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X.

Charlie de Bréars an die Gräfin Favié.

Verdun, 15. Oktober.

Liebste Gabriele!

Seit drei Tagen sind wir in unserer neuen Garnison. Mannschaften und Pferde sind untergebracht, allmählich kommt alles in Ordnung. Ich wohne sehr einfach, aber für einen Soldaten ist schließlich alles überflüssig, was er nicht unbedingt braucht. Warum sich an die Dinge der Außenwelt hängen? Damit schafft man sich nur Leid. Es ist schon traurig genug, daß wir in unserem Berufe immer bereit sein müssen, liebgewonnene Menschen zu verlassen, teuer gewordene Gewohnheiten aufzugeben.

Ich habe nicht gewußt, daß mir der Abschied von Dir so schwer fallen wird, der Abschied, gerade in der Stunde, wo es mein Wunsch war, Deine Sorgen zu teilen. Mein letzter Besuch war kurz und ich sah Dir an, daß Deine Seele mit andern Dingen beschäftigt war. Du warst nervös und sahst mich fremd, beinahe feindselig an. Zum Unglück kam noch Besuch und ich mußte mich verzagt und ohne zu Worte zu kommen von Dir trennen.

Du kannst Dir denken, daß meine Reise nicht heiter verlief. Aber ich hatte wenigstens Gelegenheit, mich zu sammeln, nachzudenken. Jetzt sehe ich klar. Das Aufwallen der Leidenschaft berauscht und macht blind für das Naheliegendste. Heute weiß ich, daß unser Weg einfach und gerade ist, wenn Du mir folgen willst. Ich bitte Dich, ich flehe Dich an, höre, was ich Dir zu sagen habe. Nach reiflichster Überlegung wage ich es, Dir das zu schreiben, was ich in Deiner Gegenwart nicht aussprechen konnte. Ich glaube nach allem, das Recht zu diesem Schritte zu haben! Ein Ereignis, das ich segnen müßte, weil es im rechten Moment eingetreten ist, hat uns wider Erwarten einander in die Arme getrieben. Unsere Herzen schlugen so heiß aneinander, daß ich an meinem Glücke nicht zweifeln kann. Seither hängen alle meine Gedanken an Dir, Du schwebst vor meinen Augen und meine Liebe zu Dir erfüllt meine Tage und meine Nächte. Du bist das Licht meines Lebens. Glaube nicht, daß nur meine Leidenschaft mir Dein Bild vergöttert. So wie ich Dich sehe, habe ich Dich immer gesehen, werde ich Dich immer sehen. Mein Gefühl ist dauerhafter als das Leben, stärker als der Tod.

Gabriele, wenn Du mich liebst, wie ich Dich liebe, mache mich glücklich und schenke mir Deine Hand, werde mein Weib! Die Vicomtesse de Bréars wird in ihrem Gatten den ergebensten und zärtlichsten Freund besitzen.

Sage nicht, daß der Moment für diese Bitte schlecht gewählt ist, ich will Dich nicht drängen, so lange Dein Herz von der Sorge um Francine erfüllt ist. Aber auch diese Prüfung wird vorbeigehen und Du wirst wieder frei über Dich verfügen können. Ich verlange keine entscheidende Antwort, wenn Du sie mir heute nicht geben kannst, nein, nur den blassen Schimmer einer Hoffnung.

Bestehst Du auf einer Prüfungszeit, so nehme ich im vorhinein jede Bedingung an. Alle meine Bemühungen sollen von nun an Deinem Glücke dienen. Mein Vermögen wird genügen, uns ein einfaches Leben zu sichern, und wird Dir die freie Verfügung über das Deine lassen. Ich liebe und schätze meinen Beruf, aber wenn Du Dich an dem niederen Grade meiner Offizierscharge stoßen solltest, so bin ich bereit, meinen Abschied zu nehmen, und es wird mich glücklich machen, Dir meine Liebe auch durch dieses Opfer zu beweisen. Und jetzt, meine teuerste Freundin, schließe ich und warte auf Deine Antwort, die mir das höchste Glück bringen soll, auf das je ein Mensch hoffen durfte. Charlie.

Gräfin Favié hatte, allein in ihrem kleinen Salon, diesen Brief zu Ende gelesen. Der Lärm von Paris drang gedämpft in den Raum.

Gabriele saß still da und fühlte, wie sich heiße Tränen durch ihre halbgeschlossenen Lider drängten. Ihre Wangen glühten in der grenzenlosen Verzweiflung einer unglücklichen Leidenschaft. Charlies unvernünftige Hast, seine jugendliche Entschlossenheit, gerade auf das Ziel vorzugehen, hatte sie aus dem süßen Traum erweckt, von dem sie wußte, daß er nur Traum bleiben durfte. Wenn seine unerwartete Erklärung sie auch im ersten Augenblicke mit berauschender Genugtuung erfüllte und ihr ein himmelhohes Glück vorgaukelte, war der Sturz von der Höhe der unrealisierbaren Seligkeit in den Abgrund der Wirklichkeit nur um so schmerzhafter. Charlie zu heiraten, zusammen ein neues, der Liebe geweihtes Dasein zu beginnen … es wäre zu schön gewesen!

Über ihre zarten Wangen, die noch den reinen Glanz der Jugend zeigten, strömten unaufhaltsam bittere Tränen. Ach, sie wäre froh gewesen, wenn sich Jugend und Schönheit schon bis auf die letzte Spur verflüchtigt gehabt hätten, dann wäre ihr die Entscheidung leichter gefallen.

