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Ungeduldig saß Frau Le Hagre im Expreßzug. Sie zog die Uhr. Noch eine halbe Stunde.
Josette folgte mit den Augen den vorbeiflitzenden Telegraphendrähten, den Bäumen und Häusern, die draußen herumsprangen, und hatte in der Unbekümmertheit ihrer sechs Jahre schon die erschreckenden und unverständlichen Szenen vergessen, deren Zeugin sie gestern gewesen war.
Frau Le Hagre betrachtete das süße unschuldige Gesichtchen ihres Kindes mit mitleidigen Blicken. Die arme Kleine: Welch ein Glück, daß ihr noch das Verständnis fehlte ..! Im Waggon war es zum Ersticken. Sie ärgerte sich über einen großen blonden Menschen, der sich im Korridor aufgepflanzt hatte und sie unverschämt fixierte. Offenbar fesselte die elegante Dame, deren Gesicht mit den großen Augen man Nervosität und Erregung ansah, sein Interesse. Francine empfand den lebhaften Wunsch, den Zudringlichen zu ohrfeigen, und die Empörung gegen ihren Gatten, dessen skandalöses Verhalten sie in diese Lage gebracht hatte, verdoppelte sich.
Sie vergegenwärtigte sich die Vorgänge der verhängnisvollen Nacht. Ihr Gatte und sie hatten längst getrennte Schlafzimmer. Josette schlief neben dem Zimmer Lieschens, der deutschen Gouvernante. Da Josette tags vorher nicht ganz wohl gewesen war, wollte Francine im Laufe der Nacht nach ihr sehen. Im Zimmer Lieschens brannte Licht, hinter der offenen Tür hörte man zärtliches Geflüster. Hastig trat sie ein und fand ihren Gatten im Schlafrock in Lieschens runden Armen! Nicht einmal hübsch war diese Person, die errötend ihre Blößen zu verdecken suchte … Herr Le Hagre springt wütend empor, schreit, leugnet. Die kleine Gouvernante gesteht unter Schluchzen.
Dann war, durch den Lärm angelockt, das Stubenmädchen erschienen, Herr Le Hagre hatte getobt und eine ungeschickte Ausrede erfunden und Francine hatte, kurz entschlossen, das weinend erwachte Kind in eine Decke gewickelt und hinausgetragen.
Am anderen Morgen war Herr Le Hagre schon um sieben Uhr früh verschwunden. Lieschen mußte ihre Sachen packen und auf der Stelle gehen. Zufällig stand der Schreibtisch ihres Mannes offen und Francine fand ein ganzes Paket von deutschen Briefen der Gouvernante, die sie mühsam entzifferte und die ihre letzten Zweifel gründlich beseitigten. Mit diesen Beweisen in der Hand trat sie mittags ihrem Gatten entgegen. Er drohte, verlangte die Briefe, die sie an ihrer Brust verbarg. Nach einer heftigen und brutalen Szene hatte sie ihren Schmuck, ihr Geld, ihr Scheckheft in eine Reisetasche geworfen und hatte, vorbei an Le Hagre, der ihr den Weg mit Gewalt versperren wollte, mit ihrem Kind an der Hand das Haus verlassen.
Ein Telegramm an den Rechtsanwalt Marchal, ein Telegramm an Frau von Favié. Und fort, auf die Bahn …
Sehnsucht nach der Stille von Aygues-Vives hatte sie gepackt, nach den Armen ihrer Mutter, mit der sie sich wohl nicht immer verstanden hatte … Dort war jetzt ihre Zuflucht.
Betrogen hatte sie ihr Gatte schon oft, das wußte sie. Sie wußte auch, wie wenig wählerisch er in der Wahl seiner Partnerinnen zu sein pflegte. Dieser letzte Fall war nur der äußere Anlaß, der Francines Entschluß zum Reifen gebracht hatte. Der wahre, unüberwindliche Grund lag tiefer: Es war die absolute Unverträglichkeit ihrer Wesen, ihrer Temperamente und Ansichten. Jene ständige feindliche Gereiztheit gegeneinander, die jede Aussprache im Keime erstickte und das Eheleben zum chronischen Mißverständnis, zu einem Martyrium machte. Jene Disharmonie, die beiden jeden Zug im Gesicht des anderen, den Geruch seiner Haut, die Berührung seiner Hand unerträglich erscheinen ließ; ein Haß, an dem keinen die Schuld traf, der stärker war als Vernunft und Überlegung, der selbst den Tod – weil er von der Gegenwart des Ehepartners befreite – als Erlöser willkommen geheißen hätte.
