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III.

Verständnislos fragte Charlie:

»Um Gotteswillen, Gabriele, du weinst? Was ist geschehen? Antworte!«

Sie versuchte unter Tränen zu lächeln und schüttelte den Kopf. Nein, nichts, nichts … Aber er drang in sie. Hatte er sie erschreckt? Aber diese Bestürzung? Warum?

»Nichts, ich versichere dir … Eine Migräne … ein dummes, nervöses Angstgefühl …«

Er wollte den wahren Grund wissen: »Kummer? Sorgen? Hast du denn kein Vertrauen zu mir?«

»Ich glaube, ich war nahe daran, verrückt zu werden …«

Sie schritt an seiner Seite und hängte sich schwer in seinen Arm. Nein, sie hatte keine Geheimnisse. Und plötzlich kam die Frage, die nicht auszusprechen sie sich gelobt hatte, über ihre Lippen:

»Ist es wahr, was man erzählt? Du heiratest? Kann man gratulieren …?«

Schon bereute sie ihre Worte, die sie bloßstellten, die ihre Eifersucht verrieten. Ja, sie war eifersüchtig! Jetzt wußte sie es, jetzt fühlte sie es selbst, daß die Vorstellung, Charlie könnte heiraten, sie seit gestern quälte … Nur diese Sorge allein hatte all die dunklen Gedanken in ihr wachgerufen, hatte die Nervenkrise ausgelöst. Schluchzend lag sie in seinen Armen.

Verblüfft starrte er sie mit großen Augen an:

»Heiraten? Wen?«

»Martha Fauche …«

Gabriele senkte den Blick in seine Augen, die klar und offen auf ihr ruhten.

»Ich … Aber, beste Freundin, davon weiß ich nichts! Die schöne Martha ist mir mehr als gleichgültig … Sie ist dumm! Wer erzählt solchen Tratsch? Natürlich! Die Lurats weilen ja als Gäste hier … Nicht wahr?«

Sie suchte auszuweichen. Nein, nein. Das Ganze hatte keine Bedeutung … Aber er fuhr fort:

»Ach, diese dummen, aufreizend langweiligen Leute … Aber das haben nicht sie aufgebracht … das sieht Frau Pustienne ähnlich! Gewiß, sie war es … Die Kanaille!«

Er haßte diese Dame ehrlich. Ihren Charakter, ihr aufgedunsenes Gesicht, ihre Art, böswillig Klatsch in Verkehr zu setzen. Nur ihr Reichtum öffnete ihr alle Türen. Man duldete und fürchtete sie. Ihre böse Zunge war der Schreck aller Salons.

Gabriele Favié hatte nur einen Gedanken: Es ist nicht wahr; er liebt sie nicht! Ihr Herz klopfte freudig. Charlie grübelte über den Eifer ihrer Fragestellung, die Lebhaftigkeit ihrer Besorgnis. Gerührt erkannte er, wie teuer er ihr war. Aber es tat ihm weh, daß sie ihn für so unaufrichtig halten konnte. Sie wußte doch, daß er einen langen Brautstand für die unerläßliche Voraussetzung einer glücklichen Ehe hielt, und er sollte sich der ersten besten an den Hals werfen …?

»Du mußtest doch überzeugt sein, Gabriele, daß ich vor allem dich um Rat gefragt hätte«, sagte er.

»Mein Gott, es wäre doch denkbar gewesen … Warum nicht? Man soll jung heiraten …«

Er lächelte und umfing sie mit einem innigen, warmen Blick:

»Das ist leicht gesagt. Ich habe noch keine gefunden … Suche du mir eine Frau aus, die dir ähnlich ist, dann können wir über dieses Thema weiterreden.«

Sie errötete und versuchte nun auch zu lächeln:

»Oh, es wird dir nicht schwer fallen, eine zu finden …«

Dann schwiegen beide nachdenklich und fühlten verwirrt, daß irgend etwas sie in diesen Minuten einander näher gebracht hatte.

Bei Tisch erschien Gabriele in einem lavendelfarbenen Kleid, das ihre schlanke Figur noch vorteilhafter zur Geltung brachte. Sie hatte sich die Spuren der Tränen von den Augen gewaschen und die Wangen leicht überpudert, aber ihre Züge behielten den leidenden Ausdruck und die Lider waren blau umschattet.

