel. Sie atmeten auf, als sie die Grenze überschritten, diesen unsichtbaren Strich, jenseits dessen das Vaterland zur Fremde wurde.
Josette und Éparvié erwarteten sie auf dem Perron und jubelnd streckte ihnen das Kind die Arme entgegen.
An einem strahlenden Sonntag im Mai schritt Gräfin Favié, umschmeichelt von Floß, durch den Park von Aygues-Vives. Sie ging langsam, wie jemand, den eine lange Krankheit geschwächt hat. Ihr noch immer schönes Gesicht zeigte einen müden und leidenden Ausdruck und konnte die ersten Schatten des Verblühens nicht mehr verbergen.
Zerstreut glitten ihre Blicke über die Rosenbeete und Wiesen. Ihre Gedanken weilten in der Ferne. Sie dachte an den Abschied in Hamburg, als Francine und Josette, gefolgt von Éparvié, den Dampfer bestiegen hatten. Noch litt ihr Herz unter der Bitterkeit dieser Trennung.
Sie fuhren hinaus in die Freiheit, um die Welt zu sehen, bevor sie sich an irgend einem schönen Platz auf fremder Erde ein neues Heim gründeten. Sie selbst blieb dem Boden treu, auf dem sie geboren war, auf dem sich der Kreislauf ihres Lebens, ihre Ehe und ihre Liebe zu Charlie abgespielt hatten. Hier gedachte sie einst ihr müdes Haupt zur Ruhe zu legen.
Sie hatte sich damit abgefunden, daß ihr Leben und das ihrer Tochter auseinanderstreben mußten. Alle ihre Ansichten, Wünsche und Taten standen zueinander im Gegensatz. Welche von ihnen hatte recht? Sie wußte nur, daß weder sie noch Francine etwas zu bereuen hatte.
Der ewige Gegensatz zwischen Mutter und Tochter konnte auch durch ihre Liebe nicht überbrückt werden. Es war traurig, aber nicht zu ändern.
Gabriele hatte sich nicht darum gekümmert, welche Erregung Francines Flucht hervorgerufen hatte. Je nach Charakter, Anschauung und Laune hatte man sie beklagt, verurteilt oder ihr recht gegeben. Man hörte die Verleumdungen Frau Pustiennes mit dem gleichen liebenswürdigen Lächeln an wie die warmen Worte der Sympathie, mit denen Oberst Morland sie verteidigte. Man fand es durchaus in Ordnung, daß Gräfin Favié sich von der Welt zurückgezogen hatte, und erblickte darin eine Verbeugung vor dem Urteil der öffentlichen Meinung. Von Le Hagre sagte man, daß er nicht schön gehandelt hätte, aber niemand fiel es ein, ihm deswegen die Hand zu verweigern. Éparvié wurde beneidet – ihm war die Heldenrolle in dem Drama zugefallen. Immerhin beklagte man die Tatsache des Skandals im allgemeinen. Aber bald traten andere Ereignisse in den Vordergrund und Francines Geschichte begann in Vergessenheit zu geraten.
Aus der Ferne ertönte die Glocke der kleinen Kirche des Dorfes. Das Hochamt war zu Ende. Gräfin Favié lauschte den ersterbenden Tönen; sie verhallten leise und schienen zu rufen. Schlichte Holzbänke unter der schattigen Wölbung luden dort zur Andacht.
Tiefe Einsamkeit lag über der Stille des Parkes. Gräfin Favié streichelte Floß und setze ihren Weg fort.
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