In dieser Stimmung fuhr Francine nach Aygues-Vives.
Inzwischen hatte Gräfin Favié anspannen lassen, um ihre Tochter von der Bahn abzuholen. Die Gegend kam ihr verändert, grau und übernächtig vor. Sie selbst kannte sich nicht wieder. Die ganze Nacht hatte sie kein Auge geschlossen. Mit blassem leidenden Gesicht lehnte sie im Wagen. Beim Frühstück hatte sie es nicht gewagt, Charlie anzusehen … Sie schämte sich, fühlte sich entehrt, entwürdigt. Bedauerte, daß diese Liebe aus dem stillen Unterbewußtsein in die grelle Wirklichkeit des Lebens gerückt war. Die neugierige Anteilnahme des Ehepaares Lurat an Francines Schicksal war ihr lästig. Das wackere Paar delektierte sich an der Aussicht auf diesen Familienskandal, der Abwechslung und Zerstreuung in das eintönige Landleben zu bringen versprach. Und sie hatten Erfahrung in derlei, konnten Ratschläge erteilen, trösten und – mit Takt natürlich – vermittelnd eingreifen. Es war schön, mitten im Brennpunkt der Ereignisse zu sitzen und die Kunde davon brühwarm in der Gesellschaft verbreiten zu können.
Gabriele Favié stellte sich im vorhinein auf die Seite ihrer Tochter und war bereit, von Le Hagre, dessen gelbes Uhugesicht sie immer verabscheut hatte, alles Schlechte zu glauben. Alle Meinungsverschiedenheiten zwischen ihr und Francine waren vergessen und ihre Mutterliebe flammte in stürmischem Eifer auf. Trotzdem gaben ihr die entschlossenen Worte der Depesche zu denken. Wenn man ein Kind hatte, durfte man sich nicht scheiden lassen … Fernand Le Hagre blieb immer der Vater Josettes … Sie würde Francine schon den Weg der Pflicht weisen, den sie selbst gegangen war. Auch sie hatte ja geduldet, geweint und ausgeharrt bis zum Schlusse … Und sie vergaß, daß sie sich erst gestern gesagt hatte, der Preis des Opfers sei ihr Leben gewesen …
Der Zug fuhr ein. Gabriele sah das blasse Gesicht Francines einen Moment am Fenster … Dann ging die Coupétüre auf und Josette sprang ihr jubelnd in die Arme. Tränen in der Kehle umarmte sie Francine, fand sie abgemagert und erschrak über den harten, kampfbereiten Ausdruck ihrer Züge.
Im Wagen saßen sie still nebeneinander. Die gefaßte Kälte Francines hatte Gabriele abgekühlt und eingeschüchtert. Auch konnte sie sich nicht entschließen, vor dem unbefangen plaudernden Kinde zu sprechen, zu fragen – aus Furcht, Josette könnte etwas zu hören bekommen, was ihre Gefühle für den Vater verwirren würde … Hatte sie doch auch Francine niemals ein Wort gesagt, das ihre Liebe und Achtung vor dem Grafen Favié hätte beeinträchtigen können.
Francine verstand, daß der stumme Blick ihrer Mutter bat, sich vor Josette zu beherrschen. Aber sie teilte ihre Ansicht nicht. Einmal mußte es Josette doch erfahren; je eher desto besser … Was sollte dies Versteckenspielen, diese romantischen Lügen, die gefühlvollen Verschleierungen? Sie hatte das Bedürfnis, die Wahrheit ungeschminkt auszusprechen, sich in einem Aufschrei Luft zu machen … Mama begriff das nicht. Mama hatte eine Scheu vor dem deutlichen Wort, vor jeder klaren Situation … Wieder einmal fühlte sie sich nicht verstanden … Und die lange zurückgehaltenen Tränen rollten ihr groß und langsam über die Wangen.
Gräfin Favié sah erschrocken auf. Diese lautlosen Tränen brannten sich ihr wie flüssiges Blei ins Herz.
»Arme kleine Francine!« flüsterte sie. »Armer kleiner Liebling..!«
Josette klatschte vergnügt in die Hände und rief:
»Der Park! Die Bäume, die Springbrunnen..!«
Und Gabriele gedachte des Unglückstages, an dem sie sich vor ihrem unwürdigen Gatten nach Aygues-Vives geflüchtet hatte … Gedachte der rauschenden Stimmen des Parkes, die sie schmeichelnd, spöttisch und schließlich einschläfernd umfangen hatten.
Heute war ihre Tochter an der Reihe.
Grausam wiederholte das Leben seine Bahn …