Was Charlie an ihr entzückte, war, daß ihre Schönheit nichts von der einer toten Statue hatte sondern daß sie, lebhaft und den Ausdruck wechselnd, jede Bewegung ihres Seelenlebens widerspiegelte. Für ihn war sie immer noch zwanzig Jahre alt und behielt den Zauber des Bildes, das er in der Erinnerung trug, obwohl es schon sieben oder acht Jahre her war, seit er sich verboten hatte, von diesem Bilde zu träumen. Aber nach dem Rausch seiner Fahrt in den Morgen, nach der heutigen sonderbaren Begegnung im Parke zog ihn der Zauber jener Zeit wieder mehr denn je in seinen Bann. Und er mußte an einen fatalen Morgen denken, an dem er, als Student in den Ferien, hinter einer zufällig nicht verschlossenen Türe Gabriele fast nackt überrascht hatte, wie sie ins Bad stieg … Ach, wie lange hatte sie ihm diese unverschuldete Überraschung nachgetragen …

Er sprach mechanisch, ohne seine Stimme zu hören. Alle seine Aufmerksamkeit war auf sie konzentriert. Und sie lauschte begierig seinen Worten, obwohl ihr Gesicht gleichgültig und beherrscht blieb. Sein Anblick schon ließ ihr alles Blut zu Herzen strömen. Wie freute sie sich, daß er gekommen war … Die Gäste waren ihr lästig, denn sie störten ihr Zusammensein … Trotzdem war ihre Anwesenheit vielleicht ein Schutz … Ein Schutz? Wogegen? … Charlies Stimme tat ihr wohl. Seine Jugend, seine Kraft zog sie an. Wie hübsch er wird, konstatierte sie. Die Frauen werden sich um ihn reißen. Ich werde ihn verlieren, ich, die ihm nichts ist, die ihm nichts sein kann …

Das Ehepaar Lurat lobte begeistert Braten und Saucen und freute sich, daß ein neuer Gast einige Abwechslung in die Tischgesellschaft brachte. Unter weißen Haaren leuchteten ihre Gesichter gesund und wohlwollend, und nur ein scharfer Beobachter konnte in den Falten um ihren Augen und Lippen jene hämische Freude an Bosheiten bemerken, die sich unter süßlichem Lächeln zu verbergen weiß. Sie verkehrten überall und ihre notorische Ehrenhaftigkeit verschleierte da und dort gesellschaftliche Intrigen und deckte delikate Situationen.

Herr Lurat war der anerkannte Schiedsrichter in allen Fragen der Korrektheit und des Taktes. Momentan war er nicht sehr zufrieden, weil er in Aygues-Vives wider Erwarten nicht die Geselligkeit und Zerstreuung fand, die er sich gewünscht hatte. Die gute Küche allein genügte ihm nicht. Man hätte die Annahme der Einladung nicht so übereilen sollen … Es gab ja noch andere Herrensitze, wo man es sich zur Ehre anrechnete, ihn zu Gaste zu haben, und wo man sich nicht langweilte …

Gegen zwei Uhr wurde ein Ausflug unternommen. Herr Lurat saß neben Gabriele in ihrem Kutschierwagen, und Charlie mußte sich wohl oder übel entschließen, Frau Lurat in seiner Voiturette mitzunehmen.

Sie musterte Charlie de Bréars voll Neid und Übelwollen. Gönnte ihm weder seinen Reichtum, noch seine Jugendkraft und seine Zukunftsaussichten. Denn ihr eigener Sohn, »der ihm doch in jeder Beziehung ebenbürtig war«, diente irgendwo in Tunis unten in einer untergeordneten Stellung … Es gab keine Gerechtigkeit in der Welt …

Mit dem Interesse, das viele alternde Frauen sich für alle galanten Fragen bewahren, lenkte sie das Gespräch bald auf Charlies Gefühlsleben. Nicht ohne Absicht hatte sie das Gerücht von seiner angeblich beabsichtigten Vermählung gestern zur Sprache gebracht und die Wirkung auf Gabriele beobachtet.

War nicht Gabriele in dieser Saison überhaupt schweigsam und gedrückt? Jedem mußte es auffallen. Wahrscheinlich hatte sie Sorgen wegen ihrer Tochter, deren Ehe – wie man allgemein sagte nicht recht klappte. Bei dem Charakter Francines sei dies schließlich auch kein Wunder …

»Glauben Sie?« sagte Charlie und furchte die Brauen. »Ich weiß wirklich nicht …«

Seine Sympathien für Francine Le Hagre, mit der er aufgewachsen, waren nicht sehr lebhaft. Die Selbständigkeit ihrer Idee, ihr ganzes Benehmen kam ihm unweiblich vor. Er hatte für diesen modernen, burschikosen Typ von Frauen kein Verständnis.

