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XXV.

Länger als eine Woche konnte sich Gräfin Favié von dem Schlage nicht erholen. Sie hielt ihre Türe vor jedermann verschlossen, da sie selbst der Anblick ihrer intimsten Freunde störte. Es wäre ihr kein Trost gewesen, Beileidserklärungen entgegenzunehmen.

Sie stellte sich den Triumph der Feinde vor, die diabolische Freude Fernands, die Genugtuung seiner Mutter. Und alle die hämischen und schadenfrohen Gerüchte, die umgehen würden.

Auch daß Éparvié gerade jetzt wieder eine Rolle im Leben ihrer Tochter zu spielen begann, beunruhigte sie. Bei dem Übelwollen und der Schlechtigkeit der Welt und bei dem unberechenbaren Charakter ihrer Tochter sah sie daraus nur neue Komplikationen entstehen. Francine hatte erklärt, daß sie diesen Mann liebe, und Gabriele wußte, daß ihre Tochter nicht die Frau war, die verzichten würde. Welch eine traurige Aussicht, wenn sie dem Mann ihrer Wahl nicht die Hand zur Ehe würde reichen können …

Ein leichtes Klopfen an der Türe.

»Darf ich eintreten?« fragte eine wohlbekannte Stimme.

Charlie hatte sich nicht an den Abweisungsbefehl gehalten und hatte den alten Jean bewogen, ihn vorzulassen.

»Du hast recht gehabt, Charlie, Francine wird sich bei ihrer Heimkehr sehr freuen, dich zu sehen.«

Obwohl sie nicht zu sagen wagte, wie sehr sie sich selbst freute, konnte Charlie dieses Geständnis aus ihren Zügen lesen. Seit dem Tage des Zeugenverhöres und der Szene im Wagen hatte sie es vermieden, ihn allein zu empfangen. Jetzt stand er, schlank und blaß, mit feurigen Augen vor ihr und sein Lächeln verriet ihr seine unveränderte Zärtlichkeit und Ergebenheit.

Er war glücklich, sie allein zu treffen. Als er von der Abweisung des Scheidungsbegehrens gehört hatte, konnte er dem Verlangen nicht widerstehen, seine Anteilnahme persönlich auszusprechen. Aber sein Mitleid galt hauptsächlich Gabriele, das fühlte sie bei jedem seiner Worte.

»Es ist eine Qual, mit gekreuzten Armen zusehen zu müssen, euch nicht helfen zu können …«

Was hätte er tun sollen? Er war wirklich zur Untätigkeit verurteilt. Jeder Schritt hätte Anstoß erregt, die Frauen kompromittiert … Le Hagre zu provozieren wäre sinnlos gewesen und der Skandal unermeßlich.

»Mein Gott,« murmelte er, »die Welt ist schlecht … Man könnte wirklich verzagen …«

»Sag das nicht, Charlie, dein Leben wird schön sein …«

»Es hätte schön sein können, wenn du gewollt hättest.«

»Alles wird sich zum Guten wenden. Du wirst geliebt werden …«

»Nur die Liebe einer einzigen hätte mich glücklich gemacht!«

Er umfing sie mit einem so heißen und zärtlichen Blicke der Leidenschaft, daß ihr schwer ums Herz wurde.

»Charlie,« seufzte sie melancholisch, »bald bin ich eine alte Frau … Blick mich nicht so an … sonst wirst du ein weißes Haar an mir entdecken oder die erste Falte …«

»Niemals warst du schöner als jetzt. Warum läßt du mich leiden?«

Und mit vor Erregung zitternder Stimme fügte er hinzu:

»Fühlst du denn nicht, daß ich daran zugrunde gehe?«

Sie schloß ihm mit der Hand den Mund und lag plötzlich, ohne zu wissen wie, hingerissen von einer unwiderstehlichen Macht, in seinen Armen.

»Gabriele, meine Geliebte …!«

»Geliebter Charlie …«

So leise sie dieses Wort auch nur hauchte, sein Ohr und sein Herz fingen es doch auf. Er seufzte:

»Du, mein Leben, mein Alles …«

Er zog sie fester an seine Brust und die Welt um ihn versank. Vergebens versuchte sie, sich seinen Lippen zu entziehen, sich seinen Armen zu entwinden.