Sie wußte, was ihr bevorstünde: vor den Augen eines geliebten Mannes zu altern; zu sehen, wie er von Tag zu Tag das allmähliche Entstehen feiner Falten beobachten würde; ihm das traurige Schauspiel des Verblühens vorzuführen und, Eifersucht im Herzen, beobachten zu müssen, wie er nachdenklich, zerstreut und kühl würde, bis schließlich eine andere Frau käme, deren Jugend ihr sein Herz rauben müßte … Nein, dieses Martyrium ging über ihre Kraft.

Andere Stimmen in ihrem Innern wurden laut und die Versuchung flüsterte: Denk nicht an die Zukunft! Nimm dein Leben, erraffe das Stückchen Glück, das sich dir bietet. Laß dein Schicksal sich erfüllen, auch wenn es dir Leiden bringt, aber verzichte nicht im vorhinein! Schon einmal hast du dir mutlos ein Liebesglück entgleiten lassen … Sei klug und versäume diese letzte Gelegenheit nicht …

Aber nein, der Altersunterschied war zu groß. Einem kurzen Rausche müßte Leid, Enttäuschung und Erniedrigung folgen. Charlies Leutnantsepauletten waren ihr nicht zu gering, aber sie unterstrichen nur noch mehr seine Jugend. Was würde die Welt sagen? Sie war Mutter, Großmutter! Dieses Wort allein machte sie alt und raubte ihr das Recht auf Liebesglück. Was half es, daß sie jung aussah, daß man sie für die Schwester ihrer Tochter halten konnte, was half es, daß sie ihr Leben nicht genossen hatte! Es war zu spät. Sie konnte es nicht wagen, vor Francine und Josette nicht wagen, ihren Anspruch, geliebt zu werden, auch nur auszusprechen. Zu spät, zu spät …!

Sie beweinte ihren schönen Traum, sie weinte über den Schmerz, den sie Charlie antun mußte. Wie mußte der arme Junge sie lieben, daß er ihr im Ernst diesen tollen Vorschlag machen konnte …

Gewiß, die Welt war ungerecht und grausam! Niemand würde sich gewundert haben, wenn sie den alten Marchal geheiratet hätte. Man wäre stillschweigend darüber hinweggegangen, wenn sie Charlie heimlich zum Liebhaber gewählt hätte … Aber eine Ehe mit Charlie wäre ihr als schweres Unrecht angerechnet worden, durch das sie jüngeren Rivalinnen die Chancen nahm.

Ach, warum hatte er nicht geschwiegen! Warum hatte er den Zauber gebrochen und sie gezwungen, ihre reinen Träume in Zukunft als Schuld zu empfinden. Von nun an mußten sie ihre Liebe wie eine Sünde bekämpfen. Niemals mehr durfte davon die Rede sein …

Sie stieß einen Schrei aus und verbarg den Brief an ihrer Brust. Francine war geräuschlos eingetreten und bemerkte mit erschreckter Verwunderung die unverständliche Verwirrung ihrer Mutter.

»Mama! Du weinst? Was ist geschehen?«

Gräfin Favié verging vor Scham. Der Brief brannte zwischen ihren Fingern. Sie war nicht imstande, eine Erklärung, eine Lüge vorzubringen, und in dem leidenschaftlichem Bedürfnisse, sich zu demütigen, reichte sie ihrer Tochter das verhängnisvolle Schreiben.

»Nimm und lies«, stammelte sie. »Von Charlie … Du wirst meine Antwort erraten …«

Francine machte eine Bewegung auf sie zu. Schon einmal hatte sie im Zusammenhang mit Charlie ihre Mutter in Verlegenheit gesehen. Die Idee, daß er sie vielleicht liebte, schien ihr nicht absurd. Aber ihrer Mutter, wenn sie auch eine noch junge und noch schöne Mutter war, konnten ihre töchterlichen Gefühle nicht die Instinkte, Schwächen und Empfindungen anderer Frauen zubilligen …

Ihre ausgestreckte Hand sank herunter. Sie empfand eine unüberwindliche Scheu, das Geheimnis dieses Lebens zu entschleiern.

»Nein, nein, Mama«, sagte sie fast beschämt. »Verzeihe, daß ich dich gestört habe. Ich gehe wieder …«

Gabriele, die jedes Mißverständnis, jede falsche Beurteilung vermeiden wollte, wiederholte, ohne das Zartgefühl ihrer Tochter voll zu würdigen:

»Ich wünsche dir nichts zu verheimlichen! Lies mein Kind, ich bitte dich darum … Ich will es!«

Francine las. Gräfin Faviés Augen hafteten bange an den Zügen ihrer Tochter. Ein langes Schweigen …

Zärtlich beugte sich Francine zu ihrer Mutter, zog ihr liebevoll die kalten Hände von dem tränenüberströmten Gesicht und flüsterte:

»Liebst du ihn denn?«

Ohne auf eine Antwort zu hören, küßte sie die geliebten Hände voll Achtung vor dieser Leidenschaft, die so verschieden von allem war, was sie selbst bisher empfunden hatte. Das tiefe Mitleid der verstehenden Frau kämpfte in ihr gegen eine instinktive Eifersucht, die sie selbst als ungerecht verurteilte. Charlie war doch fast ihr Bruder! Charlie war kaum so alt wie sie selbst … Es war klar, daß das Empfinden ihrer Mutter vor dieser unmöglichen Heirat zurückschreckte. Teilnahmsvoll flüsterte sie:

»Arme kleine Mama … Arme kleine Mama!«


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