»Die arme Gabriele,« fuhr Frau Lurat mit scheinheiliger Teilnahme fort, »hat sich umsonst geopfert. Sie hätte sich wieder verheiraten sollen. Ihr ganzes Leben war Verzicht und sie hätte doch auch Anspruch auf ein bißchen Glück. Sie ist doch noch jung und schön … Welche Qual muß es für sie gewesen sein, allein und vernachlässigt neben ihrem Gatten dahinzuleben …«

Charlie erschrak. Gabriele sich verheiraten? Gewiß, es wäre ihr gutes Recht gewesen. Er stellte sich die Gesichter jener gemeinsamen Bekannten vor, die in Betracht kamen, und empfand augenblicklich gegen sie dieselbe intensive körperliche Abneigung, mit der ihn Gabrieles Gatte, Graf Favié, stets erfüllt hatte. Wut und nachträgliche Eifersucht erfaßte ihn, wenn er bedachte, wie dieser Schuft ihr Leben zerstört hatte …

Auch Charlie hatte als Jüngling Gabriele leidenschaftlich begehrt, aber immer schien sie ihm unerreichbar, geschützt durch die Ehre, die Grundsätze der Moral und der Religion. Er hätte es keinesfalls gebilligt, wenn sie ihren Treueid gebrochen hätte, ja er mußte sich gestehen, daß er sich unzweifelhaft von ihr abgewendet hätte, wenn sie in liebevoller Hingabe die seine geworden wäre …

Am Waldesrande begann Frau Lurat von neuem.

»Was ist irdisches Glück?« seufzte sie. »Vielleicht gehört unsere Gabriele in ihrer Art noch zu den Glücklichen … Niemals war ihr Name in einen Skandal verwickelt … Selbst die Mißgünstigsten haben es nicht gewagt, ihr das geringste nachzusagen. Alle ihre Verehrer brachte ihre unerschütterliche Tugend zur Verzweiflung …« Und mit einem gütigen, mütterlichen Lächeln fügte sie lauernd hinzu: »Dem armen Ligneul ist es auch nicht besser ergangen …«

Charlie horchte auf. Er war Marcel Ligneul selten begegnet, aber er erinnerte sich seines häßlichen, sympathischen Gesichtes, das ausgesehen hatte wie eine leidverzerrte Satyrmaske mit glühenden Augen. Verschiedene kleine Vorfälle und Einzelheiten, die er damals nicht beachtet hatte, wurden ihm plötzlich bewußt und verständlich. Es war keine Frage, daß der Bildhauer Gabriele unglücklich geliebt hatte … Jeder, der sie kannte, mußte sie lieben … Aber sie, Gabriele! Daß sie seine Leidenschaft hätte erwidern können – diese Idee wäre ihm niemals gekommen.

Wie konnten die beiläufigen Anspielungen Frau Lurats ihn nur so in Unruhe versetzen? Enthielten sie eine versteckte Verdächtigung? Jedenfalls war es auffallend und merkwürdig, daß Gabriele, die die Gefühle des Künstlers doch wohl gekannt haben mußte, nie ein Wort darüber fallen gelassen hatte. Welchen Grund konnte dieses Verschweigen gehabt haben? Mißtrauen? Scham? War ihr dieser Mann vielleicht wirklich nicht gleichgültig gewesen …? Charlie fand keine Antwort auf diese Fragen, obwohl er bisher geglaubt hatte, Gabriele vollkommen zu kennen.

Frau Lurat unterbrach seine Gedankengänge.

»Frau Pustienne,« flötete sie und schlug die Augen zum Himmel auf, »Frau Pustienne behauptet, daß Ligneul daran zugrunde gegangen ist. Die Unnahbarkeit unserer Freundin habe ihm das Herz gebrochen …«

Charlie senkte den Kopf. Diese Worte, die ihm zur Beruhigung dienen konnten, erhöhten seine Unruhe. Alle möglichen Details aus dieser Zeit, vor fünf Jahren, fielen ihm ein. Gabriele hatte damals zweifellos eine schwere Gemütskrise durchgemacht, hatte gelitten, war krank gewesen. Auf Anraten der Ärzte hatte sie die Riviera aufsuchen müssen … Gerade um diese Zeit erfuhr Charlie zufällig, daß Ligneul gestorben war. Standen diese Ereignisse im Zusammenhang? War es der Tod des Bildhauers, der sie so erschütterte? Hatte sie ihn also geliebt …?

Diese Annahme versetzte ihn in Bestürzung. Es gab Geheimnisse im Leben seiner Freundin, ein Leid, das sie selbst vor ihm verbarg … Niemand konnte es ihr verwehren, daß sie in aller Reinheit, aus Mitleid, aus Güte einem anderen Manne eine stille Neigung geschenkt hatte. Niemand durfte es ihr verübeln, daß sie darüber schwieg … Aber die Vorstellung, daß es so war, tat ihm so weh, daß er die beschämende Lust, Frau Lurat auszufragen, energisch unterdrückte.

Übrigens waren sie eben an dem Häuschen des Waldhüters vorgefahren, wo eine gemeinsame Jause eingenommen werden sollte.


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