»Hab Mitleid, Charlie … Mein Gott! man kommt …«

Sie fuhren auseinander. Francine fand sie atemlos und verwirrt. Aber, von ihren eigenen Sorgen in Anspruch genommen, achtete sie nicht darauf. Sie begrüßte Charlie herzlich und fragte ihre Mutter, ob keine Depesche für sie gekommen sei.

Ja, Éparvié hatte telegraphiert, daß er am nächsten Morgen ankäme.

Es war um die Stunde, in der Josette zu ihrem Vater geführt werden mußte. Ihr trauriges Gesichtchen heiterte sich sofort auf, als Éparvié eintrat. Die beiden hatten sich schon sehr angefreundet. Die schönen Geschichten, die er ihr erzählte, versetzten sie in Begeisterung und sie fühlte dunkel, daß dieser Mann sie beschützen könnte …

Francine hielt Éparviés Hand fest in der ihren.

»Lieber Freund,« sagte sie, »was werden wir nun beginnen?«

Jeder kam mit einem andern Rat … Wem sollte sie folgen?

Marchal hatte ihr empfohlen, in die Rue Murillo zurückzukehren. Die Richter, die sie gezwungen hätten, Le Hagres Gattin zu bleiben, müßten durch die Tatsachen von der Unrichtigkeit ihrer Meinung überzeugt werden. In dem erzwungenen Zusammenleben würde es bald zu schweren Unzukömmlichkeiten, Injurien oder Gewalttätigkeiten kommen. Überdies würden sich neue Ehebrüche ihres Gatten leicht beweisen lassen, denn er habe allerlei Liebesabenteuer und man würde ihn eines Tages in flagranti ertappen können.

Als Francine erklärte, daß sie sich auf diese Komödie nicht einlassen wolle, riet er ihr, gegen die Entscheidung des Gerichtes zu rekurrieren. Dieser Meinung war auch du Foudray.

Herbelot, den sie fragte, ob ein Rekurs Aussicht habe, hob die Arme zum Himmel und behauptete, daß man ein Prophet sein müßte, um das mit Sicherheit zu wissen. Francine, die nicht mehr an den Sieg des Rechtes glaubte, hatte keine Lust, den aussichtslosen Kampf, der noch ein Jahr und länger dauern konnte, wieder aufzunehmen.

Herbelot widersprach ihr.

»Sie haben unrecht, gnädige Frau«, erklärte er. »So lange einem noch ein Rechtsweg offensteht, muß man ihn benützen. Übrigens bleibt Ihnen keine Wahl. Wenn Sie die Rekursfrist unbenützt verstreichen lassen, wird Le Hagre das Begehren zur Wiederaufnahme der ehelichen Gemeinschaft stellen. Wenn er dabei auch heute nicht mehr Polizeiassistenz in Anspruch nehmen kann, so wird Sie das Gericht doch durch immer steigende Geldstrafen zur Nachgiebigkeit zwingen … Und vor allem wird ihm das Kind zugesprochen und überantwortet werden …«

»Die Welt ist groß und ich kann Frankreich verlassen!«

»Natürlich können Sie irgendwo am Ende der Welt inkognito leben. Aber, glauben Sie mir, es ist das Vernünftigste, wenn Sie rekurrieren! Herr La Carrière, Senatspräsident am Kassationshof, ist ein Mann voll Galanterie und Wohlwollen, ein echter Pariser! Seien Sie überzeugt, daß ich es gut meine, und daß meine Erfahrungen mir das Recht geben, so zu Ihnen zu sprechen …«

Für den Vorschlag des Ehepaares de Guertes, sich zu fügen und zu Fernand zurückzukehren, hatte Francine nur ein Achselzucken. Oberst Morland riet, eine Kokotte zu engagieren, die Le Hagre zum Ehebruch verleiten und im rechten Moment den vorbereiteten Zeugen ausliefern solle. Broussin empfahl, die Rückkehr in das Heim des Ehegatten zu verweigern, wodurch sie allerdings ihr Recht auf Josette preisgegeben hätte.

All dies erzählte Francine Éparvié und fragte, was sie tun solle.

»Meinen Sie nicht, daß Ihnen Ihr Mann um irgend einen Preis Ihre Freiheit wiedergeben würde? Soll ich ihn aufsuchen?«

»Was würden Sie ihm sagen?«

»Daß ich Sie liebe, daß er kein Recht hat, eine Frau halten zu wollen, die ihn haßt; daß es sinnlos, grotesk ist …«

Francine lächelte über diesen unerwarteten Vorschlag und bewies Éparvié die Zwecklosigkeit eines derartigen Schrittes, der nur den gegenteiligen Effekt hervorrufen würde. Le Hagre würde sich nicht einschüchtern lassen, weil er wußte, daß er das Gesetz für sich hatte, ebensowenig würde ihn Éparvié dazu bringen, sich zu schlagen.

Francine dachte nach. Sie wußte einen Weg, aber sie hatte Angst, Éparvié diesen verzweifelten Schritt vorzuschlagen. Vielleicht hatte er selbst nicht alle bürgerlichen Vorurteile überwunden und würde sie falsch verstehen … Was lag daran, sie mußte sprechen!

»Lieben Sie mich wahrhaftig?« sagte sie schlicht, aber in einem ernsten Tone, in dem verhaltene Angst zitterte.

»Warum fragen Sie mich das?«

»Wenn ich allein auf der Welt stünde,« setzte sie mit herzbewegendem Freimut fort, der sie noch schöner erscheinen ließ, »würde ich Ihnen sagen: führen Sie mich von hier weg, führen Sie mich, wohin Sie wollen. Ich gehöre diesem Menschen nicht mehr an; wenn Sie wollen, bin ich die Ihre …«

»Francine …!«

Er hatte sich über ihre Hand gebeugt und küßte sie inbrünstig. Seine Stimme zitterte vor Stolz und Erregung, als er ihr antwortete:

»Francine, ich habe diese Auszeichnung, diese Ehre nicht verdient, aber ich werde mich ihrer wert erweisen! Ja, es wäre schön, es wäre würdig, so zu handeln! Aber in Ihrem und im Interesse Ihres Töchterchens dürfen wir nichts Unüberlegtes unternehmen. Zuerst müssen alle anderen Mittel erschöpft sein, damit Sie sich sagen können, daß Sie keinen Weg, Ihr Recht zu erlangen, übersehen haben.«

»Man hat mir mein Recht verweigert und ich habe es satt, von fremden Leuten abzuhängen. Weder Richter, noch mein früherer Gatte, noch sonst irgend wer darf über mein Leben, über meine Person verfügen.«

»Ich stehe ganz zu Ihrer Verfügung, Francine, und bin glücklich, daß Sie mir Ihr Schicksal anvertrauen wollen. Nur möchte ich nicht, daß Sie mir eines Tages vorwerfen könnten, ich sei unvorsichtig und voreilig gewesen. So ungerecht und unvollkommen die soziale Ordnung uns erscheinen mag, wollen wir uns doch nicht eher mit ihr in Gegensatz stellen, als wir jedes Mittel versucht haben.«

Sie blickte ihm ins Auge.

»Es geschehe nach Ihrem Willen!«

Und er fuhr fort:

»Wir wollen bis zum Schlusse unsre Pflicht tun!«

»Ach, die Pflicht! Dieses Wort, das man immer anderen vorhält und fast nie selbst zur Richtschnur nimmt! Haben die Richter ihre Pflicht erfüllt? Wissen wir überhaupt, was unsere Pflicht ist? Entscheiden wir uns durch diesen Entschluß wirklich für das Richtige?«

Ja,« sagte Éparvié einfach, »ja, dieser Weg ist der rechte, weil er mir am schwersten fällt.«

Noch am gleichen Abend reiste Éparvié nach Italien. Er wußte, daß er von Spionen umgeben war, die jeden seiner Schritte beobachteten, und wollte um jeden Preis verhindern, daß seine Anwesenheit Francines Ruf unnötig gefährde.


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